Gottfried Keller

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Lina Weißert

Inhalt

Biographisches
Kellers Heiratsantrag
Regenliedchen für Line

Biographisches

 

Lina Weißert

Lina Weißert war 1851 in Heilbronn geboren und aufgewachsen und kam - nach dem Tod ihrer Mutter - 1864 mit dem Vater, dem Sattler Johannes Weißert, nach Zürich. Als dieser bald darauf starb, wurde sie zur Vollwaise und mußte sich mit verschiedenen Beschäftigungen durchbringen. Am 14. März 1866 zog sie bei dem Speisewirt David Vontobel an der Schifflände 26, in dessen beliebtem Studentenlokal, ein und lebte dort bis 9. Februar 1874.

In dieser Zeit ließ sich Gottfried Keller offenbar gerne im Café Vontobel-Boller von Lina bedienen und machte ihr schließlich gar einen Heiratsantrag, den sie zurückgewiesen hat. Was Keller offenbar nicht wußte, war der Umstand, daß Lina mit größter Wahrscheinlichkeit schon zur Zeit seines Heiratsantrags einem andern Mann verbunden war, mit dem sie sich auch im Herbst des gleichen Jahres verlobte und der vielleicht die entschiedene Formulierung des Absagebriefes mitverantwortete. Es handelt sich um niemand anderen als den Juristen Eugen Huber, den später berühmt gewordenen Autor des Schweizerischen Zivilgesetzbuches.

Eugen Huber

1849 in Stammheim geboren (also 30 Jahre jünger als Keller), betätigte sich, nach einem fehlgeschlagenen Versuch als Privatdozent im Wintersemester 1872/73 an der Universität Zürich, als Hilfsredaktor bei der NZZ, arbeitete 1874/75 als Korrespondent in der Bundesstadt Bern und wurde Anfang 1876 zum Chefredaktor der NZZ ernannt. Diese Stelle gab er im Frühjahr 1877 infolge politischer Meinungsverschieden-heiten mit der liberalen Partei auf, worauf er eine Verhörrichter- und Polizeidirektorenstelle in Trogen übernahm.

Huber soll es seiner Verlobten ermöglicht haben, sich drei Jahre lang vor allem in französischer und englischer Sprache in Genf auszubilden (am 20. Februar 1874 ließ sie sich dort im Register der Aufenthaltsbewilligungen eintragen). Am 18. April 1876 fand die Hochzeit zwischen dem "rédacteur de la Nouvelle Gazette de Zurich" und Lina Weißert, "sans profession", statt. Die "Serviertochter" wurde zur Juristengattin, die ihrem Mann "eine treue Mitarbeiterin bei seinem Lebenswerk" geworden sein soll und später in Bern "den hohen Anforderungen, die Huber an die Gastfreiheit seines Hauses stellte, [...] stets zu genügen" wußte, bis sie am 4. April 1910 verstarb.

Zit. Max Rümelin: Eugen Huber. Rede gehalten bei der akademischen Preisverteilung am 6. November 1923. Tübingen 1923.

 

 

Kellers Heiratsantrag

 


Der 53jährige Staatsschreiber Gottfried Keller hat der 22jährigen Kellnerin am 10. April 1873, Donnerstag vor Karfreitag, einen förmlichen Heiratsantrag gesandt. Dieser ist zwar nicht mehr vorhanden. Die Empfängerin hat ihn vermutlich mit der Antwort zurückgeschickt und Keller ihn mit ziemlicher Sicherheit vernichtet. Erhalten ist aber eine Abschrift mit Bleistift auf der ersten Seite eines weißen Doppelblattes, die sich Lina Weißert selbst davon angefertigt haben muß:

L L.
Sie haben Gestern Abend wahrscheinlich gemerkt, wo ich hinaus wollte mit meiner ungeschickten Ankündigung. Ohne viele Worte zu machen, will ich Sie daher jetzt fragen, ob Sie nicht zu viel Widerwillen haben, meine Frau zu werden? Wenn Sie mich nicht mögen, so wissen Sie es jetzt schon u. ich bitte Sie in diesem Falle mir dieses Briefchen mit einem darüber od. darun-ter geschrieben Nein heute Abend noch zurückzustellen, damit wir dann über die Sachen lachen können wenn ich zurückkomme. Glauben Sie aber mit mir leben zu können u. wollen sie sich die Sache überlegen so können sie mir das an diesem Abende so zu verstehen geben, wie es Ihnen gefällt u gut scheint. Vielleicht könnten Sie mir über die Ostertage Gelegenheit geben mich näher auszusprechen u. vielleicht würde J. N. Ihnen hiebei mit Ihrem Rath zu Seite sein da Sie sonst Niemand haben. Alle weitern bei solchen Anläße übliche Redens Arten, will ich jetzt unterlassen einzig will ich Ihnen sagen, daß es mich sehr glüklich machen würde für Sie sorgen u leben zu dürfen. Ihr Erg G K

Lina ließ es nicht bei dem einfachen Nein bewenden, sondern legte der Rücksendung vermutlich das kurze Schreiben bei, welches sich - als Entwurf oder Kopie von ihrer Hand - auf dem Formular einer Menukarte, deren oberer Teil abgerissen ist, erhalten hat. (Die Ausdrücke in Spitzklammern wurden von der Schreiberin nachträglich eingefügt).

