S. 11

KLEIDER MACHEN LEUTE.

 

           An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes
      Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen
      reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt
05   ist. Der Schneider trug in seiner Tasche nichts, als
      einen Fingerhut, welchen er, in Ermangelung irgend einer
      Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn er der
      Kälte wegen die Hände in die Hosen steckte, und die Finger
      schmerzten ihm ordentlich von diesem Drehen und Reiben, denn
10   er hatte wegen des Fallimentes irgend eines Seldwyler Schneidermeisters
      seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren
      und auswandern müssen. Er hatte noch nichts gefrühstückt
      als einige Schneeflocken, die ihm in den Mund geflogen, und
      er sah noch weniger ab, wo das geringste Mittagsbrot herwachsen
15   sollte. Das Fechten fiel ihm äußerst schwer, ja schien
      ihm gänzlich unmöglich, weil er über seinem schwarzen Sonntagskleide,
      welches sein einziges war, einen weiten dunkelgrauen
      Radmantel trug, mit schwarzem °Sammet ausgeschlagen, der
      seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh,
20   zumal dessen lange schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig
      gepflegt waren und er sich blasser aber regelmäßiger Gesichtszüge
      erfreute.

           Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne

----------

18  Sammet] Sammt  H2-E3

S. 12 

      daß er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde
      führte; vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren
     und im Stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber
      wäre er verhungert, als daß er sich von seinem Radmantel
05   und von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er
      ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte.

           Er konnte deshalb nur in größeren Städten arbeiten, wo
      solches nicht zu sehr auffiel; wenn er wanderte und keine Ersparnisse
      mitführte, geriet er in die größte Not. Näherte er
10   sich einem Hause, so betrachteten ihn die Leute mit Verwunderung
      und Neugierde und erwarteten eher alles andere, als
      daß er betteln würde; so erstarben ihm, da er überdies nicht
      beredt war, die Worte im Munde, also daß er der Märtyrer
      seines Mantels war und Hunger litt, so schwarz wie des
15   letzteren Sammetfutter.

          Als er bekümmert und geschwächt eine Anhöhe hinauf
      ging, stieß er auf einen neuen und bequemen Reisewagen, welchen
      ein herrschaftlicher Kutscher in Basel abgeholt hatte und
      seinem Herrn überbrachte, einem fremden Grafen, der irgendwo
20   in der Ostschweiz auf einem gemieteten oder angekauften alten
      Schlosse saß. Der Wagen war mit allerlei Vorrichtungen zur
      Aufnahme des Gepäckes versehen und schien deswegen schwer
      bepackt zu sein, obgleich alles leer war. Der Kutscher ging
      wegen des steilen Weges neben den Pferden, und als er oben
25   angekommen den Bock wieder bestieg, fragte er den Schneider,
      ob er sich nicht in den leeren Wagen setzen wolle. Denn es
      fing eben an zu regnen und er hatte mit einem Blicke gesehen,
      daß der Fußgänger sich matt und kümmerlich durch die Welt
      schlug.                             

30         Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und bescheiden an, 
      worauf der Wagen rasch mit ihm von dannen rollte und in
      einer kleinen Stunde stattlich und donnernd durch den Thorbogen

                               

S. 13

      von Goldach fuhr. Vor dem ersten Gasthofe, zur Wage
      genannt, hielt das vornehme Fuhrwerk plötzlich, und alsogleich
      zog der Hausknecht so heftig an der Glocke, daß der Draht
      beinahe entzwei ging. Da stürzten Wirt und Leute herunter
05   und rissen den Schlag auf; Kinder und Nachbaren umringten
      schon den prächtigen Wagen, neugierig, welch' ein Kern sich
      aus so unerhörter Schale enthülsen werde, und als der verdutzte
      Schneider endlich hervorsprang in seinem Mantel, blaß und schön
      und schwermütig zur Erde blickend, schien er ihnen wenigstens
10   ein geheimnisvoller Prinz oder Grafensohn zu sein. Der Raum
      zwischen dem Reisewagen und der Pforte des Gasthauses war
      schmal und im übrigen der Weg durch die Zuschauer ziemlich
      gesperrt. Mochte es nun der Mangel an Geistesgegenwart
      oder an Mut sein, den Haufen zu durchbrechen und einfach
15   seines Weges zu gehen, – er that dieses nicht, sondern
      ließ sich willenlos in das Haus und die Treppe hinangeleite
      und bemerkte seine neue seltsame Lage erst recht, als er sich
      in einen wohnlichen Speisesaal versetzt sah und ihm sein ehrwürdiger
      Mantel dienstfertig abgenommen wurde.     

20         «Der Herr wünscht zu speisen?» hieß es, «gleich wird
      serviert werden, es ist eben gekocht!»

          Ohne eine Antwort abzuwarten lief der Wagwirt in die
      Küche und rief: «In's drei Teufels Namen! Nun haben wir
      nichts als Rindfleisch und die Hammelskeule! Die Rebhuhnpastete
25   darf ich nicht anschneiden, da sie für die Abendherren
      bestimmt und versprochen ist. So geht es! Den einzigen Tag,
      wo wir keinen °solchen Gast erwarten und nichts da ist, muß
      ein solcher Herr kommen! Und der Kutscher hat ein Wappen
      auf den Knöpfen und der Wagen ist wie der eines Herzogs!
30   und der junge Mann mag kaum den Mund öffnen vor
      Vornehmheit!»

