Gottfried Keller

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"Martin Salander" (Apparat HKKA 24)

Zeitgeschehen in "Martin Salander"
(Textauszug)

Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA), Bd. 24, S. 41-56.
(Die Zahlen bei Zitaten beziehen sich auf Seite/Zeile des Textbandes HKKA 8).

Inhalt

Erste Schwerpunkte der liberalen Politik Krisen und Skandale
Die demokratische Bewegung Emigration und Immigration
Wirtschaftsboom Festkultur


Wie schon im Grünen Heinrich macht Keller auch im Martin Salander bei der Darstellung der Gegenwart deutlich, daß diese aus der Geschichte hervorgegangen ist. Der Roman blickt zurück in Salanders Jugend und ruft damit die Phase des liberalen Aufbruchs zwischen den Umwälzungen von 1830/31 und der Bundesstaatsgründung von 1848 in Erinnerung, in welche die politische Sozialisation des Autors Gottfried Keller fällt. Das Zeitgeschehen, das die Romanhandlung von Martin Salander aufruft, umfaßt somit genau die Zeit, die Gottfried Keller als aufmerksamer Zeitzeuge miterlebt hat und die er in seinem Roman nun gleichsam Revue passieren läßt. Keller verlegt die Geburt seines Romanhelden in die Jahre, in denen der Liberalismus in der Schweiz erstmals in die politische Verantwortung trat: Martin Salander darf so als Kind des liberalen Zeitalters bezeichnet werden. Als Keller den Roman schrieb, wurde die Politik des Kantons Zürich (und anderer Kantone) seit 55 Jahren vom Liberalismus bestimmt. - Martin Salander ist kurz vor Ende der erzählten Romanhandlung 55 Jahre alt.

 

 

Erste Schwerpunkte der liberalen Politik

 

Im Anschluß an die Pariser Juli Revolution von 1830 wurden in mehreren Kantonen der Schweiz die konservativen Regierungen entmachtet, die im Zug der Restauration nach dem Wiener Kongreß die Ordnung des Ancien régimes wieder herzustellen versucht hatten. Auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhende liberale Verfassungen wurden in Kraft gesetzt. Diese stellten die Bevölkerung der Landschaft derjenigen der Stadt rechtlich gleich. Besondere Aufmerksamkeit schenkten die neuen liberalen Regierungen dem Bildungswesen, das von der Kirche gänzlich unabhängig gemacht werden sollte. In Zürich und Bern wurden bestehende Hochschulen mit einem nur partiellen Lehrangebot zu vollen Universitäten ausgebaut. Mit der Sekundarschule wurde ein neuer Schultyp geschaffen, welcher namentlich auf dem Land den Kindern nach dem sechsten Schuljahr eine anspruchsvollere Alternative zur Volksschule bot. Ein Produkt dieser Neuordnung, welche erstmals das Schulwesen als ein kohärentes Gefüge betrachtete, war auch die Industrieschule in der Stadt Zürich, die ein etwas praxisnäheres Pendant zum Gymnasium darstellte. Die Gründung eines kantonalen Lehrerseminars sorgte im Kanton Zürich für eine Professionalisierung der Volkslehrerausbildung und bot namentlich Bauernsöhnen ein Sprungbrett für einen sozialen Aufstieg und eine akademische Ausbildung. Der erste Seminardirektor, Ignaz Thomas Scherr (1801-1870), war einer jener deutschen Emigranten, die im kulturellen Leben Zürichs und in der liberalen Bildungsoffensive eine entscheidende Rolle spielten. Die Berufung des Junghegelianers David Friedrich Strauß als Theologieprofessor an die Universität führte dann aber 1839 zu massiven Protesten und zum Sturz der liberalen Regierung ('Züriputsch'), die von einer gemäßigt konservativen abgelöst wurde. In Zürich und anderen Kantonen wurde um das Jahr 1840 die erste Generation von liberalen Politikern von den 'Radikalen' verdrängt, die der Gleichheit der Bürger Priorität vor der individuellen Freiheit einräumten und sich unter anderem für die Beseitigung von Wahlrechtsbeschränkungen einsetzten. In den 1840er Jahren verschärfte sich die Auseinandersetzung zwischen den von konservativen Regierungen geführten Kantonen und solchen, in denen die Radikalen den Ton angaben, deren Ziel es war, die Eidgenossenschaft als Ganzes zu einem modernen, liberalen Staat auf der Grundlage der Volkssouveränität zu machen. Wechselseitige Provokationen der beiden Lager erhitzten das politische Klima (Berufung der Jesuiten nach Luzern, Aufhebung der Klöster im Kanton Aargau, Freischarenzüge, Zusammenschluß der konservativen Kantone im 'Sonderbund') und mündeten 1847 in einen halbwegs glimpflich ablaufenden Bürgerkrieg ('Sonderbundskrieg'). Der Sieg der radikalen Kantone ermöglichte die rasche Ausarbeitung einer neuen Bundesverfassung, die den Bundesvertrag von 1815 ablöste. Hatte dieser die Kantone noch als souveräne Staaten betrachtet, so kam nun das Inkrafttreten der Verfassung einer eigentlichen Staatsgründung gleich ('Bundesstaatsgründung'). Während 1848 (und das Folgejahr) den übrigen deutschsprachigen Gebieten Europas den Katzenjammer einer gescheiterten Revolution brachte, bescherte es der Schweiz das damals progressivste Grundgesetz Europas.

