Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA)        G_04

Gedichte 1846

 

Gedanken eines Lebendig-Begrabenen.

  088 I.

Ei wie das kracht! – Abscheuliches Geroll
Von Schutt und Erde, polternden Gebeinen!
Ich kann nicht lachen und kann auch nicht weinen –
Es nimmt mich Wunder, wie das enden soll!

Nun wird es still. – Sie trollen sich nach Haus
Und lassen mich hier sieben Fuß tief liegen;
Nun, Phantasie! laß' deine Adler fliegen,
Hier schwingen sie wol nimmer mich heraus!

Das ist jetzt eine wunderliche Zeit!
Im dunkeln Grab kein Regen und kein Rühren,
Indeß der Geist, als Holzwurm, mag spazieren
Im Tannenholz – ist das die Ewigkeit?

Die Menschen sind ein lügnerisch Geschlecht,
Sie haben selbst den Erdboden belogen,
Den ernsten Moder schnöd mit mir betrogen –
Weh, daß die Lüge an sich selbst sich rächt!

Die Lügner gehn von hinnen ungestraft,
Ach, aber ich, die Lüge, ich muß bleiben,
Daß sich erboßt der Tod an mir kann reiben,
In Tropfen trinkend meines Lebens Saft!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

  089 II.

Da lieg' ich nun, ohnmächtiger Geselle,
Geschieden von der ganzen, weiten Welt!
Versprengter Tropfen von der Lebensquelle,
Ein Baum, noch grünend, ist er auch gefällt!

Wohlan! ich will, was kommen soll, erwarten;
Still und behaglich ist's im Grabe hier,
Ich fühle nicht die Glieder, die erstarrten;
Doch hell und heiter glimmt die Seele mir.

Hätt' ich nun einen ewigen Gedanken,
An dem man endlos sich erproben mag,
So möcht' ich liegen in den engen Schranken,
Still und behaglich, bis zum jüngsten Tag.

Vielleicht, wer weiß, wüchs' er zu solcher Größe,
Zu solcher Stärke, daß er, ein Vulkan,
Im Flammenausbruch dieses Grab erschlösse,
Vorleuchtend mir auf neuer Lebensbahn.

Wie wundersam, wenn über meinem Haubte
Der Abendthau die matten Blumen kühlt:
Ob wohl, lustwandelnd dann, der Pfarrherr glaubte,
Daß unter ihm ein Wetterleuchten spielt?

Daß, glänzend in des eignen Geistes Strahlen,
Hier unten eine Menschenseele denkt?
Vielleicht sind dieses der Verdammung Qualen:
Heimlich zu leuchten, ewiglich versenkt.

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

090 III.

Ha! was ist das? Die Sehnen zucken wieder,
Wie Frühlingsbronn, quillt auferweckt das Blut,
Es dehnen sich die aufgethauten Glieder,
Und in der Brust schwillt junger Lebensmuth!

Nun ist's geschehn – nun bricht herein der Jammer!
Ich überschau' mein grausiges Geschick!
Ich messe tappend meine Todtenkammer,
Die Späne knirschen unter dem Genick.

Halt' an, o Wahnsinn! denn noch bin ich Meister
Und bleib' es bis zum letzten Odemzug!
So schaaret euch, ihr meine Lebensgeister,
Zu kämpfen mit dem wilden Sinnentrug!

So öffnet euch, krampfhaft geballte Fäuste,
Und faltet euch ergeben auf der Brust!
Wenn zehnfach mir die Qual die Stirn umkreis'te:
Fest will ich bleiben und mir selbst bewußt!

Von Erdenduldern ein verlorner Posten,
Will ich hier streiten an der Hölle Thor!
Den herbsten Kelch des Leidens will ich kosten:
Halt' mir den Becher, göttlicher Humor!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

091 IV.

Sie haben mir, als sie der Tod belogen,
Wie's scheint, die Sonntagsweste angezogen:
In ihren Taschen fand ich einen alten
Zahnstocher und ein Bleistift aufbehalten.

Einst gab es Tage, wo man zum Geleite
Den Todten Schwert und Pfeile legt' zur Seite: –
Schmählich Jahrhundert du, das seinen Leichen
Zahnstocher nur und Bleistift weiß zu reichen!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

092 V.

In's Innre jedes Sarges sollte man
Hell von Metall 'nen Spiegel schlagen an,
Der, wie man sagt, in tiefster Dunkelheit
Getreu die Leichenzüge konterfeit.

Das wär' ein Schatzfund, wenn aus Gras und Kraut
Man grauend diese Bilder dann erschaut',
Wie hingehaucht, vom Rost leicht überwebt,
Unheimlich hell vom Sonnenlicht belebt!

