Gottfried Keller

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Die Leute von Seldwyla (Vorreden)

Inhalt

Vorrede zu Teil I (1856)
Vorrede zu Teil II (1874)

Der Text folgt der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA), Bd. 4 und 5 und ist zeilen- und seitengleich mit Gottfried Kellers Gesammelten Werken von 1889. Die Kringel verweisen auf kritische Lesarten früherer Auflagen.

 

Vorrede zu Teil I (1856)

 

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                        Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonni-
            gen und sonnigen Ort, und so ist auch in der That die kleine
            Stadt dieses Namens gelegen irgendwo in der Schweiz.   Sie
            steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Türmen, wie
05          vor dreihundert Jahren, und ist also immer das gleiche Nest;
            die ursprüngliche tiefe Absicht dieser Anlage wird durch den Um-
            stand erhärtet, daß die Gründer der Stadt dieselbe eine gute
            halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum
            deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden solle.   Aber schön
10          ist sie °gelegen, mitten in grünen Bergen, die nach der Mittag-
            seite zu offen sind, so daß wohl die Sonne herein kann, aber
            kein rauhes Lüftchen.   Deswegen gedeiht auch ein ziemlich
            guter Wein rings um die alte Stadtmauer, während höher
            hinauf an den Bergen unabsehbare Waldungen sich hinziehen,
15          welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies ist das
            Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben, daß die Ge-
            meinde reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, daß
            kein Mensch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wo-
            von sie seit Jahrhunderten eigentlich leben.   Und sie leben sehr


10        gelegen,] gelegen  E1-E5

 

S. 8

            lustig und guter Dinge, halten die Gemütlichkeit für ihre be-
            sondere Kunst und wenn sie irgendwo hinkommen, wo man
            anderes Holz brennt, so kritisieren sie zuerst die dortige Gemüt-
            lichkeit und meinen, ihnen thue es doch niemand zuvor in dieser
05         Hantierung.

                        Der Kern und der Glanz des Volkes besteht aus den
            jungen Leuten von etwa zwanzig bis fünf-, sechsunddreißig
            Jahren, und diese sind es, welche den Ton angeben, die Stange
            halten und die Herrlichkeit von Seldwyla darstellen.   Denn
10          während dieses Alters üben sie das Geschäft, das Handwerk,
            den Vorteil oder was sie sonst gelernt haben, d. h. sie lassen,
            so lange es geht, fremde Leute für sich arbeiten und benutzen
            ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehres,
            der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemüt-
15          lichkeit der Herren von Seldwyl bildet und mit einer ausge-
            zeichneten Gegenseitigkeit und Verständnisinnigkeit gewahrt wird;
            aber wohlgemerkt, nur unter dieser Aristokratie der Jugend.
            Denn so wie einer die Grenze der besagten blühenden Jahre
            erreicht, wo die Männer anderer Städtlein etwa anfangen, erst
20         recht in sich zu gehen und zu erstarken, so ist er in Seldwyla
            fertig; er muß fallen lassen und hält sich, wenn er ein ganz
            gewöhnlicher Seldwyler ist, ferner am Orte auf als ein Ent-
            kräfteter und aus dem Paradies des Credites Verstoßener, oder
            wenn noch etwas in ihm steckt, das noch nicht verbraucht ist,
25         so geht er in fremde Kriegsdienste und lernt dort für einen
            fremden Tyrannen, was er für sich selbst zu üben verschmäht
            hat, sich einzuknöpfen und steif aufrecht zu halten.   Diese kehren
            als tüchtige Kriegsmänner nach einer Reihe von Jahren zurück

S. 9

            und gehören dann zu den besten Exerziermeistern der Schweiz,
            welche die junge Mannschaft zu erziehen wissen, daß es eine
            Lust ist.   Andere ziehen noch anderwärts auf Abenteuer aus
            gegen das vierzigste Jahr hin, und in den verschiedensten Welt-
05          teilen kann man Seldwyler treffen, die sich alle dadurch aus-
            zeichnen, daß sie sehr geschickt Fische zu essen verstehen, in Austra-
            lien, in Californien, in Texas, wie in Paris oder Konstan-
            tinopel.

