Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA)        GG_03
 

Gesammelte Gedichte

III.

Sonette.

 
069 Der Schulgenoß.

Wohin hat dich dein guter Stern gezogen,
O Schulgenoß aus ersten Knabenjahren?
Wie weit sind auseinander wir gefahren
In unsern Schifflein auf des Lebens Wogen!

Wenn wir die Untersten der Klasse waren,
Wie haben wir treuherzig uns betrogen,
Erfinderisch und schwärm'risch uns belogen
Von Aventuren, Liebschaft und Gefahren!

Da seh' ich just, beim Schimmer der Laterne,
Wie mir gebückt, zerlumpt ein Vagabund
Mit einem Häscher scheu vorübergeht –!

So also wendeten sich unsre Sterne?
Und so hat es gewuchert unser Pfund?
Du bist ein Schelm geworden – ich Poet!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

070 Vier Jugendfreunde. I.

Du, der so lang im Herzen mich geborgen,
Mit allen meinen grämlichen Gebrechen,
Mit meinen hastig immer neuen Schwächen,
Mit allen meinen wunderlichen Sorgen,

Die Hand vergessend botest jeden Morgen,
Wenn ich die Nacht vorher mit blindem Stechen,
Mit ungerechtem oder bittrem Sprechen
Dir schnitt ins Herz, so treu und unverborgen;

Nicht um zu spähn nach Tadel oder Lobe,
Will ich dir diese Lieder übersenden,
Eh' unsre Jugendtage ganz erblassen:

Nein, nur zur letzten schwersten Freundesprobe!
Ich muß mich gegen deinen Glauben wenden –
Wirst du mich darum endlich doch verlassen?


 Gesammelte Gedichte / Sonette

071 Vier Jugendfreunde. II.

Ich sehe dich mit lässig sichrer Hand
Die Schulterlinien einer Göttin schreiben,
Dazu den Hohn um deine Lippen treiben:
«'s ist nichts dahinter!» oder «eitler Tand!»

Seh' dich zuhinterst an der Schenke Wand
Bis Mitternacht bei den Gesellen bleiben;
Dein Schwarzaug' sucht des Witzes breite Scheiben,
Jedoch dein schöner Mund des Bechers Rand.

Du schlenderst heim, ein leichtes Liedchen pfeifend,
Drückst in die Kissen deine dunklen Locken,
Bald steigt im Traum dir neuer Schwank empor.

Zeigt er dir mich, in wachen Träumen schweifend,
Begeistert über hundert Büchern hocken?
Schon schwirrt dein Traumgelächter mir im Ohr!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

072 Vier Jugendfreunde. III.

Da liegt vor mir dein unglücksel'ger Brief,
Und weder Rat, noch Hülfe seh' ich winken;
Schwer ist das Aufsteh'n wohl nach solchem Sinken
Du aber, Freund, du sankest fast zu tief!

Der Lenz, der dich von Blum' zu Blume rief,
Erloschen ist jetzt seiner Sonne Blinken;
Den du so sinnlos hastig mußtest trinken,
Siehst du, was auf des Bechers Grunde schlief?

Ich aber steh' in Ohnmacht, in der Ferne,
Und fluch' der Kraft, die dich von mir getrieben
Die nur zu wirren weiß und nie zu lösen.

Am Ende preis' ich meine dürft'gen Sterne;
Im Guten träge und zu blöd' im Bösen,
Bin ich ein stilles Kind im Land geblieben!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

073 Vier Jugendfreunde. IV.

Ans Fenster schlägt ein unerschöpfter Regen,
Her rauscht die Mitternacht auf feuchten Schwingen,
Und mit dem Dunkel muß das Lämplein ringen –
Wie bin ich müd', ich will zu Bett' mich legen!

Was sinn' ich noch zu meinem Abendsegen? –
In meinem Ohre summt ein leises Klingen
Und wiederhallet ein verscholl'nes Singen:
Mein denket Einer auf entfernten Wegen.

Bist du's, o Freund? Auch ich gedenke dein!
Sei mir gegrüßt im unsichtbaren Raume
Nach Jahren voll Vergessenheit und Leiden!

