Gottfried Keller

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Die Leute von Seldwyla

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Überblick Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe
Besprechung (zeitgenössisch)  
 

Überblick

 

Die ersten fünf Erzählungen, von Keller in Berlin verfaßt, sind 1856 im Verlag Vieweg (in einem Band) erschienen:

  1. Pankraz, der Schmoller
  2. Frau Regel Amrain und ihr Jüngster
  3. Romeo und Julia auf dem Dorfe
  4. Die drei gerechten Kammmacher
  5. Spiegel, das Kätzchen

In der 2. Auflage (Göschen-Verlag) wurden diese Erzählungen auf 2 Bändchen aufgeteilt. Außerdem fügte Keller fünf weitere Erzählungen hinzu. Die ersten drei (Bd.3) erschienen 1873, die beiden letzten (Bd. 4) erst ein Jahr später.

  1. Kleider machen Leute
  2. Der Schmied seines Glückes
  3. Die mißbrauchten Liebesbriefe
  4. Dietegen
  5. Das verlorene Lachen

Beiden Bänden stellte Keller eine sehr aufschlußreiche Vorrede voran.


 

Eine zeitgenössische Rezension

 

Friedrich Theodor Vischer, in Allgemeine Zeitung, 22.7.1874

(Bd. 4 mit Dietegen und Das verlorene Lachen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen, weshalb nur von den übrigen Erzählungen die Rede ist.)