Da Gottfried Kellers Eltern nicht Stadtbürger waren, blieb ihr Sohn vorerst von der höheren städtischen Schulbildung ausgeschlossen, bis er 1833 vom "Landknaben-Institut" in die neu gegründete kantonale Industrieschule übertreten konnte. Das Beispiel zeigt, wie Kantonsbürger, die vom Land in die Stadt gezogen waren, von der liberalen Neuordnung von 1831 profitierten. Allein schon durch seine Herkunft war Keller so zum Parteigänger der Liberalen prädisponiert. In der Zeit nach dem 'Züriputsch' begann er sich mehr und mehr für die radikale Sache zu engagieren, seit dem Sommer 1843 auch mit politischen Gedichten und Zeitungsartikeln. Deutsche Emigranten wie Julius Fröbel, August Ludwig Follen, Wilhelm Schulz und Ferdinand Freiligrath förderten diese literarischen Anfänge. 1844 und 1845 nahm Keller an den Freischarenzügen teil; Reflexe darauf sind in die Seldwyla-Novelle Frau Regel Amrein eingegangen.

Die Ausbildung zum Volksschullehrer und die Fortbildung zum Sekundarlehrer stehen am Anfang von Martin Salanders beruflicher Karriere, die ihn aus dem kleinbäuerlichen Milieu seiner Eltern ausbrechen läßt. Sein Sohn Arnold wird später als Historiker seiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, daß seine Familie, "geringe Leute vom Lande, frei wie Lerchen in der Luft" (341.24 f.) säßen. Obwohl Kaufmann, sieht Martin Salander als Politiker sein Lieblingsfeld in der Volkserziehung (206.29) und findet im Großrats- und Gerichtspräsidenten, der in einer Ansprache seine Zuhörer ermahnt, das Vermächtnis Pestalozzis nicht aus den Augen zu verlieren, einen Gesinnungsgenossen (320.17-321.06).

