Josef Viktor Widmann (1842-1911)

Editorial


 

Seit 1880 Feuilletonredaktor der Berner Zeitung "Der Bund" , in der Kellers Werke besprochen wurden;
befreundet mit Keller; Korrespondenz mit Keller seit 1874

Anzahl registrierte Briefe: 43 an, 22 von Keller (62 ZB Zürich)


 

8. 1. 1874  Keller an Josef Viktor Widmann

<ZB: Ms. GK 78f Nr. 1; GB 3.1, S. 212>

                                                            Zürich den 8 Januar 74.

Hochverehrter Herr!
 
Ich danke Ihnen herzlich für Ihr gütiges Anerbieten sowohl, als für die freundlichen Worte, mit welchen Sie es begleiten, und begreife nicht recht, wie ich zu einer so kuriosen Auffassung Ihrer schönen Gabe kommen sollte, wie Sie befürchten!

     Leider habe ich gegenwärtig Nichts zur Verfügung, das mir als Erwiederung dienen könnte, hoffe aber im nächsten Frühjahr wieder ein Büchlein fertig zu bringen.

     Ich bin sehr begierig auf Ihren Mose u seine Zipora u hoffe darin | wieder auf die gleichen lustigen u ästhetischen Vorzüge zu stoßen, wie in Ihrem letzten, romantischen Epos.

     Ihre Sendung also wie Ihre freundschaftl. Gesinnung mit bestem Danke erwiedernd bin ich mit Hochachtung u Ergebenheit

                                                Ihr G. Keller.
                                                nicht Professor!

 


 

23. 3. 1877  Josef Viktor Widmann an Keller

<ZB: Ms. GK 79g Nr. 103; GB 3.1, S. 218>


J. V. Widmann
Vorsteher
der Einwohner-Mädchenschule
in
Bern.

                                            Bern, den 23ten März1877.

Verehrtester Herr!

Gestatten Sie mir, Ihnen ein Exemplar der zweiten Auflage meines Idylls zu übermachen als ein Zeichen meiner freundlichen Hochachtung. Durch Bächtold erfuhr ich, daß Sie dem Gedichte nicht abhold seien, was ich eigentlich befürchtet hatte. Ich hatte vorausgesetzt, das Gedicht würde Ihnen gar zu sehr als Frauenzimmer-poesie vorkommen und so hatte ich nicht gewagt, Ihnen ein Exemplar der ersten Auflage zu widmen. Für die zweite Auflage sind viele Fehler gegen die Metrik des Hexameters getilgt worden, wobei mir der so höchst talentvolle Sohn des verstorbenen | Dr. Jakob Frey freundlichst und schonungslos half. Dieser junge Poet wird nun nach Zürich übersiedeln und hoch beglückt sein, wenn Sie auf ihn etwas von der Freundschaft übertragen, die Sie, so viel ich weiß, für seinen wackern Vater fühlten. Adolf Frey ist eine edle, körnige Natur und ist mir sehr lieb geworden.

   Vor vierzehn Tagen hatte ich den plötzlichen Überfall des fratzenhaften scheußlichen Fastenrath von Herisau auszuhalten. Dieser freche, eunuchenartige Mensch wagte mir zu sagen, Sie hätten ihm erklärt, daß Sie seinem Blatte nur deßhalb keine Beiträge gäben, weil es die "schweizerische" Dichterhalle heiße und Sie Sich nicht auf diesen engen localen Standpunkt stellen möchten. | Letzteres glaube ich Ihnen wohl; aber mich ärgert, daß Fastenrath mit solchem Geschwätz manche Leute irre führen darf. Ich war persönlich fürchterlich mit ihm; er soll sich nachher in einem hiesigen Wirthshause geäußert haben, daß er mich nicht für so grob gehalten hätte. Eigentlich ärgerte ich mich, daß mich ein solcher Mensch so in Harnisch bringen konnte. Aber dieses arrogante Gesicht, diese Hämlingsphysiognomie - Sie kennen ihn übrigens! -

     Mit größtem Genusse lese ich Ihre Novellen in der deutschen Rundschau; weniger gefiel mir aber Heyse's Sonnett an Sie mit dem famosen Vers: "Um Heil'ges lodern Sinnenflammen schwüler"; Sie haben dazu gewiß auch ein sonderbares Gesicht | gemacht; da war doch Bächtolds Gedicht viel schöner, wahrer, herzlicher!