Bei uns'rer Jugend bleichem Sternenschein
Seh'n wir uns flüchtig fragend an im Traume,
Um wieder lang, auf immer wohl zu scheiden.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

074 Ein früh Geschiedener.

Er war geschaffen, durch das All zu schweifen
Mit hellem Mute und gestählten Sinnen,
Zu lauschen, wo des Lebens Quellen rinnen,
Und forschend jeden Abgrund zu durchstreifen.

Hinaus, hinüber, wo die Palmen reifen,
Zog es ihn mächtig jeden Lenz von hinnen;
Von des Planeten höchsten Gletscherzinnen
Gelüstet's ihn, den Aether zu ergreifen.

Er blieb gefesselt an das tiefe Moor
Theologie, die Notdurft zu erwerben,
Im Nacken hart der Armut scharfe Klauen.

Da öffnet ihm der Tod das Sonnenthor,
Der Jüngling säumte nicht, das Licht zu schauen
Und jungfräulichen Geistes hier zu sterben.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

075 Schein und Wirklichkeit. I.

In Mittagsglut, auf des Gebirges Grat
Schlief unter alten Fichten müd' ich ein;
Ich schlief und träumte bis zum Abendschein
Von leerem Hoffen und verlorner That.

Schlaftrunken und verwirrt erwacht' ich spat;
Gerötet war ringsum Gebüsch und Stein,
Des Hochgebirges Eishaupt und Gebein,
Der Horizont ein sprühend Feuerrad.

Und rascher fühlt ich meine Pulse gehen,
Ich hielt die Glut für lichtes Morgenrot,
Erharrend nun der Sonne Auferstehen.

Doch Berg um Berg versank in Schlaf und Tod,
Die Nacht stieg auf mit frostig rauhem Wehen,
Und mit dem Mond des Herzens alte Not.

 

 Gesammelte Gedichte / Sonette

076 Schein und Wirklichkeit. II.

So manchmal werd' ich irre an der Stunde,
An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit;
Es gährt und tost, doch mitten auf dem Grunde
Ist es so still, so kalt, so zugeschneit;

Habt ihr euch auf ein neues Jahr gefreut,
Die Zukunft preisend mit beredtem Munde?
Es rollt heran und schleudert, o wie weit!
Euch rückwärts. – Ihr versinkt im alten Schlunde.

Doch kann ich nie die Hoffnung ganz verlieren,
Sind auch noch viele Nächte zu durchträumen,
Zu schlafen, zu durchwachen, zu durchfrieren!

So wahr erzürnte Wasser müssen schäumen,
Muß, ob der tiefsten Nacht, Tag triumphieren,
Und sieh: Schon bricht es rot aus Wolkensäumen!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

077 In der Stadt. I.

Wo sich drei Gassen kreuzen, krumm und enge,
Drei Züge wallen plötzlich sich entgegen
Und schlingen sich, gehemmt auf ihren Wegen,
Zu einem Knäu'l und lärmenden Gedränge.

Die Wachtparad' mit gellen Trommelschlägen,
Ein Brautzug kommt mit Geigen und Gepränge,
Ein Leichenzug klagt seine Grabgesänge;
Das alles stockt, es kann kein Glied sich regen.

Verstummt sind Geiger, Pfaff' und Trommelschläger;
Der dicke Hauptmann flucht, daß Niemand weiche,
Gelächter schallet aus dem Freudenzug.

Doch oben, auf den Schultern schwarzer Träger
Starrt in der Mitte kalt und still die Leiche
Mit blinden Augen in den Wolkenflug.

 

 Gesammelte Gedichte / Sonette

078 In der Stadt. II. .

Was ist das für ein Schrei'n und Peitschenknallen?
Die Fenster zittern von der Hufe Klang,
Zwölf Rosse keuchen an dem straffen Strang,
Und Fuhrmannsflüche durch die Gasse schallen.

Der auf den freien Bergen ist gefallen,
Dem toten Waldeskönig gilt der Drang;
Da schleifen sie, wohl dreißig Ellen lang,
Die Rieseneiche durch die dumpfen Hallen.

Der Zug hält unter meinem Fenster an,
Denn es gebricht zum Wenden ihm an Raum;
Verwundert drängt sich alles Volk heran.

Sie weiden sich an der gebrochnen Kraft;
Da liegt entkrönt der tausendjähr'ge Baum,
Aus allen Wunden quillt der edle Saft.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

079 Reformation.

Im Bauch der Pyramide tief begraben
In einer Mumie schwarzer Totenhand
War's, daß man alte Weizenkörner fand,
Die dort Jahrtausende geschlummert haben.

