Gottfried Keller

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Zeitgenössische Rezensionen

Die Leute von Seldwyla Martin Salander
Karl Gutzkow, 1856 Fritz Mauthner, 1887
Berthold Auerbach, 1875  

Die Leute von Seldwyla

 

 

Karl Gutzkow (Juni 1856)

 

   

In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Neue Folge, Bd. 1

 

Anregungen. Die Leute von Seldwyla.
 
Unter diesem Titel hat {Gottfried Keller) (Braunschweig, Vieweg, 1856) einige Erzählungen herausgegeben, die schon durch den Namen des Verfassers mehr beanspruchen dürfen als nur die einfache Würdigung des fesselnden oder langweilenden Inhalts derselben.

Gottfried Keller ist ein Schweizer und gibt sich schon seit geraumer Zeit in unserer Literatur mit einer gewissen Sonderthümlichkeit. Er gehört zu den neuern Autoren, die von der fast ausschließlichen Wendung unserer Literatur zur Erzählung und zum provinzialen Colorit derselben den Vortheil gezogen haben, daß sie nur im Tone ihrer Heimat zu reden und ihre Jugendeindrücke auszubeuten brauchten, um sogleich am Parnaß eine zuvorkommende Begrüssung zu erleben. Auch er besitzt ein reichgefülltes Gedächtniß mit allerhand Schnurren und Schnacken und Schwänken, von seltsamen Abenteuern und Menschen und Erlebnissen aus seiner Gegend her. Er sieht sein heimatliches Wesen mit einer Klarheit vor sich wie ein Maler und hat z. B. in den Kommodenschubladen eines sentimentalen Dienstmädchens mit einem solchen Scharfblick gestöbert, daß man seine innigste Freude haben muß an den Prachtstücken von gemalten Stillleben dieser Sphäre, wie sie kein Wilhelm Kalf, kein Melchior Hondekoeter naturtreuer geschildert haben. Sowie aber der Autor seine Sphäre, d. h. die Erinnerung, verläßt, wandelt ihn denn doch ein auffallendes Ungeschick an, daß man sagen möchte, er gibt Opferschalen in der Gestalt von Butterbüchsen und läßt Menschen vor uns wandeln, denen die ledernen Hosen am Halse zugeknöpft sind. So erzählt in der ersten Geschichte ein schweizerischer Oberst Dinge, die er in Indien erlebt haben will und die ebenso gut in einem Puppenspiel sich ereignet haben könnten. Der vernünftige Mann, der in Frankreich ein Regiment commandirt, erzählt sie zwei schlafenden Personen, ja in der Manier des Verfassers hätte er sie ebenso gut seinem Stiefelknecht können erzählen lassen.

Die Geschichten von der Mutter Regula und den feindlichen Montecchi und Capuleti auf dem Dorfe sind ganz vortrefflich. Sie werden Denjenigen doppelt erfreuen, der die Phantasie und Localkenntniß besitzt, sich in all die kleinen schweizerischen Situationen zu versetzen, denen diese Vorgänge entnommen sind. Auch ist der malerische und poetische Blick des Autors in solchen Geschichten sehr bedeutsam. Er macht nicht viel Worte z. B. von den plastischen und dramatischen Effecten, die in den von ihm einfach geschilderten Thatsachen liegen; er läßt den Leser ergänzen und auf Das selbst aufhorchen, was zu seiner erzählenden ersten Violine sozusagen der Baß des Schicksals brummt.

Und doch zeigen wieder die beiden letzten Erzählungen des Buchs, wie man zurückhaltend und behutsam sein muß in solchen Zugeständnissen an den Autor. Nicht, daß auch einmal seine Erzählungen weniger anziehen sind; darauf kommt an sich wenig an. Mislich nur ist an dem Verfasser, daß er in seiner Eigenart auffallend breitspurig und behaglich und an seinen zuweilen recht schwachen Witzen, wie in den "Kammmachern", so gar gefallsüchtig sein kann. Gewiß, Gottfried Keller beobachtet sehr scharf; er hat viele Dinge (und Menschen ohnehin) im Nachtkleide, ungekämmt und ungewaschen gesehen; er enthüllt viel Allgewußtes und Dochnochnichtgesagtes mit Schärfe - könnten wir sagen mit grausamer Schärfe! Dann wäre in ihm wenigstens ein Wille, eine Ueberzeugung vorhanden, ein Aufschwung und eine wallende Regung des Herzens; Phlegma jedoch und Apathie lassen bei ihm selbst die Satire nicht recht aufkommen. Und so schlendert der Autor in einer gewissen menschenfeindlichen Selbstzufriedenheit hin, die uns um die Wirkungen eines großen Talents bringen wird.  