     Diesen Winter habe ich ein Drama geschrieben, < FACE="Arial">Zenobia. Der Stoff scheint ein oft benutzter; aber mein Gedicht hat mit allen bisherigen Bearbeitungen beinahe gar nichts gemein, ja nähert sich beinahe der Komödie, indem ich eine brauchbare Novelle von Boccaccio in das Ganze hineingeleitet habe. Manchmal kommt mir vor, es sei was Hübsches geworden; manchmal fürchte ich, daß ich mich vielleicht irre und daß nicht viel damit sei. Vor der Hand bleibts liegen. -

     Verzeihen Sie den für einen so seltenen Briefschreiber vielleicht etwas zu freien Ton dieser Zeilen; aber wenn ich an Sie denke oder schreibe, so kann es nur herzlich sein.

                                  Hochachtungsvollst
                                  mit bestem Gruße Ihr
                                  J. V. Widmann


 

26. 1. 1881  Josef Viktor Widmann an Keller

<ZB: Ms. GK 79g Nr. 110;  Widmann, S. 63>

Bern,d. 26. Jan. 1881

Verehrtester Herr u. Freund!
 
Sie haben zu meiner etwas starken Zumuthung ein so freundliches Gesicht gemacht, daß ich Ihnen noch danken muß, bevor Sie dazu gelangen, mir über das zugesandte Buch Ihre Meinung zu sagen.

 Ich habe mir wirklich seither Vorwürfe gemacht, daß ich es nicht dem Zufalle überlassen, ob Ihnen dieses "Prometheus u. Epimetheus" in die Hände fallen würde. Eine solche direkte Zusendung ist ein Attentat nicht nur auf die Zeit auch auf die Seelenstimmung. Aber ich war zu begierig, zu vernehmen, | was der berufenste Meister in der Dichtergilde unserer Zeit zu einem Werklein sagen würde, dem gegenüber ich rathlos stund, da ich einmal zu hohem Lobe gestimmt war und dann wieder im tiefsten Wesen mich unbehaglich berührt fühlte.

     Ist für den Leser die Forderung annehmbar, den tiefen Sinn, der in dem Gleichnisse steckt, aus solcher Umhüllung herauszuholen?

     Aber ich will Ihnen nicht vorgreifen durch solche Fragen. -

     Ihre neuesten schönen Novellen werde ich dieser Tage zu lesen bekommen; | ich habe bereits ein Stück davon erzählen hören und bemerkt, wie ein großer Kreis von Frauen und Männern durch Anhören der bloßen Wiedergabe des Hauptinhaltes in jene hohe und glückliche Stimmung kam, die vor Werken ächter Kunst sich einzustellen pflegt. -

     Meine neue Thätigkeit hat das Gute, daß sie mir einen neuen Maßstab für alle Dinge, in erster Linie aber für mein eigenes Sein und Schaffen an die Hand giebt. Früher las ich beinahe gar keine Zeitung; jetzt gehört zu meiner Berufspflicht, täglich 20-30 der größten Weltblätter | durchzusehen. Da geschieht mir im Kleinen, was der Menschheit geschehen, als sie begann, Blicke in die ungeheuren kosmischen Fernen zu thun, vor denen dann alles kleine Irdische sich bescheiden verkriechen mußte. Bin ich auch nach den Jahren noch nicht der abgetakelte Greis, der auf gerettetem Boot in den Hafen treibt, so bin ichs doch durch die verstandesmäßige Abschätzung meiner kleinen Kraft im Verhältniß zum Ganzen. Solche Erkenntniß ist freilich kein Vergnügen, besonders, wenn sie etwas spät eintritt, nachdem man schon manche Thorheiten in die Welt hinausgeschickt hat. Aber Gewinn bringt sie doch und auch einen Genuß: die viel vollere reinere Hingabe an das Große und Gute bei Andern.