Es ist die Folie der Vernünftigkeit, auf welcher sich die Menschen als Narren absetzen, sei es als schlimme, denen nicht zu helfen ist, sei es als rettbare, die mit einem blauen Auge davon kommen. Wir durchlaufen von diesem Gesichtspunkte mit raschen Blicken die Novellenreihe. Pankraz den Schmoller wollen wir vorerst beiseite lassen; ich habe ein Bedenken gegen die Richtigkeit des Zusammenhangs zwischen seinen Untugenden und seiner Prüfung; die zwei Väter in Romeo und Julie auf dem Lande processiren sich in verbissener Bauernwuth zu Schanden; der Sohn der Frau Amrain wird von seinen Seldwyler-Thorheiten, namentlich der Freischaaren-Unart, durch seine Mutter, das gediegene Urbild einer deutschen Frau, mit herrlichem Gleichgewicht von Mutterliebe und klug erziehender Vernunftklarheit hindurchgelootset, und zu einem richtigen Mann in Staat und Haus hinaufgebildet; wozu es die Legalität bringt, die in ihrem Grunde Knauserei und müßige, knickige Habsucht ist, werden wir später aus die drei gerechten Kammmacher zu unserer nicht geringen Belustigung ersehen; der Quacksalber und Winkeladvocat, "Stadthexenmeister" Pineiß im Spiegel, das Kätzchen erschindet mit der grausamen List seiner Gewinnsucht das grauenhafte Glück der Ehe mit einer Hexe, und die Cokette, von der Spiegel erzählt wie sie ihre Freier und zuletzt ein treu liebendes Herz gemartert, erntet das Loos der alten Jungfern. Der Schmied seines Glücks, der eitle und phantastische Gimpel von Barbier, der im vollen Hanfsamentopf schwelgen darf, welche prächtige Ironie des Schicksals erfaßt ihn, da ihm der Hanfsame noch nicht fett genug ist! Von einem kinderlosen, reichen, alten Ehemann als Erbe eingesetzt, thut er noch ein übriges, sorgt seinem Gönner für einen Erben von seiner hübschen Frau, findet sich eines schönen Morgens auf die Straße gesetzt, und endet als Schmied im traurig-buchstäblichen Sinne des Worts, als Nagelschmied. Hr. Victor Störteler (die mißbrauchten Liebesbriefe) erfreut sich eines guten Glückstandes, er führt ein einträgliches Kaufmannsgeschäft; und hat ein angenehmes, zuthuliches, braves Weibchen aber der Teufel reizt ihn an Schriftsteller zu werden unter dem Namen Kurt vom Walde, und dann sich einer Verbindung windiger Gesellen anzuschließen die in Literatur machen, und eine neue Sturm- und Drangperiode ins Werk zu setzen beschließen; die Lumpen sind ausgezeichnet charakterisirt, es kann keine besser in Fleisch und Blut übertragene Satire modernen literarischen Humbugs geben; man wird von ihrem Treiben durch einen Kellner unterrichtet, der selbst früher der edlen Compagnie angehört hat, dann aber zur Vernunft und zum Metier zurückgekehrt ist. Nun beschließt Hr. Störteler: Gritli, sein Weibchen, ins Geistreiche hinaufzubilden, zu seiner Mitdichterin und Muse heranzuziehen. Da es mit Vorlesen und Anhalten zum Selbstlesen nicht gehen will, leitet er auf einer Geschäftsreise einen Briefwechsel ein, worin die Frau selbstthätig sich entwickeln soll, indem sie verrückte Briefe, die er ihr schreibt, eben so hochgenial beantwortet, und dieser Briefwechsel ist bestimmt publicirt zu werden. In ihrer Noth zieht die Arme einen Unterlehrer an der Volksschule herbei, der ihr Antworten componirt wie sie verlangt werden. Da sie ihm fälschlich angegeben die Adressatin sei eine Frau, so verliebt sich der gute Narr in die Auftraggeberin, sie aber liest die Liebe aus dem Feuer seiner Stylproben heraus, und wird unbewußt davon angesteckt. Hr. Störteler entdeckt den Betrug, verstößt sein Weib, bereut zu spät seine Rohheit, da sie nun ihrerseits auf Scheidung besteht, wird dann von einer alten, widerwärtigen, häßlichen, affectirten, gefräßigen Schauspielerin, von der er sich "verstanden" sieht, in eine zweite Ehe hineingeschmeichelt, verhaust, zum Gelächter der Stadt geworden, mit ihr sein Vermögen und verkommt. Nun aber bedarf der Briefkünstler, der Unterlehrer Wilhelm, auch einer Schule des Schicksals. Es war zwar mehr Kinderei als Schlechtigkeit was er that, und es ist ungerecht vom Pfarramte daß es ihn entläßt, aber er ist bis dahin doch ein träumerischer verliebter Narr gewesen, und hat unter anderm ein sparafandliches Spiel mit der Mythologie getrieben (s. B. 3, 167), namentlich bei schlechtem Wetter, und wenn es ihm zu knapp gieng, bei sich selbst behauptet: zu einem solchen Leben brauche man gar keinen Gott. Diesem jungen Mann wird nun aber vom Dichter eine äußerst gesunde Cur verordnet. Als Bauernsohn hat er den Landbau praktisch gelernt, wird von einem Tuchscheerer, der Landwirthschaft treibt, als Hüter und Pfleger seiner Weinberge, Aecker, Wiesen angestellt, lebt lang als "Einsiedel" in einem Weinberghäuschen, gedeiht nun in der Stille und im Arm der Natur "zu einem löblichen Wesen," endlich wird der hübsche sonnenbraune Gesell vom geschiedenen Gritli in seiner Einsamkeit entdeckt, besteht wacker eine starke Versuchung, worin eine schalkhafte Freundin der guten Frau die Treue seines Herzens prüft, und feiert eine fröhliche Hochzeit mit dem so lange still geliebten Weibe. Er wird Herr eines großen Landguts, ein angesehener und wohlberathener Mann und Vater von wohlerzogenen Kindern, welche, "als sie erwachsen, wieder andere Wohlerzogene zur Ehe herbeiholten. Auch der Tuchscheerer blieb in der Freundschaft, und erhielt sich als ein geborgener Mann, so daß nach und nach eine kleine Colonie von Gutbestehenden anwuchs, welche, ohne einem heitern Lebensgenusse zu entsagen, dennoch Maß hielten und gediehen." Und zuletzt spaziere der Held der ersten Novelle des dritten Bändchens (Kleider machen Leute) noch auf, der gute Schneidergeselle Strapinsky, der für entschuldbare Schuld vom Schicksal, das ihm die Falle doch selbst gelegt, so herb gezüchtigt und dann so hoch begnadigt wird. Denn als ihn der Kutscher, der den Wandernden aufgenommen, im Wirthshaus zur goldenen Wage in Goldach abgesetzt, als ihn zuerst der Wirth, dann nach und nach das ganze Städtchen, ausgenommen Herrn Spinnereibuchhalter Böhni, für einen Grafen hielt, spann sich das nicht wie ein magisches Netz um ihn, war nicht jeder Fluchtversuch vergeblich, und zog sich nicht das Netz unentrinnbar zu als das schöne Amtsrathstöchterlein Nette die letzten Maschen band? Er war ja im Herzensgrund eine ehrliche Haut, ein ordentlicher Mensch, das entschlossene Mädchen mit ihm und durch ihn entsetzlich beschämt, - wir sprechen noch nicht von der Entlarvungsscene, denn das gehört in ein anderes Capitel - das entschlossene und - eben doch liebende Mädchen erkennt es, rettet ihn vom schmählichen Untergang, setzt es beim Vater Amtsrath durch daß er sie ihm geben muß, er wird wohlbestellter Ehemann, ein großer Marchand-Tailleur und Tuchherr in Seldwyla, lebt bescheiden, sparsam und weise, und steht, nach Goldach übergesiedelt, als runder, stattlicher, angesehener Herr inmitten eines Segens von zehn bis zwölf Kindern.