 

 

Berthold Auerbach (Juli 1875)

 

   

In: Deutsche Rundschau, Bd. 4, 1.7.1875

 

Gottfried Keller's Neue Schweizergestalten.
 
Die Leute von Seldwyla
. Erzählungen von Gottfried Keller. Zweite vermehrte Auflage in vier Bänden. Stuttgart, G. J. Göschen'sche Verlagsbuchhandlung.

Fünf neue Erzählungen von Gottfried Keller! Schön und gut. Warum schreibt aber der Mann nicht mehr?

Darauf gibt es eine Antwort in einer Geschichte von dem alemannischen Dichter Hebel. Den besucht einmal Ludwig Tieck in Karlsruhe und fragt ihn: "Herr Prälat, warum schreiben Sie nichts mehr?"

"Es fallt mir nichts mehr ein," erwidert Hebel.

Das ist's! Wie Viele schreiben, ohne daß ihnen was einfällt; sie zwingen unergiebige Motive aus, Probleme und Aufgaben, die sie eigentlich gar nichts angehen.

[...]

Naturen wie der Alemanne Peter Hebel und der Alemanne Gottfried Keller, die nicht in fortgesetzter dichterischer Berufsarbeit stehen, haben für ihre einzelnen Productionen eine besonders günstige Stellung.

Sie leben - noch dazu in Staatsbedienstungen - das unmittelbare Leben für sich fort und folgen nur der Lust eines besonderen Anreizes, freie Gestaltungen aus Wahrnehmung und Phantasie zu bilden. Geschieht das aber, dann ist jedes Wort und jede Wendung nicht nur gesättigt von reichen Anschauungen, sondern fließt auch aus einer von Innen quellenden Fülle des Empfindungsstromes.

Für uns Berufsgenossen ist ein neues Werk von Gottfried Keller immer die Sicherheit eines Festschmauses, und wir wissen, die Speisen sind nicht aus der Garküche geholt und wieder aufgewärmt, sondern am eigenen Herde und mit besonderer Würze gekocht. Vor neunzehn Jahren, im Jahre 1856, sind die ersten beiden Bände der Leute von Seldwyla erschienen. Ich freue mich, sagen zu können, daß ich einer der Ersten war, der die hohe Bedeutung Gottfried Keller's sofort öffentlich aussprach, wie auch, daß der frühere Roman des Dichters: "Der grüne Heinrich", trotz mannigfaltiger Compositionsfehler und der gewaltsamen Schlußwendung doch Schönheiten von solchem Range enthält, die dem Besten in deutscher Sprache an die Seite zu stellen sind.

Seit jener Zeit sind nur noch "Die sieben Legenden" erschienen, die von | einer seltenen Anmuth in Erfindung oder vielmehr in Ausführung gegebener Motive und im kernigen Vortrage sind.

Die vorliegenden Erzählungen sind nun bereits mehrere Monate erschienen, und ich wiederhole, was ich an einem anderen Orte ausgesprochen: wenn es gewiß gut und förderlich ist, das Werk eines Unbekannten rasch und nachdrücklich öffentlich zu beurtheilen, so ist es angemessener, das Werk eines bekannten und in fortgesetzter Kundgebung stehenden Autors erst dann zu beurtheilen, wenn es, wie sicher zu erwarten, bereits in den Händen des Publicums ist, so daß Jeder beistimmend oder abweichend seine eigene Wahrnehmung damit vergleichen kann. Könnte man nur sagen, daß die Dichtung Gottfried Keller's alsbald mit Sicherheit in der Phantasie aller gebildeten Deutschen sich festsetzt!