 

Die demokratische Bewegung

 

Den Radikalen erwuchs seit Beginn der 1860er Jahre durch die demokratische Bewegung politische Konkurrenz. Die Forderung nach noch konsequenterer Demokratisierung des Staates etwa durch die Einführung von Referendum und Initiative oder der Volkswahl der Regierung und weiterer Amtsträger gab ihr den Namen. Daneben stellte sie auch wirtschafts- und sozialpolitische Forderungen wie die Gründung von Kantonalbanken (die Bauern und Handwerkern den Zugang zum Kapitalmarkt erleichtern sollten), die Unentgeltlichkeit der Volksschulen, die Reform des Konkursrechtes und des Notariatswesens, die Einführung der Progressivsteuer etc. Die Bewegung nahm für sich in Anspruch, die 'kleinen Leute' zu vertreten, womit weniger Industriearbeiter als Bauern und Handwerker gemeint waren. Es gelang ihr, der alten politischen Elite, die in Zürich aus Wirtschaftsführern und Hochschulprofessoren bestand (man nannte sie nach Alfred Escher, ihrem führenden Kopf, das 'Eschersche System'), das politische Machtmonopol streitig zu machen. Die Bewegung führte zu einer verstärkten Politisierung der Öffentlichkeit, so daß nun nicht mehr wie bisher bloß ein kleiner Prozentsatz der Wahlberechtigten zur Urne ging. Die politischen Auseinandersetzungen wurden schriller und ließen deutlicher die Interessen der Kontrahenten in Erscheinung treten. Die Regierung büßte den Nimbus einer überlegenen, die Gesamtinteressen vertretenden Obrigkeit ein. Der umstrittenste Exponent des neuen politischen Stils war Friedrich Locher (1820-1911), der gefürchtete Pamphlete schrieb und nicht vor groben Verleumdungen zurückschreckte. Im Kanton Zürich trat 1869 eine neue Verfassung in Kraft, welche die demokratischen Forderungen verwirklichte. Wie schon nach dem Umsturz von 1830 wurde auch jetzt wieder eine Bildungsreform in Angriff genommen. Doch mußte gemäß der neuen demokratischen Verfassung das ambitionierte neue Schulgesetz einer Volksabstimmung unterzogen werden (Referendumsabstimmung). Es wurde abgelehnt, was zeigte, daß die direkte Demokratie nicht notwendig den progressiven Kräften nützte. Die Reformen auf kantonaler Ebene wurden 1874 (nach einem ersten gescheiterten Anlauf 1872) mit einer Verfassungsrevision auf der Ebene des Bundes nachvollzogen. Die demokratische Bewegung konnte in den 1860er Jahren auch sozialdemokratische Tendenzen assimilieren. Später politisierten die sich zur Partei formierenden Sozialdemokraten teils mit den Demokraten, teils gegen sie. Auf die Dauer erwiesen sich die Gemeinsamkeiten zwischen Demokraten und Radikalen, die sich nun meist 'Freisinnige' nannten, jedoch als beständiger. Auf Bundesebene schlossen sie sich 1894 in der Freisinnig-Demokratischen Partei zusammen, die sich als Gegenkraft zur Arbeiterbewegung verstand.

Nachdem Gottfried Keller als Verfasser der kritischen Randglossen zur Gruppe der ersten Kritiker am 'Escherschen System' und damit zu den Wegbereitern der demokratischen Bewegung gehört hatte, erlebte er diese nach seiner Wahl zum Staatsschreiber im Juni 1861 aus der Sicht der radikalen Regierung. 1861 bis 1866 gehörte er dem Kantonsparlament, dem 'Großen Rat' an, der 1864/65 mit den ersten Anträgen der Demokraten zu Verfassungsänderungen konfrontiert war: Keller berichtete davon in einer Artikelserie in der Berner Sonntagspost. Als Mitglied und Sekretär des Verfassungsrates nahm er 1868/69 an der Ausarbeitung der neuen Verfassung teil. Die neue, ausschließlich aus Demokraten zusammengesetzte Regierung, die 1869 gewählt wurde, bestätigte Keller wider Erwarten in seinem Amt als Staatsschreiber, das er dann noch bis 1876 ausübte. Kellers Haltung zur demokratischen Bewegung war wesentlich geprägt von der Irritation durch den neuen politischen Stil. Ein Reflex darauf ist das düstere Bild einer Politik der Verleumdungen und der Hinterzimmerverschwörungen, das Keller in Das verlorene Lachen zeichnet.