G. H. S. (= vermutlich: Geehrter Herr Staatsschreiber)

Ich kann nicht umhin Ihrem geschätzten Schreiben Einige Worte beizufügen. Genehmigen Sie vor allem meinen besten herzlichsten Dank, für Ihre überaus liebevolle Ansicht, die ebenso unerwartet, als unverhofft an mich gelangte. Der gestrige Abend war wohl derart mich verstehen zu lassen, was Sie mir hier mittheilen u. ich verhehle Ihnen keinen Augenblick, daß mich diese Nachricht <dennoch> ungemein überraschen mußte. Allein Sie wissen ja wohl, daß in solchen Angelegenheiten nicht allein der Verstand sondern hauptsächlich das Herz reden soll u. daher zögre nicht länger mit der Antwort wenn Ihnen sage, daß ich auf Ihren wenn auch noch so edeldenckenden Antrag <nicht> eingehen kann. Genehmigen Sie die Versicherung
Meines herzlichsten Dankes
von Ihrer ergebenen
L. W.

Kellers Antrag weist erstaunliche Parallelen zu einem Liebesgeständnis auf, das er - 26 Jahre früher - am 16. Oktober 1847 Luise Rieter zukommen ließ: Hier wie dort ein Beginnen, das von vornherein auf ein Mißlingen hin anlegt ist und hier wie dort das Angebot, das Ansinnen des Bewerbers mit Lachen zurückzuweisen. Nur daß der selbstvorgebrachte Haupteinwand - es noch zu nichts gebracht zu haben - inzwischen entfällt. Auch wird jetzt weniger um Liebe geworben als Fürsorge angeboten und dafür weniger Gegenliebe gefordert als Sympathie erwartet

 

 

Regenliedchen für Line

 

In Kellers Nachlaß findet sich ein Gedicht, das auf dem genannten biographischen Hindergrund beruht und ohne diesen nicht verständlich ist:

 

Regenliedchen für Line.

Für manchen Becher, den Du ihm
Mit Freundlichkeit gebracht,
Hat jetzt ein guter alter Freund
Still sinnend Dein gedacht:

Jetzt sitzt Sie in dem Regengrau,
Das fern den Berg verhüllt;
Es bleibt ihr Wunsch nach Sonnenschein
Und Lenzluft ungestillt.

Doch bleib' nur ruhig, gold'nes Kind,
Und lach' den Regen an
Mit deinem Aug' voll Sonnenschein,
Den bösen Wassermann!

Und dankbar aus den Wolken bringt
Er dir Genesung her;
Dann rauscht er fort - und diese Schnur
Holt er Dir aus dem Meer!

Ein Zeichen, wie er sehr sich schämt,
Sei dir das tiefe Roth!
Ach Gott! wie rauscht und plätschert er,
Bald weint er sich zu todt!

Blick' ihn nur an, so muß entsteh'n
Des Regenbogens Pracht,
Dann hat dein sonnig' Augenlicht
Den Regen weggelacht.


Die Realien erschließen sich anhand einer am untern Blattrand mit Bleistift beigefügten Notiz von fremder bzw. Linas Hand:

Beiliegend: eine Korallenschnur, annonym an mich gesandt
im Juni 1872
in's Nidelbad.


Das Nidelbad ist eine oberhalb der Zürcher Gemeinde Rüschlikon liegende

ländliche Kur-Anstalt mit erdig-alkalischer Stahlquelle, schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegen Wechselfieber mit Erfolg angewendet. <...> Bewirthschaftung seit 2 Jahren sehr gut, die Badeeinrichungen sind bedeutend vervollkommnet, und es ist für Comfort gesorgt, den Fremde beanspruchen. - Als Kur- und Pensionshaus seiner gesunden Lage wegen zu empfehlen.

Zürich und seine Umgebungen. Ein Führer für Einheimische und Fremde.
Nach den neuesten Quellen bearbeitet. Zürich: Cäsar Schmidt (1875). S.75

 Die kränkliche Lina scheint also im Juni 1872 einen Kuraufenthalt in dieser Anstalt verbracht zu haben und damals von Keller das Gedicht - zusammen mit einer Korallenschnur - erhalten zu haben: anonym. Der darin genannte Wassermann ist eine im deutschen Aberglauben beheimatete Figur: Er ist in der Regel klein wie ein Zwerg, sieht alt aus und trägt einen langen, krausen Bart. Korallenschnüre aber werden von der Braut getragen, der sie unheilabwehrende Schutzkraft verleihen.

 


Die genannten Dokumente sind im Zusammenhang mit den Vorarbeiten für eine historisch-kritische Keller-Ausgabe im Nachlaß des Dichters zum Vorschein gekommen. Die Zentralbibliothek Zürich hat sie durch das Vermächtnis von Eugen Huber erhalten, mit der Auflage, sie nicht vor dem 23. April 1953 (Hubers 30. Todestag) zu publizieren (Sigle: Ms GK 8a.16).

Über diese unbekannte Episode in Kellers Leben wurde erstmals berichtet in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30.4.1994 (Walter Morgenthaler: Regenliedchen für Line. Neue Funde zur Biographie von Gottfried Keller).