Gottfried Keller hat in seiner Geltung und Aufnahme viel Aehnlichkeit mit einem dichterischen Zeitgenossen ersten Ranges, ich meine mit Eduard Mörike. Eduard Mörike? Wer ist das? Was hat er geschrieben? So fragen noch heute viele Leute. Und dabei hat er eine Gemeinde von Kunstverständigen, die ihm mit herzhafter Liebe anhängt. Denn er hat Dichtungen geschaffen, mit denen er das dichterische Besitzthum der deutschen Nation wie Wenige seit dem Tode Goethe's vermehrt hat. Woher aber die Lässigkeit und Kälte des Publicums gegen zwei solche Dichter? Es ist nicht nur, weil sie - und das mit vollem Recht - gar nicht auf Gefallen bedacht sind und zunächst in der eigenen Freude am Schaffen stehen; denn das, was zu eigenem Genügen geschaffen ist, tritt ja vermöge seiner freien Organisation wieder in die Seele Anderer; sondern es ist, weil in den Werken beider Dichter eine Sprödigkeit und Selbstheit sich der leichteren Aufnahme Anderer entgegenstellt. Diese Selbstheit ist aber so in ihre Eigenart eingeschlossen, daß sie schwer herauszufinden ist. In allen modernen Dichtungen - Goethe ist da wiederum höchstes Beispiel - ist die Immanenz der Dichters, die aus der Fassung der Gegenstände hervorleuchtet, das Wirksamste. Bei Eduard Mörike und Gottfried Keller ist diese Selbstheit auch da, aber sie wehren fast geflissentlich jeden Aufschluß, jede Kundgebung ab. Sie haben Beide eine selbstverständliche Unbekümmertheit um die Welt, ja sogar einen Trotz gegen dieselbe.

Bei Gottfried Keller tritt noch ein Weiteres hinzu. Das ist kurz gesagt der Schweizer. Bevor ich hierauf eingehe, noch eine stoffliche Bemerkung. Das ewig Weibliche oder das vorherrschend Weibliche hat in unserer deutschen schönen Literatur überhand genommen. Es lag, wie ich später nachzuweisen suche, in unserm politischen Leben, oder vielmehr im Mangel an demselben, zugleich aber auch in der Thatsache, daß das Seelenleben der Frau, als dessen Mittelpunkt die Liebe, in allen Lebensschichten und allen Zeiten ein ähnliches ist und sich vornehmlich nur in Aeußerlichkeiten unterscheidet. Dadurch ist es an sich ergiebig und allseitig aufnahmsfähig, eine Frauengestalt zum Mittelpunkt einer Dichtung zu machen. Gottfried Keller nun hat aus seinem besonderen Naturell und aus seiner allgemeinen Schweizernatur dies vermieden oder eigentlich unterlassen.

Hier also der Schweizer. Wir Deutsche im Reiche sind seit dem dreißigjährigen Kriege des natürlichen gesunden politischen Lebens entwöhnt. Das | Wort des Perikles: "Bei uns wird Einer, der von Staatssachen sich ganz fern hält, nicht für einen Ruhe liebenden, sondern für einen unnützen Menschen gehalten," galt im deutschen Volke nicht. Als Schiller die Horen herauszugeben beabsichtigte, ward den Mitarbeitern mitgetheilt, daß Religion und Politik ausgeschlossen sei. Und Schiller äußerte damals selber, daß er dazu bestimmt sei aus Rücksicht auf die Macht und auf die Dummheit. Der Privatmensch in Wissenschaft und Kunst bildete sich eben vorherrschend aus. Der Schweizer dagegen ist seit Jahrhunderten in seinem Sein und Denken eingeschlossen in das politische Leben und in das kirchliche. Es erscheint deutschen Lesern oft verwundersam, wenn die Gestalten, die uns Gottfried Keller aufstellt, harthändige, derbe, bürgerlich thätige, plötzlich eine Einsicht und ein allgemeines Denken über Staat und Kirche kundgeben, das uns überrascht und mit der Sphäre, aus der sie gegriffen sind, gar nicht vereinbar erscheint. Denn wir Deutsche sind gewöhnt, die Bildungsstufe eines Menschen vorherrschend nach seiner ästhetischen Einsicht abzuschätzen. [...] Die höchsten Kräfte Deutschlands bethätigen sich literarisch und künstlerisch in Philosophie, in Dichtung und Musik. Der Idealismus ist aber nicht blos ein ästhetischer, wenn er auch im Gebiete des Schönen am reinsten als solcher erscheint. Es ist nicht ganz so, aber doch ähnlich, als ob man die feineren Sinne, Auge und Ohr, durch Kunstgenüsse erfreuen wollte, während die anderen Sinne noch hungern und dürsten. Ich meine, das eigentliche Leben muß erst fest erhalten und auferbaut sein, bevor ihm der Schmuck des Schönen zusteht. Anders war es in der Schweiz. Durch die stetige Betheiligung an Gestaltung des Staates ist in die weitesten Kreise hinein eine politische und religiöse Urtheilskraft gedrungen, die durchaus nicht parallel mit dem Aesthetischen ist. Und darum ist es vollkommen wahr und berechtigt, wenn Gottfried Keller Gestalten aus harthändigen Lebenskreisen eine höhere allgemeine Betrachtnahme in den denannten Gebieten zuerkennt, die uns in Deutschland fremd und unzukömmlich erscheinen kann.