Martin Salander nimmt unmittelbar vor seiner definitiven Heimkehr aus Brasilien in einem Brief an seine Frau voller Begeisterung Stellung zu den Dingen, "welche bei Euch zu Hause sich vollzogen haben, diese neue Verfassung" (074.07 f.). Darin kann man eine Anspielung auf die Bundesverfassungsrevision von 1874 sehen. Salander engagiert sich auf Seiten der fortschrittlicheren Kräfte, die sich auch im Roman Demokraten nennen, und denen die Altliberalen gegenüberstehen. Die Weidelich-Zwillinge würfeln die Zugehörigkeit zu diesen beiden Parteien aus. Sie werden, wie später ihr Schwiegervater, ins Parlament gewählt. Dieses trägt im Roman die Bezeichnung Großer Rat, die im Kanton Zürich von den Demokraten durch "Kantonsrat" ersetzt wurde, in den meisten übrigen Kantonen der Schweiz jedoch in Gebrauch blieb. Louis Wohlwend versucht sich als Privatmann im Konzipieren einer Verfassung, die allerdings nicht der Idee der Demokratie, sondern des Gottesstaates verpflichtet ist (329.06-330.17).

 

Wirtschaftsboom

 

Neben den politischen Rechten hatten die Liberalen auch die Erweiterung des wirtschaftlichen Spielraums des einzelnen angestrebt. Die politische Neuordnung der Schweiz nach 1831 trug zur wirtschaftlichen Prosperität bei, die jedoch ältere Wurzeln hatte. Unter den baumwollverarbeitenden Ländern Europas stand die Schweiz Ende des 18. Jahrhunderts hinter England an zweiter Stelle. Innerhalb der Schweiz konzentrierte sich die Baumwollindustrie auf den Kanton Zürich. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein blieb die Baumwollspinnerei die führende Wachstumsbranche, von der andere Sektoren der Textilwirtschaft (Weberei, Seidenindustrie), aber auch die Maschinenindustrie entscheidende Impulse empfingen. Wachstum und Industrialisierung in der Textilproduktion zogen Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft ab. Dabei wechselten Aufschwungphasen (1850-1863, mit kurzen Einbrüchen) mit Phasen der Stagnation oder der Krise ab. Eine kürzere Aufschwungphase Anfang der 1870er Jahre (im Gefolge der deutschen Reichsgründung) stand dann im Zeichen des Eisenbahnbaus als neuem Impulsgeber. Verschiedene staatlich subventionierte private Bahngesellschaften konkurrierten beim Ausbau des Streckennetzes, dessen Festlegung immer wieder für politischen Zündstoff sorgte. Im Kanton Zürch standen sich die Nordostbahngesellschaft unter der Führung Alfred Eschers (1819-1882) und die Gesellschaft der Nationalbahn gegenüber; diese baute unter dem Einfluß von Winterthurer Exponenten der demokratischen Bewegung an einer Bahnverbindung zwischen dem Bodensee und dem Genfersee, die Zürich und Bern umfahren sollte. 1871 wurde, auf Initiative Eschers, die Gotthardlinie in Angriff genommen und 1882 dem Verkehr übergeben. 1871 konnte auch der neue, repräsentativ ausgestattete Zürcher Hauptbahnhof eingeweiht werden. Die Euphorie fand spätestens 1878 mit dem millionenteuren Zusammenbruch der Nationalbahn ein Ende. Escher, Zentralgestalt des Zürcher Wirtschaftsliberalismus und einflußreicher eidgenössischer Parlamentarier, hatte 1855 sein Amt als Zürcher Regierungsrat aufgegeben, um sich vermehrt seinen wirtschaftlichen Aktivitäten widmen zu können. 1856 gründete er nach dem Vorbild des französischen Crédit Mobilier die Schweizerische Creditanstalt ("Crédit Suisse"). Zwischen 1850 und 1870 gab es eine Vielzahl weiterer Bankgründungen. Sie kamen den mannigfachen Anlage- und Kreditbedürfnissen entgegen, welche die rasche wirtschaftliche Entwicklung mit sich brachte. Immer mehr Menschen zogen in die Städte (Zürich, Winterthur), die rasch wuchsen und ihr Gesicht veränderten.