Und prüfend nahm man diese seltnen Gaben
Und warf sie in lebendig Ackerland,
Und siehe da! Die gold'ne Saat erstand,
Des Volkes Herz und Auge zu erlaben!

So blüht die Frucht dem späten Nachweltskinde,
Die mit den Ahnen schlief in Grabes Schoß;
Das Sterben ist ein endlos Aufersteh'n.

Wer hindert nun, daß wieder man entwinde
Der Kirche Mumienhand, was sie verschloß,
Das Korn des Wortes, neu es auszusä'n?


 Gesammelte Gedichte / Sonette

080 Von Kindern. I.

Man merkte, daß der Wein geraten war:
Der alte Bettler wankte aus dem Thor,
Die Wangen glühend, wie ein Rosenflor,
Mutwillig flatterte sein Silberhaar.

Und vor und hinter ihm die Kinderschar
Umdrängt' ihn, wie ein Klein-Bacchantenchor,
D'raus ragte schwank der Selige empor,
Sich spiegelnd in den hundert Aeuglein klar.

Am Morgen, als die Kinderlein noch schliefen,
Von jungen Träumen drollig angelacht,
Sah man den braunen Wald von Silber triefen.

Es war ein Reif gefallen über Nacht;
Der Alte lag erfroren in dem tiefen
Gebüsch, vom Rausch im Himmel aufgewacht.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

081 Von Kindern. II.

Die Abendsonne lag am Bergeshang,
Ich stieg hinan und auf den gold'nen Wegen
Kam weinend mir ein zartes Kind entgegen,
Das, mein nicht achtend, schreiend abwärts sprang.

Ums Haupt war duftig ihm ein Schein gelegen
Von Abendgold, das durch die Löcklein drang.
Ich sah ihm nach, bis ich den Gramgesang
Des Kleinen nur noch hörte aus den Hägen.

Zuletzt verstummte er; denn freundlich Kosen
Hört' ich den Schreihals liebevoll empfangen;
Dann tönt' empor der Jubelruf des Losen.

Ich aber bin vollends hinaufgegangen.
Wo oben blühten just die letzten Rosen,
Fern, wild und weh der Falken Stimmen klangen.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

082 Von Kindern. III.

Ich sah jüngst einen Schwarm von frischen Knaben,
Gekoppelt und gezäumt wie ein Zug Pferde;
Sie wieherten und scharrten an der Erde
Und thaten sonst, was Pferde an sich haben.

Und mehr noch; was sonst diesen ist Beschwerde
Das schien die Buben köstlich zu erlaben;
Denn lustig sah ich durch die Gasse traben
Auf einen Peitschenknall die ganze Herde.

Das Leitseil war in eines Knirpses Händen,
Der, klein und schwach, nicht sparte seine Hiebe
Und launisch das Gespann ließ gehn und wenden.

Wenn nur dies frühe Sinnbild nied'rer Triebe,
Anstatt mit schlimmer Wirklichkeit zu enden,
Einst mit den Kinderschuh'n verloren bliebe!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

083 Jeder Schein trügt.

Ich weiß ein Haus, das ragt mit stolzen Zinnen,
Frei spielt das Licht in allen seinen Sälen,
Sein Giebel schimmert frei von allen Fehlen,
Kein Neider schilt's, nicht außen und nicht innen.

Nur wer es weiß mit Klugheit zu beginnen,
In seine Grundgewölbe sich zu stehlen,
Sieht üppig feuchten Moder dort verhehlen
Von dicken Schlangen wahre Königinnen.

Doch würde der sich auch betrogen haben,
Der rasch empor die Treppen wollte steigen,
Die Feinde mit der Kunde zu erlaben:

Denn tiefer noch, im allertiefsten Schweigen,
Da liegt ein ungehobner Schatz begraben,
Der niemals wird dem Tage wohl sich zeigen.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

084 Winterabend.

Schneebleich lag eine Leiche und es trank
Bei ihr der Totenwächter unverdrossen,
Bis endlich ihm der Himmel aufgeschlossen
Und er berauscht zu ihr aufs Lager sank.

Von rotem Wein den Becher voll und blank
Bot er dem Toten; bald war übergossen
Das Grabgesicht und purpurn überflossen
Das Leichenhemd; so trieb er tollen Schwank.