Die fortwirkende Kraft der demokratischen Staatsverfassung hat den Schweizern | weniger Lesebildung, aber desto mehr Lebensbildung verliehen. Der Schweizer hat wenig Abstractionskraft, aber viel gesunden Menschenverstand, der sich aus der Nothwendigkeit des politischen Urtheils mit entwickelt. In jedem Schweizer ist ein Staatsbewußtsein, und das Vaterlandsgefühl ist zugleich Grund und Quelle des Ehrgefühls.

Es ist fast ein Dogma geworden, daß das politische Leben im Gegensatz zum künstlerischen, vor Allem aber zum dichterischen stehe. Unsere großen Dichter lebten und wirkten in der ausklingenden Zeit Friedrichs des Großen in einem Zeitalter politischer Verkümmerung. Sie sahen ein Volk vor sich, das in Unmündigkeit gehalten wurde, sich niedertreten und mißhandeln ließ. Die Dichterheroen schwangen sich in den heitern Aether des Olymp, wo tief unter ihnen die politischen Gewitterwolken dahinziehen. Ja man kam so weit, daß die führenden Geister das Nationalbewußtsein für eine niedere Bildungsstufe unreifer Völker erklärten.

Nicht vergessen darf aber werden, daß aus der idealistischen und kosmopolitischen Allgemeinheit unserer klassischen Dichtungsweise nicht nur für uns die geistigen Hochpunkte sich ausgebildet haben, sondern vor Allem auch den Schweizern eine Blüthe von unverwelklichem Duft und eine Frucht von unversiegbarem Saft sich entwickelte. Wenn es eines Beweises bedürfte, wie der moderne Dichtergeist fast parallel mit der alten Mythen-bildenden Kraft zu wirken vermag, wie die Dichterseele aufgehen kann in ein ganzes Volksthum, so ist Schiller's Tell das lebendigste Zeugniß. Die Tradition, worauf sich das schweizer Freiheits- und Selbstgefühl gründet, die Erweckung des Vaterlands- und Freiheitssinnes in der ganzen Eidgenossenschaft hat den reichsten Quell in der Schiller'schen Dichtung. Und gerade, daß hier ein Volksleben in die klassische Höhe gehoben wurde, das dem unsern so nahe verwandt und doch durch staatliche Abtrennung eine eigenthümliche Ferne und freie Ueberschau darbot, gerade das macht die Schiller'sche Dichtung zu einer Größe dichterischer und culturgeschichtlicher Bedeutung. Nicht ein eingeborener Schweizer, sondern ein Sohn des Nachbarlandes schuf den Schweizern Urbild und Vorbild. Schiller spannte den Bogen des Schützen Tell und schoß den Schweizern des Best aus dem Gabentempel unserer klassischen Literatur. In Gottfried Keller's "Grünem Heinrich" wird auch Schiller's Tell von den Schweizern in der gegebenen Landschaft unter freiem Himmel aufgeführt. Wenn Manchen, die sich Praktiker nennen, die Poesie als ein Luxus erscheinen mag, so ist Schiller's Tell ein glänzendes Zeugniß von der erziehenden Kraft der dichterischen Bildung, denn Schiller hat ein Stück seines Ideals der ästhetischen Erziehung durch seinen Tell am Schweizervolke vollzogen, wie er auch im Vaterlande einen politischen und patriotischen Sinn erweckte, der freilich erst nach seinem Tode zur Erscheinung kam.