     In treuer Verehrung
                                                Ihr freundschaftlich ergebener
                                                J. V. Widmann

 


 

27. 1. 1881  Keller an Josef Viktor Widmann

<Widmann, S. 65, GB 3.1, S. 228>

Zürich, 27. Januar 1881

Mein verehrter Freund!
 
Ihr freundlicher Brief nötigt mich, endlich die "vorhabende" Meinungsäußerung über "Prometheus und Epimetheus" zu beschleunigen. Vor allem danke ich Ihnen für den Genuß, den Sie mir verschafft, um den ich sonst wahrscheinlich gekommen wäre.

     Das Buch ist von vorne bis hinten voll der auserlesensten Schönheiten. Schon der wahrhaft epische und ehrwürdige Strom der Sprache in diesen jambischen, jedesmal mit einem Trochäus abschließenden Absätzen umhüllt uns gleich mit eigentümlicher Stimmung, ehe man das Geheimnis der Form noch wahrgenommen hat. Selbst mit den Wunderlichkeiten des ewigen "Und über dem" und des "plötzlichen Geschehens" usw. versöhnt man sich zuletzt.

     Was der Dichter eigentlich will, weiß ich nach zweimaliger Lektüre noch nicht. Ich sehe ungefähr wohl, worum es sich handelt in der Allegorie, aber ich weiß nicht, ist es ein Allgemeines, oder kommt es am Ende wie bei Gustav Freitags "Ahnen" darauf hinaus, daß er sich selbst und sein eigenes Leben meint. Trotz aller Dunkelheit und Unsicherheit aber fühle ich alles mit und empfinde die tiefe Poesie darin. Ich weiß den Teufel, was das Hündlein und der Löwe und der Mord ihrer Kinder und diese selbst bedeuten sollen. Aber ich bin gerührt und erstaunt von der selbständigen Kraft und Schönheit der Darstellung der dunklen Gebilde.

     Trotz der kosmischen, mythologischen und menschheitlich zuständlichen Zerflossenheit und Unmöglichkeit ist doch alles so glänzend anschaulich, daß man im Augenblick immer voll aufgeht. (Wie grandios stilvoll ist der Engel, der extramundan doch auf der breiten Marmorbank sitzt, mit dem Rücken gegen den Tisch gelehnt!)

     Ob die Belebtheit der ganzen Natur, wo die Pflanzen und Steine, Bach und Weg reden, nur für Prometheus existieren soll, oder für alle andern auch, weiß ich ebenfalls nicht, aber ich empfinde die Schönheit der Ausführung usw.

     Nun aber kommt ein schwierigerer Punkt. Bekanntlich gibt es im Nervenleben Momente, wo man einen Augenblick lang eine schwankende Empfindung hat, als ob man dieselbe Situation und Umgebung, in der man sich befindet, in unbekannter Vergangenheit schon einmal erlebt habe. Es sind dies wahrscheinlich kleine Unregelmäßigkeiten in den Funktionen der doppelorganischen Gehirneinrichtungen oder so was. Nun habe ich bei der Lektüre unserer Dichtung ein Gefühl, wie wenn ich dieselbe schon aus der altindischen oder chinesischen Literatur einmal gekannt und wieder vergessen hätte, wie wenn ich mich des Hündleins und des Löwen, des träumenden Bächleins und des schlafenden Baumes, der etwas hören will, und noch vieler Sachen aus dem Rückort meiner Jugendzeit dunkel erinnerte! Ich weiß, es ist nicht der Fall, und dennoch habe ich das Gefühl. (Ein Zeugnis dieses schon Dagewesenseins ist z. B. Epimetheus, der auf der Leiter steht und tut, als ob er Trauben schneide, während er auf die herannahenden Boten lauert, die ihm die Herrschaft antragen. Er erinnert an Richard III. auf dem Balkon zwischen den zwei Bischöfen. Dennoch möchte ich diese köstliche Leiter nicht entbehren!) Die Sache kommt mir beinahe vor, wie wenn ein urweltlicher Poet aus der Zeit, wo die Religionen und Göttersagen wuchsen und doch schon vieles erlebt war, heute unvermittelt ans Licht träte und seinen mysteriösen und großartig naiven Gesang anstimmte.

