Gottfried Keller

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Aufsätze zu Kellers Leben und Werk

Peter Villwock:
Betty und Gottfried, eine Geschichte in Bildern

Überarbeitete Version eines Beitrags in Der Rabe (2000), S. 150-162

 

BETTY BETTY, Bettybettybettybettybetty..., Bettibettibettibettibetti..., tibetti tibetti, Bbettyttybetti, Bethly, Bethely, Bettly Bettly..., Bettchen? Bettchen?..., Betty bitte! bitte Betty!..., BBBBBBBBBBetty..., bittre bittre schöne süße Zeit, bittere Kräuter, Bitterlichkeiten..., [in Spiegelschrift: liebe Betty! Betty liebste schönste beste!...,] B B B etc. pp. ad infinitum -

der Text der gemeinhin so genannten 'Berliner Schreibunterlage' Gottfried Kellers, Dokument seiner unerfüllten Leidenschaft für Betty Tendering, ist bekannt genug. Ist er bekannt (genug)? Ist es ein Text? Was für ein Text?

   

Läßt man sich ein auf den großen, blauen, einmal gefalteten Papierbogen, den Keller im Frühjahr 1855 in Berlin auf allen vier 'Seiten' in allen Richtungen aus allen Perspektiven mit allen Mitteln vollschrieb und -zeichnete, beginnt der Boden zu schwanken. Ist es überhaupt eine Schreibunterlage? Was wurde auf ihr (nicht) geschrieben? Wie vermitteln sich Leben, Schreibunterlage und Schreiben? Warum bewahrte Keller das nach seinem Tod als Ms. GK 8 b in der Zentralbibliothek Zürich archivierte Dokument einsamer Vergeblichkeit ein Leben lang auf? Was 'bedeutet' der Wirbel der Zeichen, Zahlen, Worte, Bilder? Ist es ein psychologisches, psychiatrisches, biographisches, literarisches, künstlerisches Dokument? écriture automatique, Triebabfuhr, kolossale Kritzelei à la Heinrich Lee, chinesischer Tempel à la Veit/Emanuel (in den "Drei gerechten Kammmachern"), Parergon, Paralipomenon, Palimpsest, dispositif, différance, désir, Prätext, Metatext, Subtext, Werk? Wie lesen? Was lesen?

   

Als kleiner Beitrag zu einer gründlichen Lektüre des Ganzen soll hier eine der vier Seiten im Hinblick auf ihre Ikonologie betrachtet werden (eine vollständige kommentierte Transkription ist im Rahmen der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe in Vorbereitung). Die reale Chronologie der Eintragungen kann dabei im einzelnen nicht rekonstruiert werden; immerhin scheint klar, daß es sich um die als erste gefüllte Seite handelt. Im Unterschied zu den bisherigen frei assoziierenden Beschreibungen soll der Blick dabei wenigstens einem topographischen 'System' folgen: der Spirale, gegen den Uhrzeigersinn von innen nach außen führend. Diese Konstellation - viele andere sind denkbar! -, dieses 'astronomische' Muster wird dem Wirbel der ausgedrückten Gehalte zumindest nicht ganz fremd sein.

   

Am Anfang, im Zentrum steht die Selbstzensur. Während sonst auf dem ganzen Blatt alles 'gilt', ist hier das unter dem (lesbar bleibenden) Namen Stehende sorgfältig unkenntlich gemacht. Die Obsession dieses intimen und indiskreten, geschwätzigen und nichts sagenden Werkes wächst nicht aus dem Schweigen, sondern aus der Zurücknahme, nicht aus dem Ausdruck, sondern aus der Unterdrückung der Rede. Selbstdurchstreichung, unlösbar, unlesbar. Die Frage an Betty (nach ihren Verehrern? nach dem Publikum in ihrem Kasperltheater?) bleibt unbeantwortet. Einer jedenfalls macht sich zum Zuschauer, Verehrer, Narren und will es nicht zeigen (wie Pankraz vor Lydia). Das Theater beginnt trotzdem.

   

Ein Haus, hinter Bäumen und Bäumchen, von einer Mauer umgeben und halb verborgen. Auf einer Stange weithin sichtbar ist darüber ein sechszackiger (ungeschweifter) Leit-Stern befestigt. Das an gleicher Stange darunter angebrachte, etwas windschiefe Kompaß-Kreuz bietet Orientierung in alle Richtungen (ein verlorener Kompaß war einmal Anlaß einer Verstimmung zwischen Keller und Betty Tendering geworden: vgl. Kellers Brief an Lina Duncker vom 6.3.1856). Die Bildregie führt den Blick zum Eingang des Anwesens "Betti". Die Tür ist verschlossen und ohne Klinke; das Fenster in der Mauer daneben ist vergittert. Ob hinter dem Haus der Zugang offen wäre (wie bei Dortchen Schönfund oder bei Lucie im Sinngedicht), ist nicht zu sehen. Man steht draußen.