Im weitesten Sinne genommen, hat der Roman "Der grüne Heinrich" ein ähnliches Thema wie Goethe's Wilhelm Meister: die Erziehung des Menschen aus dem Aesthetischen heraus zum Politischen. Aber wie ganz anders faßt dies der Schweizer. Ich möchte es symbolisch nennen, daß Wilhelm Meister auf seine Abenteuer zu Pferde ausreitet, während Heinrich Lee aus kleinen und engen Verhältnissen in die Welt hinauswandert. Und schon das ist bedeutsam, | wie Heinrich Lee schon früh mit der religiösen Frage sich beschäftigt - wie denn überhaupt Gottfried Keller so muthig als unnachsichtlich durch alle seine Productionen hindurch das hohle Phrasenthum in der Religion aufzeigt - während Goethe das religiöse Element ausgeschieden hat oder auch als gar nicht vorhanden betrachtet. Noch ein anderes Element des Schweizerthums kommt hinzu. In der schweizerischen Republik, wie in Amerika, sind die Berufsarten weder so getrennt, noch so verhärtet wie bei uns. Der Geistliche, der mit seinem Beruf zerfallen ist, wird Kaufmann; der Officier wird Fabrikant oder ist das zugleich mit seiner militärischen Stellung (das verlorene Lachen). Der Bürger wählt seinen Geistlichen, seinen Lehrer, seinen Beamten; er ist so berechtigt als verpflichtet, über die Lehren und Thätigkeiten derselben zu urtheilen.

Ein gewisses Gleichmaß der Cultur bindet auch die verschiedenen Stände; der Dichter hat nicht nöthig, die Uebergänge als etwas Besonderes zu motiviren. Die Gebildeten sind nicht blos immer die Gebenden, sondern auch die Empfangenden. Wenn bei der Confirmation Heinrich Lee's die Taglöhnerin mit zu Tische sitzt, und wenn Justine von der Wallfahrerin lernt und bei den Fabrikarbeiterinnen die höhere Einsicht zu gewinnen sucht, so ist darin auch nicht entfernt etwas Gewaltsames.

Von diesem historischen und thatsächlichen Untergrunde aus betrachtet, sind daher die Charaktere, die Stimmungen und die thatsächlichen Wendungen in den Erzählungen des Schweizers Gottfried Keller auf guten und festen Grund gestellt.

Die Localstimmung im weitesten Sinne, in den Menschen wie in der Naturumgebung, ist mit Sicherheit und Bestimmtheit festgehalten.

Wo ist nun aber Seldwyla? Ist es Rapperschwyl? Um den Züricher See spielen diese Geschichten. Aber der Dichter läßt sich wohlweislich nicht auf einen geographisch genau zu bezeichnenden Ort interniren. Er sagt in der Vorrede zu den neuen Leuten von Seldwyla, daß sich etwa sieben Städte im Schweizerland darum streiten, welche unter ihnen mit Seldwyla gemeint sei. Er bleibt dabei, in schelmischer Weise Versteck zu spielen. Mit vollem Recht. Denn es ist ergiebig, eine bestimmte Localität zu wählen, aber mißlich, eine wirkliche zu benamsen. Hat der Dichter eine bestimmte Localität gewählt, so gewinnt seine Darstellung sinnliche Anschaulichkeit und Bestimmtheit, die auch auf den Leser übergeht. Solches könnte keine frei componirte Landschaft ersetzen. Die Menschen und die Städte kommen in's Schwanken, wenn der Hintergrund, auf den sie aufgesetzt sind, ein schwankender ist. "Was das Auge sieht, glaubt das Herz," sagt das Sprüchwort. Das ist dichterisch genommen eine Hauptsache. Hat der Dichter wirklich gesehen, Landschaft und Gestalt, und kann er den Leser das sehen machen, dann glaubt das Herz des Lesers, so Verwunderliches ihm auch manchmal vor Augen gerückt wird. Sehen und sehen machen, da liegt's. Indem aber der Dichter keinen wirklichen Namen einsetzt, hat er doch wieder Freiheit genug, in Personen und Verhältnissen nach der Laune der freispielenden Phantasie zu schalten und walten. Damit hat er ein gut Stück der romantischen Freizügigkeit bewahrt oder auch eine Flugkraft, die vom realen Boden aus sich frei in die Lüfte schwingt.

[...]

Der Humor Gottfried Keller's ist nicht jener großprotzige, der sich damit was weiß, die Puppen tanzen zu lassen und immer wie an den Rand schreibt: bitte recht sehr, lieber Leser, ich weiß recht wol, was für ein närrischer Kauz die Person da ist; ich aber bin ein sehr vornehmer, sehr gelehrter, weltmännisch gebildeter Mann. - Wie ein guter Maler, der seine Freude an der Farbe hat und der Kraft, mit der sich Alles abhebt, so behandelt der Dichter jede Figur mit gleicher Liebe und gleichem Ernst. Und dieser Ernst widerspricht der Lustigkeit des Dargestellten keineswegs. Denn es heißt hier, wie in allem Echten: der Sache die Ehre geben.          