          Doch die ruhige Köchin sagte: «Nun, was ist denn da

----------

27  solchen] fehlt  H2-E3

S. 14

      zu lamentieren, Herr? Die Pastete tragen Sie nur kühn auf,
      die wird er doch nicht aufessen! Die Abendherren bekommen
      sie dann portionenweise, sechs Portionen wollen wir schon
      noch °herausbringen!»

05          «Sechs Portionen? Ihr vergeßt wohl, daß die Herren
      sich satt zu essen gewohnt sind!» meinte der Wirt, allein die
      Köchin fuhr unerschüttert fort: «Das sollen sie auch! Man
      läßt noch schnell ein halbes Dutzend Cotelettes holen, die
      brauchen wir so wie so für den Fremden, und was er übrig
10   läßt, schneide ich in kleine Stückchen und menge sie unter die
      Pastete, da lassen Sie nur mich machen!»

           Doch der wackere Wirt sagte ernsthaft: «Köchin, ich habe
      Euch schon einmal gesagt, daß dergleichen in dieser Stadt und
      in diesem Hause nicht angeht! Wir leben hier solid und ehrenfest
15   und vermögen es!»

           «Ei der Tausend, ja, ja!» rief die Köchin endlich etwas
      aufgeregt, «wenn man sich °dann nicht zu helfen weiß, so
      opfere man die Sache! Hier sind zwei Schnepfen, die ich den
      Augenblick vom Jäger gekauft habe, die kann man am Ende
20   der Pastete zusetzen! Eine mit Schnepfen gefälschte Rebhuhnpastete
      werden die Leckermäuler nicht beanstanden! Sodann sind
      auch die Forellen da, die größte habe ich in das siedende
      Wasser geworfen, wie der merkwürdige Wagen kam, und da
      kocht auch schon die Brühe im °Pfännchen, so haben wir also
25   einen Fisch, das Rindfleisch, das Gemüse mit den Cotelettes,
      den Hammelsbraten und die Pastete; geben Sie nur den
      Schlüssel, daß man das Eingemachte und den Dessert herausnehmen
      kann! Und den Schlüssel könnten Sie, Herr! mir mit
      Ehren und Zutrauen übergeben, damit man Ihnen nicht allerorten
30   nachspringen muß und oft in die größte Verlegenheit
      gerät!»

           «Liebe Köchin! Das braucht Ihr nicht übel zu nehmen,

----------

04  herausbringen!»] herauskriegen!  H2
17  dann] denn  H2
24  Pfännchen,] Pfännchen;  H2

S. 15

      ich habe meiner seligen Frau am °Totbette versprechen müssen,
      die Schlüssel immer in Händen zu behalten; sonach geschieht
      es grundsätzlich und nicht aus Mißtrauen. Hier sind die
      Gurken und hier die Kirschen, hier die Birnen und hier die
05   Aprikosen; aber das alte Confekt darf man nicht mehr aufstellen;
      geschwind soll die Lise zum Zuckerbeck laufen und
      frisches Backwerk holen, drei Teller, und wenn er eine gute
      Torte hat, soll er sie auch gleich mitgeben!»

           «Aber Herr! Sie können ja dem einzigen Gast das nicht
10   alles aufrechnen, das schlägt's beim besten Willen nicht heraus!»

           «Thut nichts, es ist um die Ehre! Das bringt mich nicht
      um; dafür soll ein großer Herr, wenn er durch unsere Stadt
      reis't, sagen können, er habe ein ordentliches Essen gefunden,
      obgleich er ganz unerwartet und im Winter gekommen sei!
15   Es soll nicht °heißen, wie von den Wirten zu Seldwyl, die
      alles Gute selber fressen und den Fremden die Knochen vorsetzen!
      Also frisch, munter, sputet Euch allerseits!»

           Während dieser umständlichen Zubereitungen befand sich
      der Schneider in der peinlichsten Angst, da der Tisch mit
20   glänzendem Zeuge gedeckt wurde, und so heiß sich der ausgehungerte
      Mann vor kurzem noch nach einiger Nahrung gesehnt
      hatte, so ängstlich wünschte er jetzt, der drohenden
      Mahlzeit zu entfliehen. Endlich faßte er sich einen Mut, nahm
      seinen Mantel um, setzte die Mütze auf und begab sich hinaus,
25   um den Ausweg zu gewinnen. Da er aber in seiner °Verwirrung,
      und in dem weitläufigen Hause die Treppe nicht
      gleich fand, so glaubte der Kellner, den der Teufel beständig
      umhertrieb, jener suche eine gewisse Bequemlichkeit, rief: «Erlauben
      Sie gefälligst, mein Herr, ich werde Ihnen den Weg
30   weisen!» und führte ihn durch einen langen Gang, der nirgend
      anders endigte, als vor einer schön lackierten Thüre, auf welcher
      eine zierliche Inschrift angebracht war.