Aus Berlin in die Schweiz zurückgekehrt, die er seit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1848 nicht mehr gesehen hatte, konstatierte Keller 1856 unter seinen Landsleuten die leidenschaftlichste Geld- und Gewinnsucht. Die Irritation darüber fand ihren Niederschlag in einer Serie von Zeitungsartikeln (Randglossen 1861), die Keller im März 1861 veröffentlichte und die später zu den Anfangssymptomen der demokratischen Bewegung gerechnet wurden. Keller nahm darin auch kritisch zur Kinderarbeit in der Baumwollindustrie Stellung,161 einem Thema, das er, wie den ganzen Bereich der Industriearbeit, sonst mied. Das Milieu der Textilfabrikanten stellte Keller in der letzten Seldwyla-Novelle Das verlorene Lachen dar, an welche er bei der Planung des Martin Salander anzuknüpfen gedachte. Als der Roman endlich vollendet war, legte Keller das erste Honorar für die Buchausgabe in "bescheidenen Obligationen" der Gotthardbahn an.

Martin Salander, der Bauernsohn, steigt in die Textilindustrie ein, nachdem er das Lehrerseminar besucht und im Schuldienst gearbeitet hat. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Freundes Louis Wohlwend bringen ihn um sein Vermögen, das er darauf als Kaufmann zurückgewinnt, indem er Textilerzeugnisse und Strohwaren nach Brasilien exportiert und Kolonialwaren von dort in die Schweiz importiert. Unterlegt man Salanders fiktiver Biographie die Chronologie der Zeitereignisse, so fallen seine Brasilienjahre genau mit der Zeit der wirtschaftlichen Depression zwischen 1863 und 1871 zusammen. - Schon bei seiner ersten Rückkehr nach Münsterburg konstatiert Salander "das bedenkliche Umsichgreifen der Baulust" (242.26). Einer der Neubauten - er ist mit einer Winkelried-Darstellung geschmückt - beherbergt ein junges Finanzinstitut, die Firma Schadenmüller und Comp. (048.06). Der ebenfalls neu erbaute Bahnhof erscheint Salander als Symbol des "rastlosen Lebens" (163.28), so daß er erwägt, ihn zum Schauplatz der Hochzeitsfeier seiner Töchter zu machen. (Von der Eisenbahn ist auch sonst oft die Rede. Verbesserte Eisenbahnverbindungen bringen es mit sich, daß das Ehepaar Weidelich den Kontakt zu seinen Söhnen verliert, weil diese auch während der Großratssessionen zum Übernachten heimkehren können.) Das Wort "Verkehr" dient als Schlüsselwort zur Charakterisierung der modernen bürgerlich-kapitalistischen Leistungs- und Wachstumsgesellschaft. Salander will die gesicherte Lehrerexistenz aufgegeben haben, um mitten im Verkehr zu stehen und "an Freiheit und Fortschritt zu partizipieren" (018.21-23). Wohlwend, der am Schluß des Romans Münsterburg mit einem "Blitzzug" (354.08) verläßt, erklärt, daß er mit seinem wirtschaftlichen Zusammenbruch das Martyrium unseres Jahrhunderts antrete als "Opfer des Verkehrs, des Kampfes ums Dasein" (064.08-10), womit er an Gemeinplätze der Darwinschen Theorien anknüpft, die Salander in einem "selektions-theoretischen Volksunterricht" (317.04) auch den Schülern zugänglich machen möchte.