     Ist es aber noch eine Zeit für solche sibyllinischen Bücher? Ist es nicht schade um ein Ingenium dieser Art, wenn es nicht das wirkliche, nicht verallegorisierte Leben zu seinem Gegenstande macht? Oder ist die Art seines Talentes so beschaffen, daß es nur in jenen verjährten geheimnis- und salbungsvollen Weisen sich kann vernehmen lassen und man also froh sein muß, wann es dies tut? Werden, wie Sie richtig bemerken, die Leute sich dazu hergeben, Nüsse zu knacken und die Hälfte des zergrübelten Kernes zu verlieren? Alles das vermag ich mir jetzt nicht zu beantworten oder mag es vielmehr nicht versuchen, um dem Verfasser gegenüber auch meinen Eigensinn zu haben. Nur so viel weiß ich, daß ich das Buch (das zudem nicht fertig ist, wenn die Bezeichnung "erster Teil" nicht auch eine Art Mysterium sein soll) aufbewahren und noch manchmal lesen werde.

     Sich selbst betreffend, bester Herr und Freund, so scheinen Sie wieder einmal in der Bescheidenheitslaune zu sein, aber diesmal in einer liebenswürdigen, da sie nicht zu untröstlich ist. Am Ende ist es uns aber wohler, wenn wir nicht zu viel von der Welt wollen und das, was sie uns freiwillig gibt, als gelegentlichen Fund betrachten. Ich bin mit den Novellen, deren Sie Erwähnung tun, auch in einer Schwulität. Ich muß den größten Teil noch schreiben, während sie gedruckt werden, obschon sie seit 25 Jahren projektiert sind. Nun weiß ich in der Bedrängnis erst nicht, was daraus wird, und ob ich mich nicht damit blamiere. Mein Freund Theodor Storm nennt so schon meine übrigen Erfindungen dieses Genres Lalenburger Geschichten. Damit meint er nämlich ziemlich triviale Späße usw.

     Seien Sie treulich gegrüßt von
                                                Ihrem ergebenen
                                                G. Keller.

 


 

20. 5. 1881  Josef Viktor Widmann an Keller

<ZB: Ms. GK 79g Nr. 112; Widmann, S. 70>

Bern.20. Mai.1881.

Verehrter Herr und Freund! 

Ihre schönen Erzählungen in der "Rundschau" habe ich mit großem Genusse zu Ende gelesen und namentlich die an sich haltende Kraft in der Darstellung der Geschichte des portugiesischen Admirals bewundert wie auch, in eben dieser Erzählung, dieses Schiller'sche Anschauungsvermögen in Schilderung nie geschauter Länder und nie mehr anschaubarer geschichtlicher Menschen. Ich denke, die meisten Schriftsteller von der heutigen Goethe'schen Schule würden meinen, wenn ihnen so ein Stoff unter die Feder liefe, sie müßten mindestens | nach Cadix reisen zum Behuf von Vorstudien.