                        Was aber zurückbleibt und am Orte alt wird, das lernt
10         dann nachträglich arbeiten, und zwar jene krabbelige Arbeit von
            tausend kleinen Dingen, die man eigentlich nicht gelernt, für
            den täglichen Kreuzer, und die alternden verarmten Seldwyler
            mit ihren Weibern und Kindern sind die emsigsten Leutchen von
            der Welt, nachdem sie das erlernte Handwerk aufgegeben, und
15          es ist rührend anzusehen, wie thätig sie dahinter her sind, sich
            die Mittelchen zu einem guten Stückchen Fleisch von ehedem
            zu erwerben.   Holz haben alle Bürger die Fülle und die Ge-
            meinde verkauft jährlich noch einen guten Teil, woraus die
            große Armut unterstützt und genährt wird, und so steht das
20         alte Städtchen in unveränderlichem Kreislauf der Dinge bis
            heute.   Aber immer sind sie im ganzen zufrieden und munter,
            und wenn je ein Schatten ihre Seele trübt, wenn etwa eine
            allzu hartnäckige Geldklemme über der Stadt weilt, so vertreiben
            sie sich die Zeit und ermuntern sich durch ihre große politische
25         Beweglichkeit, welche ein weiterer Charakterzug der Seldwyler
            ist.   Sie sind nämlich leidenschaftliche Parteileute, Verfassungs-
            revisoren und Antragsteller, und wenn sie eine recht verrückte
            Motion ausgeheckt haben und durch ihr Großratsmitglied stellen

S. 10

            lassen, oder wenn der Ruf nach Verfassungsänderung in Seldwyla
            ausgeht, so weiß man im Lande, daß im Augenblicke dort kein
            Geld zirkuliert.   Dabei lieben sie die Abwechselung der Meinungen
            und Grundsätze und sind stets den Tag darauf, nachdem eine
05         Regierung gewählt ist, in der Opposition gegen dieselbe.   Ist
            es ein radikales Regiment, so scharen sie sich, um es zu ärgern,
            um den konservativen frömmlichen Stadtpfarrer, den sie noch
            gestern gehänselt, und machen ihm den Hof, indem sie sich mit
            verstellter Begeisterung in seine Kirche drängen, seine Predigten
10         preisen und mit großem Geräusch seine gedruckten Traktätchen
            und Berichte der Baseler Missionsgesellschaft umherbieten, natür-
            lich ohne ihm einen Pfennig beizusteuern.   Ist aber ein Regi-
            ment am Ruder, welches nur halbwegs konservativ aussieht,
            stracks drängen sie sich um die Schullehrer der Stadt und der
15         Pfarrer hat genug an den Glaser zu zahlen für eingeworfene
            Scheiben.   Besteht hingegen die Regierung aus liberalen
            Juristen, die viel auf die Form halten, und aus häcklichen
            Geldmännern, so laufen sie flugs dem nächst wohnenden Sozia-
            listen zu und ärgern die Regierung, indem sie denselben in den
20         Rat wählen mit dem Feldgeschrei: Es sei nun genug des
            politischen Formenwesens, und die materiellen Interessen seien
            es, welche allein das Volk noch kümmern könnten.   Heute wollen
            sie das Veto haben und sogar die unmittelbarste Selbstregierung
            mit permanenter Volksversammlung, wozu freilich die Seld-
25         wyler am meisten Zeit hätten, morgen stellen sie sich übermüdet
            und blasiert in öffentlichen Dingen und lassen ein halbes Dutzend
            alte Stillständer, die vor dreißig Jahren falliert und sich seit-
            her stillschweigend rehabilitiert haben, die Wahlen besorgen; als-

S. 11

            dann sehen sie behaglich hinter den Wirtshausfenstern hervor
            die Stillständer in die Kirche schleichen und lachen sich in die
            Faust, wie jener Knabe, welcher sagte: Es geschieht meinem
            Vater schon recht, wenn ich mir die Hände verfriere, warum
05         kauft er mir keine Handschuhe!   Gestern schwärmten sie allein
            für das eidgenössische Bundesleben und waren höchlich empört,
            daß man Anno 48 nicht gänzliche Einheit hergestellt habe; heute
            sind sie ganz versessen auf die Kantonalsouveränetät und haben
            nicht mehr in den Nationalrat gewählt.