 

Krisen und Skandale

 

Die enormen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, welche Gottfried Keller mitverfolgen konnte, zeitigten destabilisierende und desintegrative Wirkungen, die besonders markant in Erscheinung traten, als die Wirtschaft im Gefolge des Börsenkrachs von 1873 von einer langwierigen Krise erfaßt wurde, der 'großen Depression', die bis in die Mitte der 90er Jahre anhielt. Die Zahl der Konkurse stieg zwischen 1875 und 1880 sprunghaft an. Diese Krise traf erstmals und nachhaltiger als die übrige Wirtschaft auch den Agrarsektor. Viele Landwirte hatten sich zuvor zu stark verschuldet und mußten nun ihre Betriebe unter dem Wert verkaufen, weil sie die gestiegenen Hypothekarzinse nicht mehr bezahlen konnten. Die Notariatskanzleien hatten die entsprechenden Schriftstücke auszufertigen. 1881 wurden kurz nacheinander zwei Notare - im Kanton Zürich handelte es sich um Staatsbeamte, die seit der demokratischen Verfassungsreform vom Volk gewählt wurden - betrügerischer Amtsführung überführt. 164 Notar Theodor Koller aus Thalwil stand der liberalen Partei nahe, während Notar Karl Rudolf aus Dielsdorf, der sich einer Verhaftung vorerst mit der Flucht ins Ausland entzog und seinen Abschiedsbrief mit den Worten beschloß, "Ich verlasse nun dieses kleine Land der Korruption", Demokrat war. Gegenstand eines Skandals anderer Art war 1878 die Leitung der kantonalen Irrenanstalt Burghölzli geworden, in die sich Prof. Eduard Hitzig als leitender Arzt und Jakob Schnurrenberger als Verwalter teilten. In der Presse wurde bald der eine, bald der andere heftig attackiert, wobei Hitzig, der schließlich demissionierte und nach Deutschland zurückkehrte, auch antisemitische Anrempelungen nicht erspart blieben.

Die Pressekampagne gegen Eduard Hitzig scheint Gottfried Keller besonders erregt und einen alten, einst von den Locherschen Pamphleten angestachelten Zorn erneuert zu haben (vgl. das 1878 entstandene Gedicht Die öffentlichen Verleumder). Im Dezember 1878 verfaßte Keller im Einvernehmen mit Freunden ein Flugblatt, in dem Hitzig der Respekt und das Bedauern über die Vorfälle ausgedrückt werden. Keller verwendete zur Charakterisierung der gesellschaftlichen Zustände und der sie beherrschenden Mentalität, die er in seinem Romanprojekt darzustellen plante, während der Vorarbeiten harte Worte wie Corruption, sittl Verfall des Volksstaates", oder "Unredlichkeit und Pflichtvergessenheit [...] verkommende Gesellschaft" (Paralipomena 2, 3). Die ganze Ausarbeitungszeit des Romans fiel in den Zeitraum der'großen Depression', die 1887, im Erscheinungsjahr des Martin Salander, ihren Extrempunkt erreichte.

Während Louis Wohlwend in Martin Salander sich als Privatunternehmer kriminelle Geschäftspraktiken zu Schulden kommen läßt, mißbrauchen Julian und Isidor Weidelich ein öffentliches Amt für ihre Betrugsgeschäfte. Wohlwend wird vom Privatgelehrten Arnold Salander, die Zwillinge dagegen werden von der Justiz überführt. Wie die Betrüger vorgehen und was an weiteren Vergehen im Roman geschildert wird, scheint auf direkte Weise von den Tagesereignissen, die Keller in den Zeitungen verfolgen konnte, inspiriert zu sein. Wie sehr die Skandale in Münsterburg zur Alltäglichkeit geworden sind, wird durch die Aufzählung der Wirtschaftsdelikte verdeutlicht, die an den Tagen einer einzigen Woche aufgedeckt werden (270.11-271.10).