Die man lebendig einst zu Grabe trug,
Gesunden Herzens in die Erde schlug:
Mit den zerrissnen Zügen wären sie
Die Perlen einer Todtengallerie.

Wenn irgendwo ein reicher König praßt
Der Licht und Leben und die Jugend haßt,
Doch heuchlerisch um todte Musen freit:
Ihm wär' ein solcher Kunstschatz dann geweiht!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

093 VI.

Horch! Stimmen und Geschrei, doch kaum zu hören,
Dumpf und verworren tönt es, wie von ferne,
Und ich erkenn' sie, die allnächtlich stören,
Der Todten Schlaf, den stillen Gang der Sterne.

Der trunkne Küster, aus dem Schank gekommen,
Setzt sich noch in den Mondschein vor dem Hause,
Kräht einen Psalm; doch kaum hat sie's vernommen,
So stürzt sein Weib hervor mit Zorngebrause,

Heißt ihn herein gehn und beschilt ihn grimmig,
Hell kräht zum Mond indessen der Geselle;
So mischet sich, erboßt und eulenstimmig,
Ihr Zanken in sein trunkenes Gebelle.

Sie muß ganz nah sein, da ich es kann hören,
Die überkommne, alte Pfründerhöhle;
Laß' sehn, ob das Gesindel ist zu stören:
Schrei', was du kannst, angstvoll gepreßte Kehle!

Die Thür schlägt zu – der Lärm hat sich verloren,
Es hülfe nichts, wenn ich zu Tod mich riefe;
Sie stopfen furchtsam ihre langen Ohren
Vor meinem Hülferufen aus der Tiefe.

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

094 VII.

Läg' ich, wo es Hyänen gibt, im Sand,
Wie wollt' ich hoffnungsvoll die Nacht erharren,
Bis Eine käme, hungrig hergerannt,
Mich heulend aus der lockern Gruft zu scharren!

Wie wollt' ich freudig mit dem wilden Thier
Dann um mein Leben, unermüdlich, ringen!
Im Sande balgt' ich mich herum mit ihr,
Und weiß gewiß, ich würde sie bezwingen.

Und auf den Rücken schwäng' die Bestie ich
Und spräng' im Leichentuch, wie neugeboren,
Und singend heimwärts und schlüg' wonniglich
Dem Arzt den Todtengräber um die Ohren.

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

095 VIII.

Als endlich sie, nach langem, schwankem Lauf,
Am Grab noch hoben diesen Deckel auf:

In jenem Augenblick hab' ich gesehn,
Wie just die Sonne schied im Untergehn.

Erleuchtet von dem abendrothen Strahl,
Sah ich all' die Gesichter noch ein Mal,
Den Thurmknopf oben in der goldnen Ruh –
Es war ein Blitz, sie schlugen wieder zu.

Ich sah auch zwischen Auf- und Niederschlag,
Daß Märzschnee dicht auf allen Gräbern lag;
Das Wetter muß seither gebrochen sein,
Denn feucht dringt es durch diesen engen Schrein.

Ich hör' ein Knistern, wie wenn, mählig, leis,
Sich Schollen lösen aus des Winters Eis;
Ich hör' ein feines Rieseln, wie wenn sacht
Das Erdreich aus dem starren Schlaf erwacht.

O wehe, wehe mir! nun darf es kühn
Hinaus in Gottes freien Himmel blühn!
O wehe mir! ich bin ja auch erwacht,
Und kann nicht regen mich in Grabesnacht!

Wie jedes Samenkorn sich mächtig dehnt,
Der junge Halm nach jungem Licht sich sehnt,
So reck' ich meinen armen, armen Leib –
O 'sist ein fruchtlos grimmer Zeitvertreib!

Hört man nicht klopfen laut da obenwärts
Hier mein lebendiges begrabnes Herz?
O wüßten sie
, wie es da unten thut!
Fluch über die gedankenlose Brut!

Wie munter quillt der kühle Erdensaft!
Lösch' aus nur meines Lebens Fieberkraft!
Zu allen Fugen rinnt es mir herein,
Und oben ist's nun warmer Frühlingsschein.

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

  096 IX.

Tief im Gehirne brennt mich diese Stille!
Wenn ich verzweifelnd einen Augenblick
Geruht, wie mir befahl mein schwacher Wille,
So kehrt die Angst verdoppelt mir zurück.

Und vor den Augen stets die schwarze Hülle,
Sie thun mir weh, so offen starren sie.
Wie brennt mich im Gehirne diese Stille –
Ihr Nachbarn! schreit ihr denn im Schlafe nie?