Die trunken rote Sonne übergießt
Im Sinken dieses schneeverhüllte Land,
Daß Rosenschein von allen Hügeln fließt;

Von Purpur trieft der Erde Grabgewand,
Doch die verblaßte Leichenlippe thut
Erstarrt sich nimmer auf der roten Flut.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

085 Nationalität.

Volkstum und Sprache sind das Jugendland,
Darin die Völker wachsen und gedeihen,
Das Mutterhaus, nach dem sie sehnend schreien,
Wenn sie verschlagen sind auf fremden Strand.

Doch manchmal werden sie zum Gängelband,
Sogar zur Kette um den Hals der Freien;
Dann treiben Längsterwachsne Spielereien,
Genarrt von der Tyrannen schlauer Hand.

Hier trenne sich der lang vereinte Strom!
Versiegend schwinde der im alten Staube,
Der andre breche sich ein neues Bette!

Denn einen Pontifex nur faßt der Dom,
Das ist die Freiheit, der polit'sche Glaube,
Der löst und bindet jede Seelenkette!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

086 Eidgenossenschaft.

Wie ist denn einst der Diamant entstanden
Zu unzerstörlich alldurchdrungner Einheit,
Zu ungetrübter, strahlenheller Reinheit,
Gefestiget von unsichtbaren Banden?

Wenn aus der Völker Schwellen und Versanden
Ein Neues sich zu einem Ganzen einreiht,
Wenn Freiheitslieb' zum Volke dann es einweiht,
Wo Gleichgesinnte ihre Heimat fanden:

Wer will da wohl noch rütteln dran und feilen?
Zu spät, ihr Herrn! schon ist's ein Diamant,
Der nicht mehr ist zu trüben und zu teilen!

Und wenn, wie man im Edelstein erkannt,
Darin noch kleine dunkle Körper weilen,
So sind sie fest umschlossen und gebannt.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

087 Alles oder nichts.

Ja, du bist frei, mein Volk, von Eisenketten,
Frei von der Hörigkeiten alter Schande;
Kein Hochgebor'ner schmiedet dir die Bande,
Und wie du liegen willst, darfst du dir
betten!

Doch nicht kann dies dich vor der Herrschaft retten,
Die ohne Grenzen schleicht von Land zu Lande;
Ein grimmer Wolf in weichem Lammsgewande,
Schafft sie zum Lehn sich all' bewohnte Stätten.

Wenn du nicht völlig magst den Geist entbinden
Von ihres Dunstes tödlicher Umhüllung,
Nicht tapfer um der Seele Freiheit ringen:

So wird der Feind stets offne Thore finden,
All' deinem Werke rauben die Erfüllung,
Und jede Knechtschaft endlich wiederbringen!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

088 Die Tellenschüsse.

Ob sie gescheh'n? Das ist hier nicht zu fragen;
Die Perle jeder Fabel ist der Sinn,
Das Mark der Wahrheit ruht hier frisch darin,
Der reife Kern von allen Völkersagen.

Es war der erste Schuß ein Alleswagen,
Kind, Leib und Gut, an köstlichen Gewinn:
«Blick' her, Tyrann! was ich nur hab' und bin,
Will ich beim ersten in die Schanze schlagen!

«Und du stehst leer und heillos, wie du bist,
Und lässest fühllos dir am Herzen rütteln,
Und spiegelst lächelnd dich in meinem Blut?

«Und immer: Nein? – Verlaufen ist die Frist!
Verflucht sei deines Hauptes ewig Schütteln!
O zweiter, heil'ger Schuß, nun triff mir gut!»


 Gesammelte Gedichte / Sonette

089 Auf die Motten.

«Wo ist ein Volk, so frei von allen Plagen
Die andrer Völker traurig Erbteil sind,
Ein glücklicher nutznieß'risch Heldenkind,
Als unser Schweizervölklein zu erfragen?

«Und doch, wie fiebernd seine Pulse schlagen!
Für seiner Freiheit Ueberfülle blind,
Hascht übermütig es nach leerem Wind,
Wann enden seine undankbaren Klagen?»

So sprechen jene flink gelenken Motten,
Die so gemütlich in dem Rauchwerk nisten,
Dem warmen, köstlichen, und es zernagen.

«Nur eben Euch gilt es noch auszurotten
(So sprechen wir, die radikalen Christen),
Mit lindem Klopfen aus dem Pelz zu jagen!»