  ----------

01  Totbette] Todbette  H2-E3
15  heißen,] heißen  H2-E3
25  Verwirrung,] Verwirrung  H2

S. 16 

           Also ging der Mantelträger ohne Widerspruch, sanft wie
      ein Lämmlein, dort hinein und schloß ordentlich hinter sich zu.
      Dort lehnte er sich bitterlich seufzend an die Wand, und wünschte
      der goldenen Freiheit der Landstraße wieder teilhaftig zu sein,
05   welche ihm jetzt, so schlecht das Wetter war, als das höchste
      Glück erschien.

           Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbstthätige Lüge,
      weil er in dem verschlossenen Raum ein wenig verweilte und
      er betrat hiermit den abschüssigen Weg des Bösen.

10          Unterdessen schrie der Wirt, der ihn gesehen hatte im
      Mantel dahin gehen: «Der Herr friert! °heizt mir ein im
      Saal! Wo ist die Lise, wo ist die Anne? Rasch einen Korb
      Holz in den Ofen und einige Hände voll Spähne, daß es
      brennt! Zum Teufel, sollen die Leute in der Wage im Mantel
15   zu Tisch sitzen?»

           Und als der Schneider wieder aus dem langen Gange
      hervorgewandelt kam, melancholisch wie der umgehende Ahnherr
      eines Stammschlosses, begleitete er ihn mit hundert Komplimenten
      und Handreibungen wiederum in den verwünschten
20   Saal hinein. Dort wurde er ohne ferneres Verweilen an den
      Tisch gebeten, der Stuhl zurechtgerückt und da der Duft der
      kräftigen Suppe, dergleichen er lange nicht gerochen, ihn
      vollends seines Willens beraubte, so ließ er sich in Gottes
      Namen nieder und tauchte sofort den schweren Löffel in die
25   braungoldene Brühe. In tiefem Schweigen erfrischte er seine
      matten Lebensgeister und wurde mit achtungsvoller Stille und
      Ruhe bedient.

           Als er den Teller geleert hatte und der Wirt sah, daß
      es ihm so wohl schmeckte, munterte er ihn höflich auf, noch einen
30   Löffel voll zu nehmen, das sei gut bei dem rauhen °Wetter.
      Nun wurde die Forelle aufgetragen, mit Grünem bekränzt, und
      der Wirt legte ein schönes Stück vor. Doch der Schneider,
      von Sorgen gequält, wagte in seiner Blödigkeit nicht, das

----------

11  heizt mir] heizet mehr  H2-E3
30  Wetter.] Absatzende   H2

S. 17

      blanke Messer zu brauchen, sondern hantierte schüchtern und
      zimperlich mit der silbernen Gabel daran herum. Das bemerkte
      die Köchin, welche zur Thür °hineinguckte, den großen
05   Herren zu sehen, und sie sagte zu den Umstehenden: «Gelobt
      sei Jesus Christ! Der weiß noch einen feinen Fisch zu essen,
      wie es sich gehört, der sägt nicht mit dem Messer in dem
      zarten Wesen herum, wie wenn er ein Kalb schlachten wollte.
      Das ist ein Herr von großem Hause, darauf wollt' ich schwören,
10   wenn es nicht verboten wäre! Und wie schön und traurig
      er ist! Gewiß ist er in ein armes Fräulein verliebt, das man
      ihm nicht lassen will! °Ja, ja, die vornehmen Leute haben
      auch ihre Leiden!»

           Inzwischen sah der Wirt, daß der Gast nicht trank, und
15   sagte ehrerbietig: «Der Herr mögen den Tischwein °nicht, befehlen
      Sie vielleicht ein Glas guten Bordeaux, den ich bestens
      empfehlen kann?»

           Da beging der Schneider den zweiten selbstthätigen Fehler,
      indem er aus Gehorsam ja statt nein sagte, und alsobald
20   verfügte sich der Wagwirt persönlich in den Keller, um eine
      ausgesuchte Flasche zu holen; denn es lag ihm alles daran,
      daß man sagen könne, es sei etwas Rechtes im Ort zu haben.
      Als der Gast von dem eingeschenkten Wein wiederum aus
      bösem Gewissen ganz kleine Schlücklein nahm, lief der Wirt
25   voll Freuden in die Küche, schnalzte mit der Zunge und rief:
      «Hol' mich der Teufel, der versteht's, der schlürft meinen
      guten Wein auf die Zunge, wie man einen Dukaten auf die
      Goldwage legt!»

           «Gelobt sei Jesus Christ!» sagte die Köchin, «ich hab's
30   °behauptet, daß er's versteht!»