Horch – endlich zittert es an meine Bretter!
Was für ein geisterhaft metallner Klang,
Was ist das für ein unterirdisch Wetter,
Das mir erschütternd in die Ohren drang?

Jach unterbrach es meine bangen Klagen,
Ich fuhr zusammen, still, fast hoffnungsvoll –
Eilf – zwölf – wahrhaftig, es hat zwölf geschlagen,
Das war die Thurmuhr, die so eben scholl.

Die große Glocke ist's im hohen Stuhle,
Die
klingt in's tiefste Fundament herab,
Bahnt sich den Weg in diesem Leichenpfuhle
Und singt ihr Lied in mein verlassnes Grab.

Das ist gewiß, gesteh's nur armer Racker!
Wohl so poetisch, wie wenn vordem ich
Am Mittag oft vom fernen Frühlingsacker
Bei diesem Klang vergnügt nach Hause schlich.

Gewiß sind jetzt die Dächer warm beschienen
Vom sonn'gen Lenz, vom jungen Aetherblau;
Nun kräuselt sich der Rauch aus den Kaminen,
Die Leute lockend von der grünen Au.

Was höhnst du mich, o Glockenton im Grabe,
Und mehrest meine namenlose Qual?
Entdeckst mir plötzlich daß ich Hunger habe
Und nicht kann hin zum ärmlich stillen Mahl?

Ich hab' mein Theil gehungert doch dort oben,
Und nun im Grabe wieder hungert's mich –:
Ist dieser Stern aus Hunger denn gewoben,
Und mehrt der Hunger mit der Tiefe sich?

Halt' aus, mein Herz! wir müssen ihn bezwingen,
Es ist ein feiger, schmälich giftger Feind!
Auf dem Geworfnen laß uns grimmig ringen
Mit Andern, die sich gegen uns vereint!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

097 X.

Zwölf hat's geschlagen – warum denn Mittag?
Vielleicht der Mitternacht ja galt der Schlag,
Daß oben nun die stillen Sterne gehn;
Ich weiß es nicht, ich kann es ja nicht sehn!

Ha, Mitternacht! Ein heller Hoffnungsstrahl!
Der nächtlich schon so manches Grab bestahl:
Der Todtengräber schleicht nun wohl herbei
Und macht erschrocken mich Lebend'gen frei! –

Doch, was für Kleinod sollt' er suchen hier?
Er weiß zu gut: er findet Nichts bei mir!
Ein golden Ringlein nun erlöste mich –
Du bittre Armuth, jetzt verfluch' ich dich!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

098 XI.

O ich mag rufen, schreien, wie ich will,
Es wird mein Angstruf nimmermehr vernommen;
Da oben bleibt es, wie da unten, still,
Wer sollte auch zu diesem Hügel kommen?

Denn meine Mutter ist romantisch nicht,
Und, alt und schwach, bleibt einsam sie zu Hause;
Wenn ihr das Herz ob meinem Tode bricht,
Sie birgt's und weint in der verschlossnen Klause.

Ja hätt' ich ein verlassnes Liebchen nun,
Das vor dem Morgenroth zu klagen käme,
Auf meiner kühlen Erde auszuruhn,
Und meinen Jammer – wonnevoll vernähme!

Warum hab' ich's der Einen nicht gesagt,
Daß junge Liebe mir im Herzen sprosse?
Ich hab' gezaudert und es nicht gewagt –
Die Krankheit kam und - diese tolle Posse. –

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

099 XII.

Wenn einsam Sie vielleicht und ungeliebt,
Nachdenklich manchmal ihre Augen senkt,
O wüßte sie dann, daß ein Herz es gibt,
Das hier im Grab lebendig an sie denkt!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

100 XIII.

Da hab' ich gar die Rose aufgegessen,
Die man mir in die starre Hand gegeben!
Daß ich noch einmal Rosen würde essen,
Ich hab' es nie geahnt in meinem Leben.

Ich möcht' nur wissen, ob es eine weiße,
Ob eine rothe Rose das gewesen?
Am letzten Blatt, das spielend ich zerreiße,
Möcht ich es fühlend mit den Fingern lesen
.

Wie vielen Gärten voller Knospenprangen
Bin ich gedankenlos vorbeigezogen!
Voll Geigen hat der Himmel mir gehangen –
Nur fand ich nicht den rechten Fiedelbogen.

Blühn wohl auch Rosen an des Himmels Bächen? –
Was kümmert's mich? Noch will ich es nicht wissen!
Will erst noch dieser Erde Rosen brechen!
He! laßt mich los aus diesen Finsternissen!