 Gesammelte Gedichte / Sonette

090 Die Hehler.

Ihr nennt uns Träumer, Schächer, blinde Thoren,
Wenn redlich wir die Möglichkeit erstreben!
Ja, eure Namen habt ihr uns gegeben,
So merket auf mit hochgehobnen Ohren!

Wir haben uns bescheidentlich erkoren,
Zu lichten dieses dornenvolle Leben;
Ihr laßt verschmachtend uns gen Himmel schweben,
Wo ihr schon lang das Bürgerrecht verloren!

Und wenn die Sterne uns geheim erzählen
Von neuem Leben und Unsterblichkeit,
Was geht das euch denn an zu dieser Zeit?

Braucht ihr darum gestohlnes Oel zu hehlen
Das uns'rer Tage Dämmerung
erhellt,
Indes den Fuß ihr setzt auf diese Welt?


 Gesammelte Gedichte / Sonette

091 Die Goethe-Pedanten.
1845.

«Nur Ordnung, Anmut!» Tönt es immerdar.
Wer spricht von Ordnung, wo die Berge wanken?
Wer spricht von Anmut, während die Gedanken
Noch schutzlos irren mit zerrauftem Haar?

Noch kämpfen wir, durchringend Jahr um Jahr,
Noch thut uns not ein scharf, ob unschön Zanken;
Durch dieses Zeitenwaldes wirre Ranken
Lacht eine Zukunftsau' noch nicht uns klar.

Und Goethe ist ein Kleinod, das im Kriege
Man still vergräbt im sichersten Gewölbe,
Es bergend vor des rauhen Feindes Hand;

Doch ist der Feind verjagt, nach heißem Siege
Holt man erinnrungsfroh hervor dasselbe.
Und läßt es friedlich leuchten durch das Land.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

092 An A. A. L. Follen.
1847.

Nimm diese Lieder, Lobgesang und Klagen,
Wie sie die bunte Jahreszeit gebracht!
Wie mir der Himmel wechselnd weint' und lacht',
Hab' ich die Lyra regellos geschlagen.

Im Sande knarrt der Freiheit goldner Wagen,
Es ist ein müßig Schreien Tag und Nacht;
Betäubt, verworren von der Zungenschlacht,
Zeigt sich der Beste schwach in diesen Tagen.

Uns mangelt des Gefühles edle Feinheit,
So Schwung und Schärfe leiht dem Schwert im Fechten,
Das hohe Wollen und des Herzens Reinheit.

Klar sind sich nur die Schlimmen und die Schlechten,
Sie suchen sich und scharen sich in Einheit,
Entsagend dumpf der Ehre und dem Rechten!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

093 Clemens Brentano, Kerner und Genossen.

«Was sind das für possierliche Gesellen
In weißen Laken und mit Räucherpfannen?
Ob sie nach Schätzen graben? Geister bannen?
Sie lassen sonderbare Töne gellen!»

«Sahst du dem einen rotes Blut entquellen,
Indes dem andern große Thränen rannen?
Sie huschen sacht, gespensterhaft von dannen
Auf dieser Zeiten grundempörten Wellen.»

«Auch scheinen Schild' und Schwerter sie zu tragen,
Von Holz und um die Stirn ein dürr Geflecht
Von Reisig, draus die feinsten Rosen ragen?»

Sie ziehen gen die Sonne ins Gefecht;
Poeten sind's, so laß sie ungeschlagen!
Denn solche, weißt du, haben immer Recht.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

094 Herwegh.

Schäum' brausend auf! Wir haben lang gedürstet,
Du Goldpokal, nach einem jungen Wein,
Da traf in dir ein guter Jahrgang ein,
Wir haben was getrunken, was gebürstet!

Noch immer ragt Zwing-Uri hoch gefirstet,
Noch ist die Zeit ein stummer Totenschrein,
Der Schläfer harrt auf seinen Osterschein –
Zum Wecker bist vor Vielen du gefürstet!

Doch wenn nach Sturm der Friedensbogen lacht,
Wenn der Dämonen finstre Schar bezwungen,
Zurückgescheucht in ihres Ursprungs Nacht:

Dann soll dein Lied, das uns nur Sturm gesungen,
Erst voll erblühn in reicher Frühlingspracht:
Nur durch den Winter wird der Lenz errungen!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

095 Zur Verständigung.

«Du bist ein Schreier, bist ein frecher Prahler,
Ein Drescher mehr auf abgedroschnen Halmen,
Ein Räuchlein mehr in der Empörung Qualmen,
Ein Vielversprecher und ein Wenigzahler!»