Gottfried Keller kennt keine Rücksicht auf die Ansprüche des Publicums. Und das mit Recht. Es wäre traurig, wenn der gerechte Stolz der Dichter verloren ginge. Die Pfahlwurzel am Baume der Poesie würde dadurch krank und der Stamm kernfaul, das Conciliante nähme überhand, und die reine, unbarmherzige Consequenz im freien Ausstrom der Phantasie wie in der Festhaltung der nothwendigen Folgerung der Conflicte und Charaktere zerflösse in Wohlgefälligkeit.

Wie weit der Dichter sich ein Publicum denkt, aus welchen Lebenssphären er sich dasselbe zusammensetzt und ob er überhaupt ein bestimmtes im Auge hat, das ist eine der schwierigsten Fragen. Jedenfalls muß es so bleiben, daß der Dichter nicht ein Publicum denkt, das ihn beherrscht, das Anforderungen an ihn stellt, sondern ein solches, das er lenkt, das ihm folgen muß durch die Consequenzen, seien diese nun genehm oder nicht. Die Respectabilität, die Rücksicht auf die Familie und die halbwüchsigen Töchter, wie sie den Engländern zum Gesetz geworden, ist ebenso schädigend, wie das andere Extrem der Franzosen, die vorzugsweise in eine Welt oder in die sogenannte Halbwelt führen, deren Erscheinungen in keiner geordneten Familie als persönliche Beziehungen gedacht werden können.

Es sollte kein Vorzug sein, aber es ist leider ein solcher: Gottfried Keller ist durchaus phrasenlos (er hat keinen Superlativ), den ganzen bereits in der Trödelbude ausgespeicherten Apparat von Redensarten verschmäht er, und wenn er dergleichen herausholt, wie z. B. von der Schlange, die am Busen genährt wird (III. Seite 132), so verleiht er sie in humoristischer Weise dem Herrn Litumlei. Gottfried Keller erzählt ganz naiv, oft scheinbar trocken. Aber wer Künstler ist, erkennt und empfindet die Naivität und gestaltet sie; durch das Gestalten steht er wieder drüber oder draußen, wie man es fassen mag; er kennt und übt das Gesetz der Perspective, wie das von Schatten und Licht, er erhöht und vertieft je nach Erforderniß. Aber er springt nicht dazwischen, um einen Charakter zu analysiren und zu zeigen, was für ein Schwerenöther er ist, der die Seele der Handelnden kennt und der dem Leser zugleich damit schmeichelt, indem er ihn gescheiter macht, als die handelnden Personen. Keller motivirt auch, aber fort und fort sachlich, er stattet jede Figur mit dem nothwendigen Maß kleiner Züge aus. Und diese Figuren haben, was das Beste ist, nicht blos | Geist, sondern Seele, aus welcher der ursprüngliche Naturlaut hervorbricht, den der Dichter nicht als rohen Aufschrei erfaßt, sondern künstlerisch articulirt.

[...]

 

 

Martin Salander

 

 

Fritz Mauthner (Januar 1887)

 

   

In: Die Nation, Nr. 17, 22.1.1887

 

Neue Romane.

I.

Gottfried Keller's "Martin Salander"#.

Auf bedeutende Künstler, welche langsam durch eine gläubige Gemeinde zu allgemeinem Ansehen emporgehoben werden, paßt ein bekanntes Sprichwort, nur in umgekehrter Fassung: Viel Ehr, viel Feind. Solange die Verehrer Gottfried Keller's einander beinahe zählen konnten, solange stand die Menge seinen köstlichen Dichtungen gleichgültig gegenüber. Jetzt sind ihm mit Recht Gegner erwachsen aus vielen harmlosen Leuten, welche jede Lobpreisung Keller's als eine persönliche Beleidigung betrachten müssen. Es ist etwas daran. Wenn man Keller einen großen Dichter nennt und der Herr Philister dennoch keine zehn Seiten mit wahrem Vergnügen lesen kann, so ist von zwei Dingen nur eins möglich: entweder sind die dreisten Bewunderer Keller's Schelme oder der Herr Philister ist ein beschränkter Kopf. Es kann nicht zweifelhaft sein, welche dieser Alternativen den Sieg davonträgt. Die Heyse und Scherer, welche zuerst den Namen Keller hinausgerufen haben, sind die beschränkten Köpfe, wenn man sie schon als ehrliche Leute will gelten lassen, und die Herren Philister sind wieder einmal die Wächter des guten Geschmacks gewesen, nämlich ihres eigenen.