     Interessiert hat mich, daß Sie zweimal das Problem der Liebschaft zwischen einer Wilden und einem Europäer behandelt haben, indem auch mein Ihnen nun persönlich bekannter Freund Spitteler, dermalen Progymnasiallehrer mit 32 wöchentl. Stunden zu Neuenstadt, dieses Problem sich gestellt hat. Ich sende Ihnen seine Erzählung Mariquita, die ich im "Bund" seiner Zeit erscheinen ließ und die ihm so viele Vorwürfe von allen Seiten eingetragen hat. Namentlich haben es ihn alle Frauenzimmer in der ganzen Verwandtschaft und Bekanntschaft | schwer entgelten lassen, daß er - ja was? das wußten sie gewöhnlich nicht zu sagen; nur fühlten sie eine tiefe Geringschätzung der Durchschnittsfrau heraus und so wurde seine Erzählung kurzweg als "unmoralisch" bezeichnet. Ihnen, verehrter Herr und Freund, sende ich sie einmal der kleinen stofflichen Berührungspunkte wegen, sodann, damit Ihnen doch etwas Anderes von dem Manne unter Augen komme, dessen eigenthümliches dunkles Gedicht Sie Ihrer freundlichen Aufmerksamkeit nicht unwerth gefunden haben. Mache ich auf diese Weise abermals den Colporteur meines lieben Jugendfreundes, so geschieht es ohne sein Wissen und findet vielleicht Entschuldigung | in dem Umstande, daß Spitteler bei seinem zurückhaltenden Wesen und da er so lange in der Fremde war, buchstäblich im Heimatlande keinen einzigen sich thätig beweisenden wohlgesinnten Helfer hat.

     Nun danke ich Ihnen noch für den so schön abgeschlossenen Novellencyclus, obschon er der ganzen Welt gehört, so daß Sie wohl zu jedem besondern Danke wie Uhlands guter Wirth "mild den Wipfel schütteln". Auch meine liebe Frau und viele mir nahe stehende befreundete Menschen haben diese Erzählungen voll genossen, oft mit staunend emporgezogenen Augenbraunen, da die gute hohe Poesie verlangt, daß wir das gewöhnliche Thor unseres Verständnisses merklich erhöhen.

     In treuer Verehrung herzlichst
                                                Ihr J. V. Widmann

 


 

4. 8. 1881  Keller an Josef Viktor Widmann

<ZB: Ms. GK 78f Nr. 7; GB 3.1, S. 232>

Zürich 4 Aug.1881.

Verehrter Freund! Ich habe auch diesmal wieder Ihrer Freundlichkeit und Langmuth mit scheinbarem Undank gelohnt, da ich Ihre Briefe und Sendungen vom 20 Mai und 24 Juni so lange unbeantwortet ließ; sie lagen aber in einem Convolut der besten Freundescorrespondenz, die ich endlich nun abwandeln kann.

     Zuerst hole ich noch einen Punkt aus einem Ihrer früheren Briefe nach, an den ich mich wiederholt erinnerte, das Mißurtheil Lübkes über Ariost. Und da ist mein Standpunkt einfach der, daß ich bei Lübke überhaupt nicht frage, wie er über Dichter urtheilt, da er hiefür von der Weltordnung nicht angestellt ist. Er kennt eigentlich nur einen Dichter, und das ist sein Freund Otto Roquette.

     Haben Sie schönsten Dank für Ihr italienisches Buch, das mir viel Freude macht. Sie haben die große Aufgabe, noch eine italienische Reise zu schreiben, vortrefflich gelöst und den Vogel vor vielen Neuern abgeschossen. Schon die Spaltung des Reisesubjekts in zwei Personen, die sich in Anschauungen und Urtheilen zu theilen haben, | ist ein genialer Griff, wie das Ei des Columbus, und mit ebenso viel Anmuth als Weisheit durchgeführt, indem bei Müslin die extravagante Schrulle überall in den richtigen Schranken gehalten ist und der Humor dadurch um so feiner wirkt. Und so bringt denn, was die beiden Herren sehen und gustiren, trotz des bald seit Göthe abgelaufenen Jahrhunderts, noch so viel des Neuen, Nichtgesagten, Ueberraschenden, daß der Band der hesperischen Literatur künftig wol integriren wird.