           So nahm die Mahlzeit denn ihren Verlauf und zwar
      sehr langsam, weil der arme Schneider immer zimperlich und

----------

04  hineinguckte,] hereinguckte,  H2-E3
12  Ja, ja,] Ja ja,  H2-E2
15  nicht,] nicht;  H2
30  behauptet,] ja behauptet,  H2

S. 18

      unentschlossen aß und trank und der Wirt, um ihm Zeit zu
      lassen, die Speisen genugsam stehen ließ. Trotzdem war es
      nicht der Rede wert, was der Gast bis jetzt zu sich genommen;
      vielmehr begann der Hunger, der immerfort so gefährlich
05   gereizt wurde, nun den Schrecken zu überwinden, und als die
      Pastete von Rebhühnern erschien, schlug die Stimmung des
      Schneiders gleichzeitig um und ein fester Gedanke begann sich
      in ihm zu bilden. «Es ist jetzt einmal, wie es °ist,» sagte er
      sich, von einem neuen Tröpflein Weines erwärmt und aufgestachelt;
10   «nun wäre ich ein Thor, wenn ich die kommende
      Schande und Verfolgung ertragen wollte ohne mich dafür satt
      gegessen zu haben! Also vorgesehen, weil es noch Zeit ist!
      Das Türmchen, was sie da aufgestellt haben, dürfte leichtlich
      die letzte Speise sein, daran will ich mich halten, komme was
15   da wolle! Was ich einmal im Leibe habe, kann mir kein
      König wieder rauben!»

           Gesagt, gethan; mit dem Mute der Verzweiflung hieb
      er in die leckere Pastete, ohne an ein Aufhören zu denken, so
      daß sie in weniger als fünf Minuten zur Hälfte geschwunden
20   war und die Sache für die Abendherren sehr bedenklich zu
      werden begann. Fleisch, Trüffeln, Klößchen, Boden, Deckel,
      alles schlang er ohne Ansehen der Person hinunter, nur besorgt,
      sein Ränzchen voll zu packen, ehe das Verhängnis
      hereinbräche; dazu trank er den Wein in tüchtigen Zügen und
25   steckte große Brodbissen in den Mund; kurz es war eine so
      hastig belebte Einfuhr, wie wenn bei aufsteigendem Gewitter
      das Heu von der nahen Wiese gleich auf der Gabel in die
      Scheune geflüchtet wird. Abermals lief der Wirt in die Küche
      und rief: «Köchin! Er ißt die Pastete auf, während er den
30   Braten kaum berührt hat! Und den Bordeaux trinkt er in
      halben Gläsern!»

           «Wohl bekomm' es ihm,» sagte die Köchin, «lassen Sie

----------

08  ist,»] ist!  H2

S. 19

      ihn nur machen, der weiß, was Rebhühner sind! Wär' er ein
      gemeiner Kerl, so hätte er sich an den Braten gehalten!»

           «Ich sag's auch,» meinte der °Wirt: «es sieht sich zwar
      nicht ganz elegant an; aber so hab' ich, als ich zu meiner
05   Ausbildung reis'te, nur Generäle und Kapitelsherren essen
      sehen!»

           Unterdessen hatte der Kutscher die Pferde füttern lassen
      und selbst ein handfestes Essen eingenommen in der Stube für
      das untere Volk, und da er Eile hatte, ließ er bald wieder
10   anspannen. Die Angehörigen des Gasthofes zur Wage konnten
      sich nun nicht länger enthalten und fragten, eh' es zu spät
      wurde, den herrschaftlichen Kutscher geradezu, wer sein Herr
      da oben sei, und wie er heiße? Der Kutscher, ein schalkhafter
      und durchtriebener Kerl, versetzte: «Hat er es noch nicht selbst
15   gesagt?»

           «Nein,» hieß es, und er erwiderte: «Das glaub' ich
      wohl, der spricht nicht viel in einem Tage; nun, es ist der
      Graf Strapinski! Er wird aber heut' und vielleicht einige
      Tage hier bleiben, denn er hat mir befohlen mit dem Wagen
20   vorauszufahren.»

           Er machte diesen schlechten Spaß, um sich an dem Schneiderlein
      zu rächen, das, wie er glaubte, statt ihm für seine
      Gefälligkeit ein Wort des Dankes und des Abschiedes zu
      sagen, sich ohne Umsehen in das Haus begeben hatte und den
25   Herren spielte. Seine Eulenspiegelei aufs äußerste treibend,
      bestieg er auch den Wagen, ohne nach der Zeche für sich und
      die Pferde zu fragen, schwang die Peitsche und fuhr aus der
      Stadt, und alles ward so in der Ordnung befunden und dem
      guten Schneider aufs Kerbholz gebracht.

30         Nun mußte es sich aber fügen, daß dieser, ein geborener
      Schlesier, wirklich Strapinski hieß, Wenzel Strapinski, mochte
      es nun ein Zufall sein, oder mochte der Schneider sein Wanderbuch

----------

03  Wirt:] Wirth;  H2

S. 20

      im Wagen hervorgezogen, es dort vergessen und der
      Kutscher es zu sich genommen haben. Genug, als der Wirt
      freudestrahlend und händereibend vor ihn hintrat und fragte,
      ob der Herr Graf Strapinski zum Nachtisch ein Glas alten
05   Tokaier oder ein Glas Champagner nehme, und ihm meldete,
      daß die Zimmer soeben zubereitet würden, da erblaßte der
      arme Strapinski, verwirrte sich von neuem und erwiderte
      gar nichts.