Diese Gegner Keller's, welche unser Entzücken oft wirklich nicht begreifen können, sind mit dem neuesten Werke des gefährlichen Menschen unbekannterweise recht zufrieden gewesen. Eine unschickliche Veröffentlichung in ungleichen Stücken, nach ungleichen Zwischenräumen hatte den Ruf des Romans "Martin Salander" arg gefährdet. Die zahlreichen Damen und Herren, welche für Keller gegen ihre schlechtere Ueberzeugung nur schwärmten, weil sie die neue Mode früher als andere tragen wollten, schüttelten ihre Köpfe und fanden in dem Buche keine Spannung. Es kann den Herrschaften aber nicht erspart werden, sie werden das neue Werk doch noch aufmerksam lesen und darüber in Gesellschaft sprechen | müssen; denn "Martin Salander" ist doch wieder ein echter Keller und wird sich schließlich als das Ereigniß der Saison herausstellen, wenn das Dutzend anderer Buchereignisse der Saison ihre kurze Laufbahn vollendet haben werden.

Ich gehe freilich nicht so weit, das Kopfschütteln weiter Kreise mit der ungeschickten ersten Veröffentlichung allein oder gar mit einer böswilligen Verabredung erklären zu wollen. Gottfried Keller braucht nicht geschont zu werden. Zu den vielen Aehnlichkeiten zwischen ihm und Goethe gehört auch eine gewisse Lässigkeit, um nicht zu sagen Fahrlässigkeit des Aufbaues in Werken von langem Athem. Selbst die fast fragmentarische Form der ersten Veröffentlichung erinnert an die redaktionellen Sitten des achtzehnten Jahrhunderts, wo unsere größten Dichter den Druck mitunter beginnen ließen, nicht weil sie mit der Arbeit fertig waren, sondern um fertig zu werden. Nun, ganz so schlimm wie um die Komposition von Wilhelm Meister steht es um die Geschichte Martin Salander's nicht. Der Dichter hat nicht geradezu den Namen und das Alter seiner Helden vergessen, aber er gibt doch für die Entwicklung der Handlung indirekte Versprechungen, die dann nicht eingehalten werden. Auch sind die beiden großen Theile des Romans selbst zeitlich nicht scharf genug auseinander gehalten.

Martin Salander's Kampf um den Wohlstand seines schweizerischen Bürgerhauses, der im wesentlichen ein Kampf gegen seine eigene Schwachseligkeit und ideologische Thorheit ist, füllt behaglich den ersten Theil. Die vorzügliche Schilderung seiner Kinder und deren Gespielen, die unvergleichliche Zeichnung seiner guten, klugen, herrlichen Marienfrau geben dieser ersten Hälfte reiches und schönes Leben, aber der eigenartige und eigensinnige Charakter des Helden weist auf eine Klärung in größeren Kämpfen hin, die der zweite Theil und bieten soll. Man sieht voraus, wie die edle Thorheit Salander's sein Haus zum zweiten Male zu Grunde richten wird, wie die überlegene Frau den herangewachsenen Sohn aus der Fremde zu Hilfe ruft, und wie in diesem ein neues Geschlecht von klugen und guten ironischen Realisten, wie die Söhne der Marienfrau den Romantiker Salander aus der Sackgasse herausreißen. Was die zweite Hälfte des Romans nun wirklich bringt, ist ja weit mehr, als was wir fordern; nur was wir erwarten müssen, bringt sie nicht. Auf voller Keller'scher Höhe steht die große Novelle der beiden Salander-Mädchen und ihrer tragikomischen Ehe mit den Zwillingen. Einen gewaltigeren Humor als in dem Ende des Brüderpaares, das sich nur durch ein Ohrläppchen unterscheidet und doch zu zwei selbständigen Variationen desselben Lebenslaufes Stoff gibt, hat selbst Keller kaum bewiesen. Und wie ergötzlich ist die letzte Salanderiade Martin's, seine kleine Liebschaft mit der blödsinnigen Ungarin. Aber so gut das alles an frühere Züge angeknüpft ist, es erscheint doch zu selbständig. Die Bethätigung Salander's am öffentlichen Leben ist zwar mit der Novelle seiner Tochter eng genug verwebt, aber hier stört eine andere Absicht Keller's, die auch wieder auch Goethe'sche Spuren zurückgeht. Freilich hat Goethe sich erst im Alter gewöhnt, seinen vollendeten Realismus zu Gunsten eines ewigen Symbolisirens und Abstrahirens zu unterdrücken. Bei Keller scheint diese Neigung ganz unabhängig von den Jahren ein Theil seines Kunstprinzips zu sein. Schon im "Grünen Heinrich" schildert er z. B. das Münchener Leben mit sicheren realistischen Strichen, hüllt sich aber sofort in mystischen Nebel, sowie die inneren Erlebnisse seines Helden über das Nahe und Poetische hinauswachsen und in dem allgemeinen Strome der Zeitgeschichte mitgehen. Jetzt ist ihm, ein Menschenalter später, in seinem zweiten Roman genau dasselbe passirt. Seine realistische Kraft ist ihm nicht erlahmt; die Mutter der Zwillinge z. B. ist mit einer derben Lust gezeichnet, wie sie der Dichter des "Grünen Heinrich" (der Dichter der ersten Ausgabe) noch gar nicht besaß. Aber den Hintergrund aller einzelnen Salanderiaden bildet die politische Entwicklung, die langsame Reise des Schweizervolkes; und hier scheint mir Keller es versehen zu haben, daß er die politischen Verhältnisse immer nur mit weiten Allgemeinheiten andeutet, anstatt uns einen richtigen Schweizerroman mit allen Lokaltönen zu schenken. Sein Realismus wollte vielleicht wieder nur vor dem unpoetischen Halt machen; doch Keller ist der Mann, auch politische Kämpfe dichterisch zu zwingen, und sein Buch wäre auch als Schweizerroman eine vollgültige deutsche Dichtung geblieben.