 

Die Schweiz und das Ausland - Emigration und Immigration

 

Trotz wirtschaftlichen Aufschwungs blieb die Schweiz, wie die Jahrhunderte zuvor, auch noch im 19. Jahrhundert weitgehend ein Auswanderungsland, das nicht in der Lage war, die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Die meisten Auswanderer stammten aus der ländlichen Unterschicht; ihnen stand namentlich in Nordamerika, aber auch in Brasilien eine ungewisse Zukunft bevor. Weniger risikoreich war die Auswanderung für gut ausgebildete Berufsleute, für Käser, Konditoren, Erzieherinnen oder Kaufleute. Viele von ihnen reisten mit der Absicht ab, später zurückzukehren. Gleiches galt für jene, die zu Ausbildungszwecken ins Ausland gingen. Erst als in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine florierende Bauindustrie einen immer größeren Anteil an Arbeitern im Ausland, vor allem in Italien, rekrutierte, überstieg die Zahl der Einwanderer erstmals diejenige der Auswanderer. Indessen war die Zahl der Deutschen, die in den Städten der deutschen Schweiz, namentlich in Zürich lebten, im Lauf des 19. Jahrhunderts kontinuierlich angestiegen. Diese Emigranten spielten in der Wirtschaft, aber auch im Geistesleben und im Bildungswesen eine wichtige Rolle. Daß der scheinbar so wohlgelittenen, großen deutschen Kolonie in Zürich doch auch einiges Mißtrauen entgegengebracht wurde, bewiesen die äußerst gewalttätigen Ausschreitungen, welche die Siegesfeier nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 in der Zürcher Tonhalle provozierten ('Tonhallenkrawall'). Zu einem Zeitpunkt, als auch viele französische Militärpersonen in der Schweiz interniert waren (Bourbaki-Armee), erschien die Feier als Provokation. Die unerwartete Mobilisationskraft der Unruhen machte zudem deutlich, daß die durch die Modernisierung der Gesellschaft geschaffenen Antagonismen zu gewalttätigen Entladungen führen konnten. Daß man als Schweizer in Brasilien rasch zu Geld kommen, es aber auch rasch wieder verlieren konnte, führte das Beispiel des Kaufmanns Ferdinand Schmid (1823-1888) vor Augen, der unter dem Pseudonym Dranmor ein sehr erfolgreicher Lyriker war.

Gottfried Keller, der fast zehn Jahre in Deutschland gelebt hatte, stand in Zürich immer mit Deutschen in gesellschaftlichem Kontakt. Im sogenannten 'Savoyerhandel' (1860), als Frankreich durch die Angliederung Savoyens den Protest der Schweiz provozierte, trat er für ein militärisches Vorgehen gegen das Frankreich des ihm verhaßten Napoleon III. ein. Eine nach den Tonhallenkrawallen immer noch gereizte Atmosphäre dürfte dafür verantwortlich gewesen sei, daß Keller sich für einen als zu deutschfreundlich taxierten Trinkspruch, den er auf der Abschiedsfeier für einen nach Straßburg berufenen deutschen Professor ausbrachte, öffentlich rechtfertigen mußte.

Der weitgereiste Salander stellt bei seiner Rückkehr aus Brasilien fest, daß sich die geopolitische Lage der Schweiz nach der italienischen und der deutschen Einigung verändert habe: "Rings um uns hat sich in den großen geeinten Nationen die Welt wie mit vier eisernen Wänden geschlossen" (074.17f.). Der Weitsicht des Titelhelden steht die Borniertheit der Weidelich-Zwillingen oder der Söhne des ehemaligen Großrats und Textilindustriellen Kleinpeter gegenüber, die "seit dem Verlassen der Schulen nicht vom Fleck zu bringen gewesen, um etwas von der Welt zu sehen und zu lernen" (195.13-15). In selbstgefälligen Reden stellt ein Schweizer Handwerker, der, wie Napoléon III., einen "Schnurr- und Kinnbart nach französischem Zuschnitt" (078.01) trägt, die Schweiz mit ihren ausgebauten Volksrechten über alle andern Länder und hänselt dabei einen Deutschen. Dieser chauvinistischen Haltung steht diejenige Arnold Salanders gegenüber, der, bezeichnenderweise in französischer Sprache, konstatiert, es sei doch "chez nous comme partout" (342.10 f.).