   
 

   

Im Haus: ein Frauenzimmer (ohne Tisch oder Bett) im Bauernbarock; die schmucken Möbel sind allesamt mit "Betti" bezeichnet und allegorisiert. Schränkchen und Kommode haben große schwarze Schlüssel-Löcher; ein Schlüssel fehlt. Auf dem Schrank ein Krug und eine Vase mit Blume und hochragender Pfauenfeder; über der Kommode zwei Bilder an der Wand und eine Uhr, auf der ein kleiner weißer Vogel sitzt. Das heftig schlagende Pendel (die einzige Bewegung im Bild) zeigt das Vergehen der Zeit an. Durch das offene Fenster - der Fensterflügel ist nach innen geöffnet! - sieht man nach draußen auf einen Kirchturm hinter Bäumen; im Fensterrahmen hängt, abgewendet von dem weißen, ein schwarzer Vogel im engen Käfig (die Schrumpfform der geplagten traurigen Kreatur, die Pankraz' Heimkehr ankündigt? das von Züs Bünzlin nur sehr ungern weggestorbene Haustier?). Er wurde hier aufgehängt, zwischen drinnen und draußen, von der Freiheit wie von Betty durch Gitterstäbe getrennt. Sie ist abwesend.

   

Im Frauenzimmer, vielleicht an der von den Vögeln aus sichtbaren anderen Wand, Bettys Spiegel, im Rahmen ein Billet von "G. K." Hinter Wand und Spiegel steht ein zweiter, prächtigerer, gekrönter Wandspiegel Bettys, im Rahmen viele weitere Briefchen. Wie der junge grüne Heinrich hinter dem gemalten Zauberspiegel der Faust-Kulissen die "Wirrnis des jenseitigen Lebens", wie hinter den Vexierspiegeln von Züs Bünzlins Veits-Tempel die versteckte Liebeserklärung, so entdeckt man hier hinter dieser zweiten Wand zwischen "Rinnsal" und "Trübsal", Ort (Betty Tendering stammte aus dem Rheinland) und Zahlenreihe einen Schwarm zahlloser "Bettys" (die letzte in Spiegelschrift) - Zeichen verrückter Schwärmerei. Anders als im Faust-Spiel Heinrichs bleibt die "sehr schöne Frau" aber bloße Schrift; wie bei Veits Liebesgeständnis bleibt die Adressatin unerreichbar. Zwischen Wand und Spiegel die verbale Spiegelung der Protagonisten im Wortspiel: "Spiegelinski, Spiegelanski, Spiegelwerk, Vorspiegelung, Spiegelberger, Guckinspiegel". Die Spiegel sind leer.

   

Wieder draußen auf der Straße: ein schlanker, etwas steifer, langhaariger Mann im Gehrock (auch Keller hielt sich in Berlin meist - nicht immer - "still und steif in seinen schwarzen Fräcklein", wie er Freiligrath im Oktober 1855 mitteilte), mit Zylinder und Pfeife, Spazierstock (oder Blindenstock?), halb Bohemien, halb Biedermann - der einzige Mensch in der ganzen Geschichte. Es ist unklar, ob er geht oder steht, ob er "Betty" oder "Trübsal" vor sich hat. Daß ihm sein Mops folgt - Inbegriff und Karikatur der Treue ("der Hund begleitet seinen Herrn durch alle Gefahren und stürzt sich für ihn in das Meer", weiß Züs Bünzlin mitzuteilen) -, macht nur sichtbarer, daß er allein ist.

   

Zurück im Zimmer: groß im Bild ist jetzt eine zweite Pendeluhr, größer und schöner als die erste; ein Herz kennzeichnet sie als Uhr des Gefühls. Das wiederum heftig ausschlagende Pendel hat die Form einer Sonnenblume mit fragenden (erstaunten, traurigen?) Gesicht. Die Gewichte hängen unten über den Rand des Blattes hinaus. Auf der Uhr über dem gemalten Herzen, dort, wo auf der anderen Uhr das weiße Vögelchen saß, ist eine Alarmglocke mit zwei Hämmerchen angebracht. Auf der Glocke ist ein "B" eingraviert.

     

Noch näher herangehend, rückt die Glocke ins Zentrum, in dreifacher Ausführung mit Hämmerchen, (bereits schwingendem) Klöppel und Hammer, als Wecker und als Kirchturmglocke. Die sich stellende Frage ist: wann geht der Alarm los, der den 'gefrorenen Christen' weckt (das Silesius-Distichon des grünen Heinrich findet sich - mit der Abweichung "Wach auf ..." statt "Blüh' auf ..." - an anderer Stelle auf dem Blatt), und was wird ihn auslösen? Die an Betty gestellten Fragen sind: "Bettchen? Bettchen? Rheinländerchen? Was schlägt die Glocke?" Das unberechenbare "Aprilwetter!" des "Aprill 1855" läßt alle Möglichkeiten offen ("Ich sah schon oft es blitzen / Doch solch' ein Wetter nie!" heißt es anderswo auf dem Blatt). Noch näher heran kommen wir nicht, weder ins Innere des Herzensuhrwerks noch an eine Antwort.