Und welch eine Dichtung! Nachdem ich meine Bedenken mir schwer von der Seele geschrieben habe, möchte ich am liebsten das halbe Buch abschreiben, um den Leser am sichersten zur Bewunderung für Keller fortzureißen. Diese unverminderte Kraft der Sprache, welche für ganz neue, ganz Kellerische Stimmungen die guten alten Worte zu verwenden weiß, diese Weisheit, deren Mangel manchen Modedichter so lächerlich macht, und deren Vorwalten bei Keller immer poetisch bleibt, weil sie natürlich ist, dieser Reichthum an Charakteren, an lebendigen Menschenm denen Keller bis auf den Grund ihrer Persönlichkeit sieht, ohne darum die Bösen zur Hölle, die Guten zum Himmel zu verdammen, - und endlich dieser Humor, der von den besten Romantikern die Ironie, von Shakespeare die unbändige Lustigkeit, und von - nun eben von Keller die Phantastik genommen hat. Auf diesen Humor paßt nicht mehr das uralte Bild, daß er die lachende Thräne im Wappen führe; nicht Heinrich Heine, sondern Gottfried Keller hat die ironische Sentimentalität der Romantiker überwunden, darum ist nicht Heine, sondern erst Keller der Dichter, der uns endgültig von den Gespenstern der Romantik erlöst hat.

Aus der Fülle des Schönen sei nur eine einzige Gestalt besonders hervorgehoben, das Weib des Helden, die Marienfrau, deren gesunder Liebreiz und milde Schalkhaftigkeit den Vergleich mit jeder Frauengestalt jedes Künstlers aushält. "Um die Lippen regte es sich leise wie das feinste Lustspiel, das je in einem Frauengesichte ausgeführt wurde." So erscheint sie dem Dichter selbst, da sie alt geworden ist. Ich möchte nicht gerne überschwenglich werden in ihrem Lobe; aber eine Empfindung drängt sich auf und will zu Worte kommen: das konnte sogar Goethe nicht, das ist ein neuer Zauber, dessen Wunder dem Zeitalter Goethe's noch unbekannt waren.

So darf jeder Verehrer Keller's und auch die gleichgültige Lesewelt in dem neuen groß angelegten Romane einzelne Mängel bedauern und rügen, man mag getrost über die Schwerfälligkeit einzelner Theile klagen: wer aber trotzdem nicht mit ehrlicher Freude die Dichtung sich zu eigen macht, der bekennt sich wider Willen dazu, ein Leser zweiter Klasse zu sein.

Fritz Mauthner.

# Berlin 1886. Verlag von {Wilhelm Hertz} (Besser'sche Buchhandlung).