           «Höchst interessant!» brummte der Wirt für sich, indem
10   er abermals in den Keller eilte und aus besonderem Verschlage
      nicht nur ein Fläschchen Tokaier, sondern auch ein Krügelchen
      Bocksbeutel holte und eine Champagnerflasche schlechthin unter
      den Arm nahm. Bald sah Strapinski einen kleinen Wald
      von Gläsern vor sich, aus welchem der Champagnerkelch wie
15   eine Pappel emporragte. Das glänzte, klingelte und duftete
      gar seltsam vor ihm, und was noch seltsamer war, der arme,
      aber zierliche Mann griff nicht ungeschickt in das Wäldchen
      hinein, und goß, als er sah, daß der Wirt etwas Rotwein
      in seinen Champagner that, einige Tropfen Tokaier in den
20   seinigen. Inzwischen war der Stadtschreiber und der Notar
      gekommen, um den Kaffee zu trinken, und das tägliche Spielchen
      um denselben zu machen; bald kam auch der ältere Sohn des
      Hauses °Häberlein und Co., der jüngere des Hauses Pütschli-
      Nievergelt, der Buchhalter einer großen Spinnerei, Herr Melcher
25   Böhni; allein statt ihre Partie zu spielen, gingen sämtliche
      Herren in weitem Bogen hinter dem polnischen Grafen herum,
      die Hände in den °hinteren Rocktaschen, mit den Augen blinzelnd
      und auf den Stockzähnen lächelnd. Denn es waren diejenigen
      Mitglieder guter Häuser, welche ihr Leben lang zu Hause
30   blieben, deren Verwandte und Genossen aber in aller Welt
      saßen, weswegen sie selbst die Welt sattsam zu kennen glaubten.

           Also das sollte ein polnischer Graf sein? Den Wagen

----------

23  Häberlein] Häberlin  H2-E3
27  hinteren] hintern  H2-E3

 

Kleider machen Leute

(S. 21-30)

S. 21

      hatten sie freilich von ihrem Comptoirstuhl aus gesehen; auch
      wußte man nicht, ob der Wirt den Grafen oder dieser jenen
      bewirte; doch hatte der Wirt bis jetzt noch keine dummen
      Streiche gemacht; er war vielmehr als ein ziemlich schlauer
05   Kopf bekannt, und so wurden denn die Kreise, welche die neugierigen
      Herren um den Fremden zogen, immer kleiner, bis
      sie sich zuletzt vertraulich an den gleichen Tisch setzten und sich
      auf gewandte Weise zu dem Gelage aus dem Stegreif einluden,
      indem sie ohne weiteres um eine Flasche zu würfeln
10   begannen.

           Doch tranken sie nicht zu viel, da es noch früh war;
      dagegen galt es, einen Schluck trefflichen Kaffee zu nehmen
      und dem Polacken, wie sie den Schneider bereits heimlich
      nannten, mit gutem Rauchzeug aufzuwarten, damit er immer
15   mehr röche, wo er eigentlich wäre.

           «Darf ich dem Herrn Grafen eine ordentliche Cigarre
      anbieten? ich habe sie von meinem Bruder auf Cuba direkt
      bekommen!» sagte der eine.

           «Die Herren Polen lieben auch eine gute Cigarrette, hier
20   ist echter Tabak aus Smyrna, mein Compagnon hat ihn gesandt,»
      rief der andere, indem er ein rotseidenes Beutelchen
      hinschob.

           «Dieser aus Damaskus ist feiner, Herr Graf,» rief der
      dritte, «unser dortiger Prokurist selbst hat ihn für mich
25   besorgt!»

           Der vierte streckte einen ungefügen Cigarrenbengel dar,
      indem er schrie: «Wenn Sie etwas ganz Ausgezeichnetes wollen,
      so versuchen Sie diese Pflanzercigarre aus Virginien, selbstgezogen,
      selbstgemacht und durchaus nicht käuflich!»

30         Strapinski lächelte sauersüß, sagte nichts und war bald
      in feine Duftwolken gehüllt, welche von der hervorbrechenden
      Sonne lieblich versilbert wurden. Der Himmel entwölkte sich in

 
S. 22

      weniger als einer Viertelstunde, der schönste Herbstnachmittag
      trat ein; es hieß, der Genuß der günstigen Stunde sei sich zu
      gönnen, da das Jahr vielleicht nicht viele solcher Tage mehr
      brächte; und es wurde beschlossen, auszufahren, den fröhlichen
05   Amtsrat auf seinem Gute zu besuchen, der erst vor wenigen
      Tagen gekeltert hatte, und seinen neuen Wein, den roten
      Sauser, zu kosten. Pütschli-Nievergelt, Sohn, sandte nach
      seinem Jagdwagen, und bald schlugen seine jungen Eisenschimmel
      das Pflaster vor der Wage. Der Wirt selbst ließ
10   ebenfalls anspannen, man lud den Grafen zuvorkommend ein,
      sich anzuschließen und die Gegend etwas kennen zu lernen.

           Der Wein hatte seinen Witz erwärmt; er überdachte schnell,
      daß er bei dieser Gelegenheit am besten sich unbemerkt entfernen
      und seine Wanderung fortsetzen könne; den Schaden
15   sollten die thörichten und zudringlichen Herren an sich selbst
      behalten. Er nahm daher die Einladung mit einigen höflichen
      Worten an und bestieg mit dem jungen Pütschli den
      Jagdwagen.