 

Festkultur

 

Bei der Verbreitung und Konsolidierung liberalen Gedankengutes spielten kantonale und eidgenössische Sänger-, Turner- und Schützenfeste eine bedeutende Rolle. Nach 1848 erwuchs daraus ein nationales Festleben, das zur politischen Integration der Eidgenossenschaft, die 1847 noch in zwei Blöcke gespalten war, beitrug. Die sportlichen oder sängerischen Aktivitäten gewidmeten Feste wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte an Pomp durch reine Repräsentationsanlässe übertroffen, welche weniger auf eine politische Zukunft als eine heroische Vergangenheit ausgerichtet waren. Ein Fest dieser Art war 1886 (im Erscheinungsjahr von Martin Salander) die Jubelfeier zum fünfhundertsten Jahrestag der Schlacht von Sempach. Dabei wurde des legendenhaften Helden dieser Schlacht, Arnolds von Winkelried, gedacht, der sich in die Speere der Österreicher gestürzt und so seinen Truppen den Sieg ermöglicht haben soll. Bei der Feier in Sempach wurde erstmals auch ein aufwendiges Festspiel aufgeführt: Den nationalen traten damit die kulturellen Ambitionen an die Seite, die sich vorher schon bei den Schiller- und Beethoven-Jubiläen (1859 und 1870) manifestiert hatten.

Keller nahm am liberal-nationalen Festleben regen Anteil. Immer wieder steuerte er dazu Festgedichte bei. Im Grünen Heinrich von 1854/55 trifft der Held auf das Basler Schützenfest von 1844, und im Fähnlein der sieben Aufrechten steht ein Schützenfest im Zentrum. Auch die Vision eines schweizerischen Nationaltheaters, die Keller in seinem Aufsatz Am Mythenstein breit ausmalte, hatte die eidgenössische Festkultur zur Grundlage. In der Novelle Das verlorene Lachen werden in der Darstellung eines Sängerfestes auch Dissonanzen laut.Während der Vorarbeiten zu Martin Salander scheint Keller sich über seine fast lebenslange Teilhabe an der Festkultur Gedanken zu machen, wenn er notiert: "Der Autor stellt sich anläßlich des Festschwindels (Schulreisen etc.) selbst dar als büßenden Besinger und Förderer solchen Lebens".

Martin Salander ist von der liberalen Festtradition so durchdrungen, daß er die Hochzeit seiner Töchter als ein Fest von öffentlichem Charakter inszeniert. Die Schilderung dieser Hochzeitsfeier mit all ihren Peinlichkeiten bildet die Mitte des Romans.180 Später irritiert Salander "die ungeheure Zahl größerer und kleinerer Feste, Anlässe, Gesamtreisen, Vereinsausflüge und Begehungen aller Art (266.06-08), und er wird in einem Festzelt Zeuge der Verhaftung eines Betrügers" (268.03-269.09). Er drängt seine Töchter dazu, in einem Chor mitzusingen (108.30-109.09). Gemeinsamem Singen, allerdings im privaten Raum, huldigen schließlich auch Arnold Salander und seine Freunde (352.07-10).

In der hier vorgelegten, nach thematischen Komplexen geordneten Skizze der historischen Hintergründe, die für Gottfried Kellers Martin Salander von manifester Bedeutung sind, wurden nur Romanpassagen verzeichnet, welche auf diese Hintergründe expliziten Bezug nehmen. Dies soll indessen nicht den Eindruck erwecken, daß der Roman lediglich mit solchen punktuellen und expliziten Anspielungen auf lediglich konkret faßbare Zeiterscheinungen reagiert. Besonders eher unterschwellige Zeitphänomene können auch auf indirekte, bildhafte Weise zur Darstellung gebracht werden und scheinen sich in bestimmten, auffälligen Aspekten der Romanstruktur wie etwa den Wiederholungen oder der Personenkonstellation zu spiegeln.