     
 
     

Die Geschichte kann hier kein Ende haben. Sie geht weiter, indem das sichere Ende jeder Geschichte ins Bild kommt. Was wie ein Stilbruch vom biedermeierlichen Realismus der Herzensmechanik zum barocken memento mori aussieht, ist die gleiche Geschichte: am sechszackigen Stern über dem tanzenden (auf den Betrachter zugehenden?), fiedelnden Skelett ist es zu erkennen. Der Stern, der über dem Tod ebenso wie über der prächtigen Blume steht, zeigt wie die "Nachtigall" an: es ist Nacht, aber es besteht Hoffnung. Der "schöne Stern" kann Geliebte und Lebensstunde bedeuten: "die letzte die Beste! die letzte die Beste!" Am 9. Mai 1855 schrieb Keller seinem Freund Hettner (auf dieser Unterlage?), daß er "gegenwärtig etwas erlebe, was einem heitern und schönen Stern zu gleichen" scheine; es gehe ihm "vielleicht nur durch die Misere und Verbitterung verloren".

Der Tod stellt sich auch als kleines, unbehütete Sensenmännchen mit spärlich-wirrem Haar in Positur und setzt einem erbaulichen Bilderrätselgedicht im Volksliedton ein Ende:

 

Treu im Herzen nimm dir für
Treu für Treu verschreib ich dir
Treu nimm allzeit wohl in acht
Treu bei zwei Vergnügen macht.
Treu besieget Kreuz und Not
Treu für Treu bis in den Tod

 

   

An die Sense am Ende dieses knüpft der Anfang eines anderen Gedichtes an: "Eine goldene Aehre / sank von scharfer Sichel". Es wird nicht ausgeführt, weil es damit schon am Ende ist.

Ein drittes Skelett: Freund Hein mit Cello und Clownsmütze unter Bettys Stern, durch Selbstbeschimpfung als Selbstporträt Kellers gekennzeichnet: "Gottfried Thränenberger / Thränenmeyer / der Thränenmeier / Herr Gottfried Thränensimpel", etwas darunter noch "Thränenmeister". Was gespielt wird, ist unklar: vielleicht das links davor notierte Volkslied "Lachen das ist ein schweres Ding / leichter ist's Weinen" oder die darüber zitierten Zeilen von Goethes Harfner: "Wer nie sein Brod mit Thränen aß / und nie die kummervollen Nächte" oder das rechts bis zum Rand reichende Gedicht "Sterne gehen auf Sterne gehen unter / und die Welt bleibt immer munter / nur meine Augen schließen sich" oder das darunter stehende "wohl 24 Stunden lang / von einem Tag zum andern / so werden draus die Wochen / aus Wochen werden Monde / aus Monden dann die Jahre / und ist ein Jährchen erst vorbei / so ist das Herze wieder frei - / frei wie der kühle Tod." - alles wenig verheißungsvoll.

 

Die Fortsetzung folgt auf dem Kopf stehend. Die Umkehrung geschieht schreibend: Bitte, Betti, wende das Blatt!

     

Drei Lyren: die zweite leer, die erste einfach, die dritte - direkt unter dem "Himmel" der drei "B" (der 'treuen Betty') - doppelt apotropäisch geschützt durch das Jesus-Wort "noli me tangere". Die Öffnung des Resonanzkörpers ist das Herz. Als Vrenchen von einem vergoldeten, "wie eine Lyra mit Saiten bespannten" Lebkuchenherzen den Spruch abliest "Mein Herz ist wie ein Zitherspiel, rührt man es viel, so tönt es viel!", glaubt Sali sein eigenes Herz klingen zu hören. Aber auch Züs Bünzlin trägt auf ihrem Sonnenschirmchen eine große Lyra aus Elfenbein ... Was wird hier gespielt? Romeo und Julia? Dietrich und Züs? Ein Himmelsgesang? Oder das alte Lied? - Die über das Herz gespannten Saiten bleiben ungerührt, das Instrument stumm: "traurig, traurig".

   

Merkwürdige abstrakte Linien - ein doppelt geknicktes, an den Anfang zurücklaufendes Linienmuster? sich verdoppelnde Notenlinien? zwei sich trennende (oder zusammengespannte?) Saitensysteme? Jedenfalls: die Linien bleiben leer, die Saiten stumm - nicht einmal die einsame Not(e) von vorher darf noch erklingen. Es gibt nichts zu singen, weder für eine noch für zwei Stimmen: "Alle Lieder sind ein leerer Schall / Alle Lieder sind ein Schall / Wenn der Teufel los ist." Es verschlägt einem die Sprache vor dem "schönen Teufel" "Bettibetty".

   

Der Weg führt zu eine romantisch überwachsenen Mauer, in der ein schmiedeeisernes, verschlossenes Gittertor ohne Griff und Klinke die Besitzerin anzeigt: "Betty", "BT". Dahinter liegt ein blühender Park (Vorbild war vielleicht der Park der Familie Duncker in Berlin, bei der Betty wohnte), hortus conclusus und Pardiesgärtlein. Am Ende steht man dort, wo man am Anfang schon war: draußen.