           Nun war es eine weitere Fügung, daß der Schneider,
20   nachdem er auf seinem Dorfe schon als junger Bursch dem
      Gutsherrn zuweilen Dienste geleistet, seine Militärzeit bei den
      Husaren abgedient hatte und demnach genugsam mit Pferden
      umzugehen verstand. Wie daher sein Gefährte höflich fragte,
      ob er vielleicht fahren möge, ergriff er sofort Zügel und
25   Peitsche und fuhr in schulgerechter Haltung in raschem Trabe
      durch das Thor und auf der Landstraße dahin, so daß die
      Herren einander ansahen und flüsterten: «Es ist richtig, es ist
      jedenfalls ein Herr!»

           In einer halben Stunde war das Gut des Amtsrates
30   erreicht, Strapinski fuhr in einem prächtigen Halbbogen auf
      und ließ die feurigen Pferde aufs beste anprallen; man sprang
      von den Wagen, der Amtsrat kam herbei und führte die

 
S. 23

      Gesellschaft ins Haus, und alsobald war auch der Tisch mit
      einem halben Dutzend Caraffen voll karneolfarbigen Sausers
      besetzt. Das heiße, gährende Getränk wurde vorerst geprüft,
      belobt, und sodann fröhlich in Angriff genommen, während
05   der Hausherr im Hause die Kunde herum trug, es sei ein
      vornehmer Graf da, ein Polacke, und eine feinere Bewirtung
      vorbereitete.

           Mittlerweile teilte sich die Gesellschaft in zwei Partieen,
      um das versäumte Spiel nachzuholen, da in diesem Lande
10   keine Männer zusammen sein konnten, ohne zu spielen, wahrscheinlich
      aus angeborenem Thätigkeitstriebe. Strapinski,
      welcher die Teilnahme aus verschiedenen Gründen ablehnen
      mußte, wurde eingeladen zuzusehen, denn das schien ihnen
      immerhin der Mühe wert, da sie so viel Klugheit und Geistesgegenwart
15   bei den Karten zu entwickeln pflegten. Er mußte
      sich zwischen beide Partieen setzen, und sie legten es nun darauf
      an, geistreich und gewandt zu spielen und den Gast zu gleicher
      Zeit zu unterhalten. So saß er denn wie ein kränkelnder
      Fürst, vor welchem die Hofleute ein angenehmes Schauspiel
20   aufführen und den Lauf der Welt darstellen. Sie erklärten
      ihm die bedeutendsten Wendungen, Handstreiche und Ereignisse,
      und wenn die eine Partei für einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit
      ausschließlich dem Spiele zuwenden mußte, so führte
      die andere dafür um so angelegentlicher die Unterhaltung mit
25   dem Schneider. Der beste Gegenstand dünkte sie °hierfür Pferde,
      Jagd und dergleichen; Strapinski wußte hier auch am besten
      Bescheid, denn er brauchte nur die Redensarten hervorzuholen,
      welche er einst in der Nähe von Offizieren und Gutsherren
      gehört und die ihm schon dazumal ausnehmend wohl gefallen
30   hatten. Wenn er diese Redensarten auch nur sparsam, mit
      einer gewissen Bescheidenheit und stets mit einem schwermütigen
      Lächeln vorbrachte, so erreichte er damit nur eine größere

----------

25  hierfür] hiefür  H2-E3


S. 24

      Wirkung; wenn zwei oder drei von den Herren aufstanden
      und etwa zur Seite traten, so sagten sie: «Es ist ein vollkommener
      Junker!»

           Nur Melcher Böhni, der Buchhalter, als ein geborener
05   Zweifler, rieb sich vergnügt die Hände und sagte zu sich selbst:
      «Ich sehe es kommen, daß es wieder einen Goldacher Putsch
      giebt, ja, er ist gewissermaßen schon da! Es war aber auch
      Zeit, denn schon sind's zwei Jahre seit dem letzten! Der Mann
      dort hat mir so wunderlich zerstochene Finger, vielleicht von
10   Praga oder Ostrolenka her! Nun, ich werde mich hüten, den
      Verlauf zu stören!»

           Die beiden Partieen waren nun zu Ende, auch das Sausergelüste
      der Herren gebüßt, und sie zogen nun vor, sich an den
      alten Weinen des Amtsrates ein wenig abzukühlen, die jetzt
15   gebracht wurden; doch war die Abkühlung etwas leidenschaftlicher
     Natur, indem sofort, um nicht in schnöden Müßiggang
      zu verfallen, ein allgemeines Hazardspiel vorgeschlagen wurde.
      Man mischte die Karten, jeder warf einen Brabanterthaler hin,
      und als die Reihe an Strapinski war, konnte er nicht wohl
20   seinen Fingerhut auf den Tisch setzen. «Ich habe nicht ein
      solches Geldstück,» sagte er errötend; aber schon hatte Melcher
      Böhni, der ihn beobachtet, für ihn eingesetzt, ohne daß jemand
      darauf acht gab, denn alle waren viel zu behaglich, als daß
      sie auf den Argwohn geraten wären, jemand in der Welt
25   könne kein Geld haben. Im nächsten Augenblicke wurde dem
      Schneider, der gewonnen hatte, der ganze Einsatz zugeschoben;
      verwirrt ließ er das Geld liegen und Böhni besorgte für ihn
      das zweite Spiel, welches ein anderer gewann, sowie das
      dritte. Doch das vierte und fünfte gewann wiederum der
30   Polacke, der allmählich aufwachte und sich in die Sache fand.
      Indem er sich still und ruhig verhielt, spielte er mit abwechselndem
      Glücke; einmal kam er bis auf einen Thaler herunter,
 