     Nicht ganz so sehr erbaut war ich von der Novelle Mariquita. Ich muß Ihnen gestehen, daß mir diejenigen nicht Unrecht zu haben scheinen, welche darüber erbost waren. Das ethische oder ethnologische Motiv, das der wunderlichen Arbeit zu Grunde liegt, geht in der Unordentlichkeit der aufgewendeten Phantasie ja ganz zu Grund. Von den durch den Mund gezogenen Läusehaaren bis zu dem Ausstechen der Crocodillsaugen hört doch jeder Geschmack auf.

     Ich bin sehr begierig auf den Schluß des | Prometheus und hoffe, es werde dort nicht eine ähnliche Unglückswendung Platz greifen. Das merkwürdige Gedicht kann nicht recht gefaßt und gewürdigt werden, bis man sieht, wo es hinaus will. Auch hat das verschiedenartige Versteckensspielen, die unpraktische Form und Ueberschreibung der äußern Eintheilung den Interessen des Buches geschadet. Das wird sich nach Vollendung des Ganzen wohl ausgleichen.

      Was meine Sinngedichtsgeschichtchen betrifft, so sind einige starke Fehler darin, die ich doch nicht mehr recht tilgen kann. Der für die Zeitschrift abgekürzte Schluß ist übrigens für die Buchausgabe mit einer Charakteristik der Rahmenheldin erweitert worden. Für Ihre viel zu schmeichelhafte Beurtheilung danke ich gleichwol schönstens, wir fressen ja alles, auch das auf beiden Seiten geschmierte Butterbrod.

     Ich habe leider in Bern nichts zu thun gehabt und konnte Sie daher nicht aufsuchen; | Jetzt werden Sie im Gebirge sein, wozu ich schöne Tage und heiteres Wetter im Gemüthe wünsche.

     Lassen Sie sich bei der Rückkehr von diesem Brief recht herzlich begrüßen und empfehlen Sie mich auch auf's Neue der verehrten Frau Gemahlin.

                                                Ihr ergebener
                                                Gottfr. Keller


 

20. 12. 1881  Keller an Josef Viktor Widmann

<ZB: Ms. GK 78f Nr. 8; GB 3.1, S. 234>

Zürich 20 Dec 1881.

 Verehrter Freund! Es ist Zeit, daß ich Ihnen herzlich danke 1.) für die freundliche Zusendung Ihrer Besprechung des "Sinngedichts" 2.) dafür, daß Sie den Artikel geschrieben haben. Wenn auch die schöne Form Ihres Dialogs über den wahren Werth des Buches, bezüglich dessen ich keineswegs ein gutes Gewissen habe, hinaus geht und fast wünschen läßt, daß Niemand dahinter kommen möge, was eigentlich dran sei, so freue ich mich doch, die Blätter zu besitzen; denn Sie führen wenigstens allerlei Züge für Ihre Ansicht an, deren Bemerktwerden dem Betroffenen angenehm ist u. s. w. Auf Ihren reichhaltigen | Wienerbrief will ich jetzt, nachdem wir uns persönlich gesehen, nicht mehr zurück kommen, sintemal ich keine Gegenbewirthung mit Erlebnissen anstellen kann. Nur den Wunsch, daß die Angelegenheit der Oenone-Aufführung am Burgtheater glückliche Fortschritte machen möge, will ich noch nachholen. Der seither an die Leitung dieser Bühne berufene Adolf Wilbrand sollte der rechte Mann sein, das Werk zu schätzen und zu fördern, und selbst das neuliche Brandunglück von Wien sollte dazu beitragen, den Sinn wieder mehr zur Einfachheit wahrer Kunst zurückzulenken, die nicht solch' einer höllischen Anhäufung von Entzündungsmaterien bedarf. |