10                     Wenn aber eine ihrer Aufregungen und Motionen der
            Landesmehrheit störend und unbequem wird, so schickt ihnen
            die Regierung gewöhnlich als Beruhigungsmittel eine Unter-
            suchungskommission auf den Hals, welche die Verwaltung des
            Seldwyler °Gemeindeguts regulieren soll; dann haben sie vollauf
15         mit sich selbst zu thun und die Gefahr ist abgeleitet.

                        Alles dies macht ihnen großen Spaß, der nur überboten
            wird, wenn sie allherbstlich ihren jungen Wein trinken, den
            gährenden Most, den sie Sauser nennen; wenn er gut ist, so
            ist man des Lebens nicht sicher unter ihnen, und sie machen
20         einen Höllenlärm; die ganze Stadt duftet nach jungem Wein
            und die Seldwyler taugen dann auch gar nichts.   Je weniger
            aber ein Seldwyler zu Hause was taugt, um so besser hält
            er sich sonderbarer Weise, wenn er ausrückt, und ob sie einzeln
            oder in Kompagnie ausziehen, wie z. B. in früheren Kriegen,
25         so haben sie sich doch immer gut gehalten.   Auch als Speku-
            lant und Geschäftsmann hat schon mancher sich rüstig umgethan,
            wenn er nur erst aus dem warmen sonnigen Thale °herauskam
            wo er nicht gedieh.

14        Gemeindeguts] Gemeindegutes  E1-E2
27        herauskam] herauskam,  E1-E5

S. 12

                        In einer so lustigen und seltsamen Stadt kann es an
            allerhand seltsamen Geschichten und Lebensläufen nicht fehlen,
            da Müßiggang aller Laster Anfang ist.   Doch nicht solche Ge-
            schichten, wie sie in dem beschriebenen Charakter von Seldwyla
05          liegen, will ich eigentlich in diesem Büchlein erzählen, sondern
            einige sonderbare Abfällsel, die so zwischen durch passierten, ge-
            wissermaßen ausnahmsweise, und doch auch gerade nur zu
            Seldwyla vor sich gehen konnten.

 

 

Vorrede zu Teil II (1874)

 

S. 7

                        Seit die erste Hälfte dieser Erzählungen erschienen, streiten
            sich etwa sieben Städte im Schweizerlande darum, welche unter
            ihnen mit Seldwyla gemeint sei; und da nach alter Erfahrung
            der eitle Mensch lieber für schlimm, glücklich und kurzweilig,
05         als für brav aber unbeholfen und einfältig gelten will, so hat
            jede dieser Städte dem Verfasser ihr Ehrenbürgerrecht angeboten
            für den Fall, daß er sich für sie erkläre.

                        Weil er aber schon eine Heimat besitzt, die hinter keinem
            jener ehrgeizigen Gemeinwesen zurücksteht, so suchte er sie da-
10         durch zu beschwichtigen, daß er ihnen vorgab, es rage in jeder
            Stadt und in jedem Thale der Schweiz ein Türmchen von
            Seldwyla, und diese Ortschaft sei mithin als eine Zusammen-
            stellung solcher Türmchen, als eine ideale Stadt zu betrachten,
            welche nur auf den Bergnebel gemalt sei und mit ihm weiter
15         ziehe, bald über diesen, bald über jenen Gau, und vielleicht
            da oder dort über die Grenze des lieben Vaterlandes, über
            den alten Rheinstrom hinaus.

                        Während aber einige der Städte hartnäckig fortfahren,
            sich ihres Homers schon bei dessen Lebzeiten versichern zu

S. 8

            wollen, hat sich mit dem wirklichen Seldwyla eine solche Ver-
            änderung zugetragen, daß sich sein sonst durch Jahrhunderte
            gleich gebliebener Charakter in weniger als zehn Jahren ge-
            ändert hat und sich ganz in sein Gegenteil zu verwandeln
05         droht.

                        Oder, wahrer gesagt, hat sich das allgemeine Leben so
            gestaltet, daß die °besonderen Fähigkeiten und Nücken der
            wackeren Seldwyler sich herrlicher darin entwickeln können, ein
            günstiges Fahrwasser, ein dankbares Ackerfeld daran haben,
10         auf welchem gerade sie Meister sind und dadurch zu gelungenen,
            beruhigten Leuten werden, die sich nicht mehr von der braven
            übrigen Welt unterscheiden.