S. 25

      den er setzen mußte, gewann wieder, und zuletzt, als man das
      Spiel satt bekam, besaß er einige Louid'or, mehr als er jemals
      in seinem Leben besessen, welche er, als er sah, daß jedermann
      sein Geld einsteckte, ebenfalls zu sich nahm, nicht ohne Furcht,
05   daß alles ein Traum sei. Böhni, welcher ihn fortwährend
      scharf betrachtete, war jetzt °im Klaren über ihn und dachte:
      den Teufel fährt der in einem vierspännigen Wagen!

           Weil er aber zugleich bemerkte, daß der rätselhafte Fremde
      keine Gier nach dem Gelde gezeigt, sich überhaupt bescheiden
10   und nüchtern verhalten hatte, so war er nicht übel gegen ihn
      gesinnt, sondern beschloß, die Sache durchaus gehen zu lassen.

           Aber der Graf Strapinski, als man sich vor dem Abendessen
      im Freien erging, nahm jetzt seine Gedanken zusammen
      und hielt den rechten Zeitpunkt einer geräuschlosen Beurlaubung
15   für gekommen. Er hatte ein artiges Reisegeld und nahm sich
      vor, dem Wirt zur Wage von der nächsten Stadt aus sein
      aufgedrungenes Mittagsmahl zu bezahlen. Also schlug er
      seinen Radmantel malerisch um, drückte die Pelzmütze tiefer
      in die Augen und schritt unter einer Reihe von hohen Akazien
20   in der Abendsonne langsam auf und nieder, das schöne Gelände
      betrachtend, oder vielmehr den Weg erspähend, den er
      einschlagen wollte. Er nahm sich mit seiner °gewölbten Stirne,
      seinem lieblichen, aber schwermütigen Mundbärtchen, seinen
      glänzenden schwarzen Locken, seinen dunkeln Augen, im Wehen
25   seines faltigen Mantels vortrefflich aus; der Abendschein und
      das Säuseln der Bäume über ihm erhöhte den Eindruck, so
      daß die Gesellschaft ihn von Ferne mit Aufmerksamkeit und
      Wohlwollen betrachtete. Allmählich ging er immer etwas weiter
      vom Hause hinweg, schritt durch ein Gebüsch, hinter welchem
30   ein Feldweg vorüber ging, und als er sich vor den Blicken
      der Gesellschaft gedeckt sah, wollte er eben mit festem Schritt
      ins Feld rücken, als um eine Ecke herum plötzlich der Amtsrat

----------

06  im] fast im  H2
22  gewölbten] bewölkten  H2-E3


S. 26

      mit seiner Tochter Nettchen ihm entgegentrat. Nettchen war
      ein hübsches Fräulein, äußerst prächtig, etwas stutzerhaft gekleidet
      und mit Schmuck reichlich verziert.

           «Wir suchen Sie, Herr Graf!» rief der Amtsrat, «damit
05   ich Sie erstens hier meinem Kinde vorstelle und zweitens, um
      Sie zu bitten, daß Sie uns die Ehre erweisen möchten, einen
      Bissen Abendbrot mit uns zu nehmen; die anderen Herren
      sind bereits im Hause.»

           Der Wanderer nahm schnell seine Mütze vom Kopfe und
10   machte ehrfurchtsvolle, ja furchtsame Verbeugungen, von Rot
      übergossen. Denn eine neue Wendung war eingetreten, ein
      Fräulein beschritt den Schauplatz der Ereignisse. Doch schadete
      ihm seine Blödigkeit und übergroße Ehrerbietung °nicht bei der
      Dame; im Gegenteil, die Schüchternheit, Demut und Ehrerbietung
15   eines so vornehmen und interessanten jungen Edelmanns
      erschien ihr wahrhaft rührend, ja hinreißend. Da sieht
      man, fuhr es ihr durch den Sinn, je nobler, desto bescheidener
      und unverdorbener; merkt es euch, ihr Herren Wildfänge von
      Goldach, die ihr vor °den jungen Mädchen kaum mehr den
20   Hut berührt!

           Sie grüßte den Ritter daher auf das holdseligste, indem
      sie auch lieblich errötete, und sprach sogleich hastig und schnell
      und vieles mit ihm, wie es die Art behaglicher Kleinstädterinnen
      ist, die sich den Fremden zeigen wollen. Strapinski hingegen
25   wandelte sich in kurzer Zeit um; während er bisher nichts gethan
      hatte, um im geringsten in die Rolle einzugehen, die man
      ihm aufbürdete, begann er nun unwillkürlich, etwas gesuchter
      zu sprechen und mischte allerhand polnische Brocken in die
      Rede, kurz, das Schneiderblütchen fing in der Nähe des Frauenzimmers
30   an seine Sprünge zu machen und seinen Reiter davon
      zu tragen.