Gemach, o du Philisterschwarm, du kahler!
Bei dir nicht such' und find' ich meine Palmen;
Säng' ich, ein David, dir die hehrsten Psalmen,
Sie däuchten durch dein Lob mir so viel schaler.

Ich geb' es zu, ich habe laut geschrieen,
Ein rauhes Echo von geweihtern Tönen,
Und nur die gute Sache mag mich tragen!

Doch ist's mein Herzblut, das ich ausgespieen,
Der Schlachtschrei, der beim Angriff muß erdröhnen,
Auf diesen folgt ein regelrechtes Schlagen!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

096 Den Zweifellosen. I.

Wer ohne Leid, der ist auch ohne Liebe,
Wer ohne Reu', der ist auch ohne Treu',
Und dem nur wird die Sonne wolkenfrei,
Der aus dem Dunkel ringt mit heißem Triebe.

Bei euch ist nichts, als lärmendes Geschiebe,
In wildem Tummel trollt ihr euch herbei,
Meßt aus und schließt den Zirkel sonder Scheu,
Als ob zu hoffen kein Kolumb mehr bliebe!

Euch ist der eigne Leichnam noch nicht klar,
Ihr kennet nicht den Wurm zu euren Füßen,
Des Halmes Leben nicht auf eurem Grab;

Und dennoch kränzt ihr schon mit Stroh das Haar,
Als Eintagsgötter stolz euch zu begrüßen –
Der Zweifel fehlt, der alte Wanderstab.

 

 Gesammelte Gedichte / Sonette

097 Den Zweifellosen. II.

Es ist nicht Selbstsucht und nicht Eitelkeit,
Was sehnend mir das Herz grabüber trägt;
Was mir die kühngeschwung'ne Brücke schlägt,
Ist wohl der Stolz, der mich vom Staub befreit.

Sie ist so eng, die grüne Erdenzeit,
Unendlich aber, was den Geist bewegt!
Wie wenig ist's, was ihr im Busen hegt,
Da ihr so satt hier, so vergnüglich seid!

Und wenn auch einst die Freiheit ist errungen,
Die Menschheit hoch wie eine Rose glüht,
Ihr tiefster Kelch vom Sonnenlicht durchdrungen:

Das Sehnen bleibt, das uns hinüberzieht,
Das Nachtigallenlied ist nicht verklungen,
Bei dessen Ton die Knospen sind erblüht!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

098 Dankbares Leben.

Wie schön, wie schön ist dieses kurze Leben,
Wenn es eröffnet alle seine Quellen!
Die Tage gleichen klaren Silberwellen,
Die sich mit Macht zu überholen streben.

Was gestern freudig mocht' das Herz erheben,
Wir müssen's lächelnd heute rückwärts stellen;
Wenn die Erfahrungen des Geistes schwellen,
Erlebnisse gleich Blumen sie durchweben.

So mag man breiter stets den Strom erschauen,
Auch tiefer mälig sehn den Grund wir winken
Und lernen täglich mehr der Flut vertrauen.

Nun zierliche Geschirre, sie zu trinken,
Leiht, Götter! uns, und Marmor, um zu bauen
Den festen Damm zur Rechten und zur Linken!


 Gesammelte Gedichte / Sonette

099 Erkenntnis.

Willst du, o Herz! ein gutes Ziel erreichen,
Mußt du in eigner Angel schwebend ruhn;
Ein Thor versucht zu geh'n in fremden Schuh'n,
Nur mit sich selbst kann sich der Mann vergleichen!

Ein Thor, der aus des Nachbars Kinderstreichen
Sich Trost nimmt für das eigne schwache Thun,
Der immer um sich späht und lauscht und nun
Sich seinen Wert bestimmt nach falschen Zeichen!

Thu' frei und offen, was du nicht willst lassen,
Doch wandle streng auf selbstbeschränkten Wegen
Und lerne früh nur deine Fehler hassen!