     Mit der Erfassung des Epi-Prometheischen Dichtwesens schreite ich, bei verschiedentlich abhaltender Beschäftigung, allmälig vorwärts. Es ist ein Merkmal der starken Bedeutung der Dichtung, daß Sie so zum Nachdenken anregt. Die Hauptsache scheint mir doch das Verhältniß zwischen der äußern sinnlich plastischen Gestaltung und dem innern ethischen Lebenskerne zu sein. Bei dem apokalyptischen und etwas sophistischen Charakter des Werkes oder seiner Tendenz, wo jede Interpretation durch eine andere verjagt oder paralysirt wird, ist es schwierig, den rechten Uebergang zu finden. Nur soviel steht fest, daß das Werk mit gutem Willen und redlicher Anerkennungsfähigkeit angefaßt werden muß. |

     Ich bitte Sie aber, von alledem Herrn Spitteler inzwischen nichts mitzutheilen, da er keine glückliche resp. leichblütige Natur zur Aufnahme unmaßgeblicher Gedanken hat.

     In wenig Tagen haben wir Weihnacht, und da Sie trotz des Scherbengerichts der Stadtberner wol noch Ihre Julzeit heidnisch oder christlich begehen, so wünsche ich Ihnen heitere Festtage und gleich auch noch ein glückseliges Neujahr, wobei ich mich gratulirend auch der verehrten Frau Gemahlin empfehle.

                                                Ihr ergeb. G. Keller.


 

18. 10. 1884  Josef Viktor Widmann an Keller

<ZB: Ms. GK 79g Nr. 123; GB 3.1, S. 247>

Bern, d. 18. October 1884.

Hochverehrtester Herr u. Freund!
 
Ihr persönliches Verhältniß zu Leuthold's Ausgang rechtfertigt die kleine Zusendung, die ich Ihnen unter Postband mache. Sie und Bächtold haben - laut Erzählung des Letztern - Leuthold begraben und so darf ich Ihnen wohl Kenntniß geben von der Huldigung, die ich dem Andenken des Dichters bei Anlaß der dritten Auflage seiner Gedichte darbringe.

     Außerdem habe ich Ihnen etwas Spaßhaftes zu erzählen. Ein junger Musiker in Wien, Ferruccio Busoni, der ein sehr talentvoller Künstler sein soll und von sich rühmen darf, daß ihn Brahms hochschätzt, hat mir den Antrag gemacht, ich möchte ihm nach Ihrer Novelle "Romeo u. Julie auf dem Dorfe" einen Operntext (!) schreiben. Er versprach sich dabei eine besonders große Wirkung von dem schwarzen Geiger. Ich habe ihm natürlich geantwortet, daß man bei einer Bearbeitung zu theatralischem Zwecke gerade | die schönsten tiefsten Stellen der Dichtung aufopfern müßte und daß ich mir nicht zutraue, die ganz innerliche Dramatik der Novelle, diese stille heiße Glut, in jene Äußerlichkeit umzusetzen, wie sie die Bühne in der Oper verlangt.

     Inzwischen bin ich für jenen Musiker Frank aus Hannover, der Sie in diesem Sommer besuchte, als Librettist thätig. Zwar Ihr Tanzlegendchen, das Hr. Frank von mir wünschte als eine Art Concertstück (cantatenhaft), habe ich noch nicht angetastet. Aber ich bearbeite ihm Shakespeare's "Sturm". Ich kann mir vorstellen, daß Sie solche Bearbeitungen großer Dramen principiell verwerfen. Doch dürfte der "Sturm" eine Ausnahme machen. Wie es ja dort heißt:

                       "Die Insel ist voll Lärm,
Voll Tön' und süßer Lieder, die ergötzen            
Und Niemand Schaden thun" - |

es ist wirklich eine fast Opernhaft concipierte Dichtung mit so wenig eigentlicher Handlung, daß Shakespeare selbst ein mythologisches Ballet (Iris, Ceres, Schnittertanz etc) eingeflochten hat, um auszufüllen. Dieser Ariel, die Geistererscheinungen, das ganze Traumhafte der Insel, - das Alles ladet ein zu opernhafter Bearbeitung. Ich bin auch nicht der Erste, der daran geht. Schon Dryden hat im Geschmack seiner Zeit so etwas gemacht u. später Gotter, dessen weinerlich sentimentale Oper Zumsteg componiert hat. Mir selbst ist es eine große Freude, neben meiner doch recht trockenen journalistischen Beschäftigung wieder ein wenig mit der Kunst in Zusammenhang zu treten und das auf einem Gebiete, das vielleicht meinen Kräften das Angemessenste ist.