                        Es ist insonderlich die überall verbreitete Spekulationsbe-
            thätigung in bekannten und unbekannten Werten, welche den
15         Seldwylern ein Feld eröffnet hat, das für sie wie seit Urbe-
            ginn geschaffen schien und sie mit Einem Schlage tausenden
            von ernsthaften Geschäftsleuten gleichstellte.

                        Das gesellschaftliche Besprechen dieser Werte, das Herum-
            spazieren zum Auftrieb eines Geschäftes, mit welchem keine
20         weitere Arbeit verbunden ist, als das Erdulden mannigfacher
            Aufregung, das Eröffnen oder Absenden von Depeschen und
            hundert ähnliche Dinge, die den Tag ausfüllen, sind so recht
            ihre Sache.   Jeder Seldwyler ist nun ein geborener Agent
            oder dergleichen, und sie wandern als solche förmlich aus, wie
25         die Engadiner Zuckerbäcker, die Tessiner Gypsarbeiter und
            die savoyischen Kaminfeger.

                        Statt der ehemaligen dicken Brieftasche mit zerknitterten
            Schuldscheinen und Bagatellwechseln führen sie nun elegante

07        besonderen] besondern  H3-E5

S. 9

            kleine Notizbücher, in welchen die Aufträge in Aktien, Obliga-
            tionen, Baumwolle oder Seide kurz notiert werden.   Wo irgend
            eine Unternehmung sich aufthut, sind einige von ihnen bei der
            Hand, flattern wie die Sperlinge um die Sache herum und
05         helfen sie ausbreiten.   Gelingt es einem, für sich selbst einen
            Gewinn zu erhaschen, so steuert er stracks damit seitwärts, wie
            der Karpfen mit dem Regenwurm, und taucht vergnügt an
            einem andern Lockort wieder auf.

                        Immer sind sie in Bewegung und kommen mit aller
10         Welt in Berührung.   Sie spielen mit den angesehensten Ge-
            schäftsmännern Karten und verstehen es vortrefflich, zwischen
            dem Ausspielen schnelle Antworten auf Geschäftsfragen zu
            geben oder ein bedeutsames Schweigen zu °beobachten.

                        Dabei sind sie jedoch bereits einsilbiger und trockener ge-
15         worden; sie lachen weniger als früher und finden fast keine
            Zeit mehr, auf Schwänke und Lustbarkeiten zu sinnen.

                        Schon sammelt sich da und dort einiges Vermögen an,
            welches bei eintretenden Handelskrisen zwar zittert wie Espen-
            laub, oder sich sogar still wieder auseinander begiebt wie eine
20         ungesetzliche Versammlung, wenn die Polizei kommt.

                        Aber statt der früheren plebejisch-gemütlichen Concurse und
            Verlumpungen, die sie unter einander abspielten, giebt es jetzt
            vornehme Accommodements mit stattlichen auswärtigen Gläu-
            bigern, anständig besprochene Schicksalswendungen, welche an-
25         näherungsweise wie etwas Rechtes aussehen, sodann Wieder-
            aufrichtungen, und nur selten muß noch einer vom Schau-
            platze abtreten.

                        Von der Politik sind sie beinahe ganz abgekommen, da

13        beobachten.] kein Absatzende  H3

S. 10

            sie glauben, sie führe immer zum Kriegswesen; als angehende
            Besitzlustige fürchten und hassen sie aber alle Kriegsmöglich-
            keiten, wie den baren Teufel, während sie sonst hinter ihren
            Bierkrügen mit der ganzen alten Pentarchie zumal Krieg
05         führten.   So sind sie, ehemals die eifrigsten Kannegießer, da-
            hin gelangt, sich ängstlich vor jedem Urteil in politischen Din-
            gen zu hüten, um ja kein Geschäft, bewußt oder unbewußt,
            auf ein solches zu stützen, da sie das blinde Vertrauen auf
            den Zufall für solider halten.

10                     Aber eben durch alles das verändert sich das Wesen der
            Seldwyler; sie sehen, wie gesagt, schon aus wie andere Leute;
            es ereignet sich nichts mehr unter ihnen, was der beschaulichen
            Aufzeichnung würdig wäre, und es ist daher an der Zeit, in
            ihrer Vergangenheit und den guten lustigen Tagen der Stadt
15         noch eine kleine Nachernte zu halten, welcher Thätigkeit die
            nachfolgenden weiteren fünf Erzählungen ihr Dasein verdanken.