Ich will nicht sterben! Jung sind meine Sehnen
Und rasch noch die Gelenke meiner Knochen;
Ahnt Niemand meine zornig-heißen Thränen?
Auf! Holla! schlechter Kasten, sei zerbrochen!

– Wie Felsen halten diese Bretterstücke,
Und keine Fuge weicht, wie ich mich dehne;
Erschöpft und keuchend lehn' ich mich zurücke,
Die nassen Haare voller Hobelspäne.

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

101 XIV.

Viel besser wär's, zerschnittner Tannenbaum,
Du ragtest als ein schlanker Mast empor,
Bewimpelt, in den blauen Himmelsraum,
Vor einem sonnig heitren Hafenthor!

Da, müssen wir einmal beisammen sein,
Lehnt' ich an dich im schwanken Bretterhaus;
Du aus dem Schwarzwald, jenseits ich vom Rhein,
Kamraden, reis'ten wir in's Meer hinaus.

Und bräch' das Schiff zu Splittern auseinand',
Geborsten du und über Bord gefällt,
Umfaßt' ich dich mit eisenfester Hand:
So schwämmen Beide wir an's End' der Welt.

Am Besten wär's, du stündest hoch und frei
Im Tannenwald, das Haubt voll Vogelsang:
Ich aber schlenderte an dir vorbei,
Wohin ich wollt', den grünen Berg entlang!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

102 XV.

Der erste Tannenbaum, den ich gesehn,
Das war ein Weihnachtsbaum im Kerzenschimmer;
Noch seh' ich heiter strahlend vor mir stehn
Das grüne Wunder im erhellten Zimmer.

Da war ich täglich mit dem Frühsten wach,
Den Zweigen gläubig ihren Schmuck zu rauben;
Doch als die letzte süße Frucht ich brach,
Ging es zugleich an meinen Wunderglauben.

Dann aber, als im Lenz zum ersten Mal
Ich mich in einen Nadelwald verirrte,
Mich durch die hohen, stillen Maste stahl,
Bis sich der Hain zu jungem Schlag entwirrte:

O Freudigkeit! wie ich da, ungesehn,
In einem Wald von Weihnachtsbäumchen steckte,
Dicht um mein Haar ihr zartes Wipfelwehn,
Das überragend kaum die Stirn mir deckte.

Ein kleiner Riese in dem kleinen Tann,
Sah ich vergnügt die Weihnachtsbäume sprießen;
Ich faßte keck ein junges Tännlein an
Und bog es kindlich ringend mir zu Füßen.

Und über mir war nichts als blauer Raum;
Doch als ich mich dicht an die Erde schmiegte,
Sah unten ich durch dünner Stämmchen Saum,
Wie Land und See im Silberduft sich wiegte.

Wie ich so lag, da rauscht' und stob's herbei,
Daß mir der Luftdruck durch die Locken sauste,
Aus tiefer Luft schoß senkrecht her ein Weih,
Daß seiner Flügel Schlag im Ohr mir brauste.

Als schwebend er dicht ob dem Haubt mir stand,
Funkelt' sein Aug' gleich dunkeln Edelsteinen,
Und ringsum an der Schwingen dünnem Rand
Sah ich die Sonne durch die Kiele scheinen.

Auf meinem Angesicht sein Schatten ruht'
Und ließ die glühen Wangen mir erkalten;
Ob welchem Inderfürst von heißem Blut
Ward solch' ein Sonnenschirm empor gehalten?

Wie ich so lag, erschaut' ich plötzlich, nah,
Wie eine Eidex mit neugier'gem Blicke
Vom nächsten Zweig' in's Aug mir nieder sah,
Wie in die Fluth ein Kind von schwanker Brücke.

Nie hab' ich mehr solch klugen Blick gesehn,
Und so lebendig-ruhig, fein und glühend;
Hellgrün war sie, ich sah den Odem gehn
In zarter Brust, blaß, wie ein Röslein, blühend.

Ob sie mein blaues Aug' wohl nieder zog?
Sie ließ vom Zweig sich auf die Stirn mir nieder,
Schritt abwärts, bis sie um den Hals mir bog,
Ein bunt Geschmeide, ruhend, ihre Glieder.

Ich hielt mich still und fühlt' mit lindem Druck
Den feinsten Puls auf meinem Halse schlagen;
Das war der schönste und der reichste Schmuck,
Den ich in meinem Leben je getragen.

Damals war ich ein kleiner Pantheist
Und ruhte selig in den jungen Bäumen:
Doch nimmer ahnte mir zu jener Frist,
Daß in denselben – solche Bretter keimen.