     Sehr gespannt bin ich mit der ganzen deutschen Literaturwelt auf Ihren Roman, den <die> "deutsche Rundschau" in Aussicht gestellt hat. Wie schön, wenn man sich so zu Winters Anfang auf etwas so | Herrliches voraus freuen kann.

     Mögen diese Zeilen Sie in gutem Wohlsein antreffen. Ich komme, wie Sie wissen, selten mit einem Briefe. Aber der Gedanke an Ihre Existenz ist mir die Quelle unausgesetzten heimlichen Wohlbehagens.

     In treuer Verehrung

                                                grüßt Sie herzlichst
                                                Ihr
                                                J. V. Widmann


 

9. 11. 1884  Keller an Josef Viktor Widmann

<ZB: Ms. GK 78f Nr. 14; GB 3.1, S. 249>

Zürich 9 Nov. 84.

Liebster Freund u Gönner,
 
Vielen Dank für Brief und Zusendung. Das Leuthold-Gedicht ist sehr schön, fast etwas zu feierlich für die schwache Originalität, welche der unglückliche Guerilla-Häuptling besessen hat. Dennoch trifft das Lied die Stimmung derer, die ihn in seinem langen Sarge ausgestreckt gesehen, das Gesicht mit seinen beruhigten Leidenschaften und Ansprüchen, durch den Tod wiederhergestellt, plötzlich, sogar wieder in die durch Paralysis verlorene Intelligenz getaucht.

     Daß Sie den Shakespeareschen Sturm als Oper bearbeiten, | ist sehr erfreulich und wird, sofern der junge Componist sich bewährt, gewiß ein glückliches Ereigniß herbeiführen. Sie erwerben sich auch ein Verdienst in einer Zeit, wo Richard Wagner es fast allen Componisten unmöglich macht, zu schaffen, ohne Selbstdichter oder Pfuscher zu sein. Seit Derjenige, der den Faust und die Iphigenia gedichtet, sich so liebevoll mit dem Singspiel bemüht hat, kann von der Berechtigung keine Rede mehr sein, und ich selbst lehne dergleichen nur ab, weil ich zu dumm dazu bin und mich ein Libretto fast die gleiche Mühe kosten würde, wie ein volles eigenes Drama und ich also vorziehen würde, letzteres zu machen, wenn ich - ja wenn etc. |

     Inzwischen bin ich Ihnen auch dankbar, daß Sie meine verhängnißvolle Dorfgeschichte, die mir wie ein gestutzter Pudel durch das ganze Leben nachläuft, nicht versifiziren wollten. So ist auch die Zumuthung jenes Herrn Frank, meinen leichten Prosacontur des Tanzlegendchens eigenhändig in eine Cantate umzuwandeln, was ja natürlich nur im rechtgläubig katholischen Stile, mit Abstreifung aller Ironie, also mit Verkehrung in's Gegentheil möglich wäre, nicht gerade klug gewesen.

     Der kleine Roman, den Sie so hoffnungsfreundlich erwähnen, kann dieses Jahr leider nicht mehr erscheinen und macht mir keineswegs so viel Spaß, wie er Ihnen zu machen scheint, eh' er nur zu | Tage gekrochen ist. Ich muß den letzten Rank immer noch finden, um aus dem Staub der Landstraße hinauszukommen, was mir das verfrühte Annoncieren erschwert, wo nicht verdorben hat. Ich habe hierbei gelernt, nie mehr einem Verleger oder Herausgeber etwas mitzutheilen und zuzusagen, ehe das Punktum gesetzt ist

     Mit allen Grüßen
                                                Ihr ergebener
                                                Gottfr. Keller

  

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