Und ruhig geh' den anderen entgegen;
Kannst du dein Ich nun fest zusammenfassen,
Wird deine Kraft die fremde Kraft erregen.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

100 Eitles Leben. I.

«Geh' auf, o Sonn'! und öffne mir die weiten
Krystallnen Thore dieser weiten Welt!
Mein Sinn ist auf den goldnen Ruhm gestellt,
Zu ihm sollst du mich unaufhaltsam leiten!

Nicht kann uns Hebe reinern Trank bereiten,
Der lieblicher uns in die Seele quellt
Und froher, als der Ruhm, die Adern schwellt
Und sichrer hilft den Abgrund überschreiten!

Der Frauen Gunst vermag er zuzuwenden
Und macht uns leicht dereinst das letzte Scheiden,
Da wir zur Hälfte nur das Dasein enden.

Er läutert besser, als die Glut der Leiden:
Wer wird, bekränzt, mit ungewasch'nen Händen,
Mit Lorbeer und mit Staub zugleich sich kleiden?»

 

 Gesammelte Gedichte / Sonette

101 Eitles Leben. II.

«Seid mir gesegnet, meiner Heimat Gründe,
Die in des Niederganges Röte strahlen!
Glimmt mir die Liebe noch in diesen Thalen,
An der sich neu mein kaltes Herz entzünde?

Nun schließ' ich mit dir ewig feste Bünde!
Kann ich mit einem größern Ruhme prahlen,
Der Nachwelt schöner alle Schulden zahlen,
Als wenn ich deine Treue laut verkünde?

Du wandelst still auf trauten Schattenwegen
Mit keines Schirm's bedürft'gem Schritt, du Reine!
O führe mich Ermüdeten und Trägen!

Und meinen Kranz sollst du in deinem Schreine
Zu abgelegtem Zeug und Bändern legen,
Daß nimmer er vor Augen mir erscheine!»

 

 Gesammelte Gedichte / Sonette

102 Eitles Leben. III.

Seht da den Vogel mit gerupften Schwingen!
Halb flattert er, halb läuft er hin zum Neste,
Sich einzubau'n in weicher Arme Veste,
Wohin kein rauhes Lüftchen mehr soll dringen!

Doch war er frech und mochte Ruhm erringen;
Sein Reisig grünt' und blühte schon aufs beste,
In seinen Schatten lud er stolz die Gäste
Und war so recht ein Thema zum Besingen.

Nur als den Zweig dem freien Feld er raubte,
Aus Luft und Licht, darin er aufgeschossen,
Und sachte mit sich zu salvieren glaubte:

Da war der Traum bald wie ein Schaum zerflossen;
Das Reis verdorrt', das schon so nett belaubte –
Nun zieht er ab, unfertig und verdrossen.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

103 Kriege der Unfreien.

Du tapfres Volk in deinem Löwenzorn,
Wie kühn du schwingst dich über Zaun und Planken,
Voll Wut die Feinde greifst in deinen Flanken
Begeistert aus der Freiheit Feuerborn;

Ein Sankt Georg mit eingedrücktem Sporn
Sie all' zurückwirfst über ihre Schranken,
In großer Heldeneintracht sonder Wanken
Doch tief im Herzen lässest deinen Dorn:

Wie hoch wir um dein Heldenblut dich ehren,
Doch mahnst du uns an jenen närr'schen Tropf,
– Laß' dir's gesagt sein lachend und mit Zähren –

Der, als die Laus ihn biß in seinem Schopf,
Sich gegen solche Plackerei zu wehren,
Mit Ingrimm kratzte auf des Nachbars Kopf.


 Gesammelte Gedichte / Sonette

104 Nach dem Siege.

Laßt rot vor Scham erglühen eure Wangen,
Die ihr mit eurer Reime leerem Beten
Euch anschickt, vor ein tapfres Volk zu treten,
Das eben kommt von That und Sieg gegangen!

Des Trommlers Schlägel, die im Wirbel sprangen,
Der rauhste Tagruf gellender Trompeten,
Sie gelten jetzo mehr, ihr Nach-Propheten!
Als all' eu'r unnütz eitles Versefangen!

Der letzte schlichte Wächter vor dem Heere,
Der, Treu' und Pflicht im Herzen, hat getragen
In kalter Sternennacht die blanke Wehre,

Und jeder, der nur Einen Streich geschlagen,
Ist nun ein König von lebend'ger Ehre –
Was soll ihm unser Singen noch und Sagen?

 

  


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