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

103 XVI.

Der schönste Tannenbaum, den ich gesehn,
Das war ein Freiheitsbaum von fünfzig Ellen,
Am Schützenfest, im Wipfel Purpurwehn,
Aus seinem Stamme flossen klare Wellen.

Vier Röhren gossen den lebend'gen Quell
In die granitgehaune, runde Schaale;
Die braunen Schützen drängten sich zur Stell'
Und schwenkten jauchzend silberne Pokale.

Unübersehbar schwoll die Menschenfluth,
Von allen Enden tönten Männerchöre;
Vom Himmelszelt floß Julisonnengluth,
Erglüh'nd ob meines Vaterlandes Ehre.

Dicht im Gedräng, dort an des Beckens Rand,
Sang laut ich mit, ein fünfzehnjähr'ger Junge:
Mir gegenüber an dem Brunnen stand
Ein braunes Mädchen von roman'scher Zunge.

Sie war zu hinterst vom Misokkerthal,
Trug Alpenrosen in den schwarzen Flechten;
Sie füllte ihres Vaters Siegpokal,
Drein schien ihr Aug', gleich Sommersternennächten.

Sie ließ in kindlich unbefangner Ruh
Vom hellen Quell den Becher überfließen;
Indessen wallten flatternd ab und zu
Die Fahnenzüg' mit buntem Wehn und Grüßen
.

Als sie mich sah, warf sie mir wohlgemuth
Aus ihrem Haar ein Röslein in den Bronnen,
Schlug gegen mich in Wellen schlau die Fluth,
Bis ich erfreut den Blumengruß gewonnen.

Ich fühlte da die junge Freiheitslust
Des Vaterlandes Lieb' im Herzen keimen;
Es wogt' und rauscht' in meiner Knabenbrust,
Wie Orgelsturm von ries'gen Tannenbäumen.

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

104 XVII.

Ich muß ein Weilchen wohl geschlafen haben,
Denn wie aus Träumen schein' ich mir erwacht;
Bin ich leibhaftig, wirklich denn begraben?
Noch immer diese enge, schwarze Nacht?

Mein Athem ist wol heftig, rasch gegangen,
Indeß der Traum die Wirklichkeit mir barg;
Ich fühl' den Thau an meinen Schläfen hangen,
Die Luft ist heiß und dumpf in diesem Sarg.

O traurig, übertrauriges Erwachen!
O Augenaufthun ohne Morgenlicht,
Wo keine Wolken durch die Fenster lachen,
Sich keine Reb' um klare Scheiben flicht!

Doch wohl mir, daß ich heiße Thränen finde,
Da ich auch gar hier so verlassen bin!
O Kindesthränen, fließet, fließet linde,
O Heimatsquell, ström' unaufhaltsam hin!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

  105 XVIII.

Ich bin befreit, mein Weh hat sich gewendet,
Und ich empfind' es, ich bin nicht allein;
Der seine Strahlen durch das Weltall sendet,
Er strahlt mich an durch diesen Todtenschrein
.

Getrennt bin ich von meinem herben Leiden,
Ich bändige den Leib mit starkem Muth;
Wie wildes Meer, von dem ich mich will scheiden,
Lass' brausen ich mein krank und siedend Blut.

Ja, toset nur, ihr ungetreuen Wogen!
Ich übersing' euch, wie ein Ferg' am Strand;
Lange genug bin ich mit euch gezogen:
Nun tausch' ich euch an festes Blüthenland.

Es ist noch gut geworden, und geschlagen
Hat mich der Herr mit einem Rosenstab;
Geläutert will ich meine Seele tragen
Zu ihm empor aus diesem Erdengrab
.

Weil ich so sehr geliebt die grüne Erde,
Lebt' ich so bang und tief in sie hinein; –
Wie ich in ihrem Schooß noch leiden werde:
Sie soll mein lieblichstes Gedenken sein
!

 Gedichte 1846 / Gedanken eines lebendig Begrabenen

106 XIX.

O theure Luft! Mit jedem Odemzug
Vergeud' ich sie, die unentbehrlich ist!
Fern bin ich euch, Berghöhen, Wolkenflug,
Wo man dies Gut nicht achtet und nicht mißt.

Hier eingeschlossen mit der Todesqual,
Der unsichtbaren, Stirn an Stirn gepreßt,
Umschlingt sie mir Haubt, Glieder, Herz zumal
Mit Schlangenringen, unbarmherzig fest.

Nun geht's an's Sterben – strenge Seelenzucht,
Der ich mich scheidend unterwerfen soll!
Mein Denken schwindet mir in dunkler Flucht, –
Matt schlägt das Herz, – bald bricht's – erwartungsvoll –.

 

  


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