           Am Tisch erhielt er den Ehrenplatz neben der Tochter des

----------

13  nicht] nichts  H2
19  den] fehlt   H2


S. 27

      Hauses; denn die Mutter war gestorben. Er wurde zwar bald
      wieder melancholisch, da er bedachte, nun müsse er mit den andern
      wieder in die Stadt zurückkehren oder gewaltsam in die
      Nacht hinaus entrinnen, und da er ferner überlegte, wie vergänglich
05   das Glück sei, welches er jetzt genoß. Aber dennoch
      empfand er dies Glück und sagte sich zum voraus: «Ach,
      einmal wirst du doch in deinem Leben etwas vorgestellt und
      neben einem solchen höheren Wesen gesessen haben.»

           Es war in der That keine Kleinigkeit, eine Hand neben
10   sich glänzen zu sehen, die von drei oder vier Armbändern
      klirrte, und bei einem flüchtigen Seitenblick jedesmal einen
      abenteuerlich °reizend frisierten Kopf, ein holdes Erröten, einen
      vollen Augenaufschlag zu sehen. Denn er mochte thun oder
      lassen, was er wollte, alles wurde als ungewöhnlich und nobel
15   ausgelegt und die Ungeschicklichkeit selbst als merkwürdige Unbefangenheit
      liebenswürdig befunden von der jungen Dame,
      welche sonst stundenlang über gesellschaftliche Verstöße zu plaudern
      wußte. Da man guter Dinge war, sangen ein paar
      Gäste Lieder, die in den dreißiger Jahren Mode waren. Der
20   Graf wurde gebeten, ein polnisches Lied zu singen. Der Wein
      überwand seine Schüchternheit endlich, obschon nicht seine Sorgen;
      er hatte einst einige Wochen im Polnischen gearbeitet und
      wußte einige polnische Worte, sogar ein Volksliedchen auswendig,
      ohne ihres Inhaltes bewußt zu sein, gleich einem
25   Papagei. Also sang er mit edlem Wesen, mehr zaghaft als
      laut und mit einer Stimme, welche wie von einem geheimen
      Kummer leise zitterte, auf polnisch:

                  Hunderttausend Schweine pferchen
             Von der Desna bis zur Weichsel,
30          Und Kathinka, dieses Saumensch,
             Geht im Schmutz bis an die Knöchel!

----------

12  reizend] und reizend  H2


S. 28

                 Hunderttausend Ochsen brüllen
             Auf Volhyniens grünen Weiden,
             Und Kathinka, ja Kathinka,
             Glaubt, ich sei in sie verliebt!

05   «Bravo! Bravo!» riefen alle Herren, mit den Händen
      klatschend, und Nettchen sagte gerührt: «Ach das Nationale ist
      immer so schön!» Glücklicher Weise verlangte niemand die
      Uebersetzung dieses Gesanges.

           Mit dem Ueberschreiten solchen Höhepunktes der Unterhaltung
10   brach die Gesellschaft auf; der Schneider wurde wieder eingepackt
      und sorgfältig nach Goldach zurückgebracht; vorher hatte
      er versprechen müssen, nicht ohne Abschied davon zu reisen. Im
      Gasthof zur Wage wurde noch ein Glas Punsch genommen;
      jedoch Strapinski war erschöpft und verlangte nach dem Bette.
15   Der Wirt selbst führte ihn auf seine Zimmer, deren Stattlichkeit
      er kaum mehr beachtete, obgleich er nur gewohnt war, in dürftigen
      Herbergskammern zu schlafen. Er stand ohne alle und
      jede Habseligkeit mitten auf einem schönen Teppich, als der Wirt
      plötzlich den Mangel an Gepäck entdeckte und sich vor die Stirne
20   schlug. Dann lief er schnell hinaus, schellte, rief Kellner und
      Hausknechte herbei, wortwechselte mit ihnen, kam wieder und
      beteuerte: «Es ist richtig, Herr Graf, man hat vergessen, Ihr
      Gepäck abzuladen! Auch das Notwendigste fehlt!»

           «Auch das kleine Paketchen, das im Wagen lag?» fragte
25   Strapinski ängstlich, weil er an ein handgroßes Bündelein
      dachte, welches er auf dem Sitze hatte liegen lassen und das
      ein Schnupftuch, eine Haarbürste, einen Kamm, ein Büchschen
      Pommade und einen Stengel Bartwichse enthielt.

           «Auch dieses fehlt, es ist gar nichts da,» sagte der gute
30   Wirt erschrocken, weil er darunter etwas sehr Wichtiges vermutete.
      «Man muß dem Kutscher sogleich einen Expressen
      nachschicken,» rief er eifrig, «ich werde das besorgen!»

 

S. 29

          Doch der Herr Graf fiel ihm eben so erschrocken in den
      Arm und sagte bewegt: «Lassen Sie, es darf nicht sein! Man
      muß meine Spur verlieren für einige Zeit,» setzte er hinzu,
      selbst betreten über diese Erfindung.

05        Der Wirt ging erstaunt zu den Punsch trinkenden Gästen,
      erzählte ihnen den Fall und schloß mit dem Ausspruche, daß
      der Graf unzweifelhaft ein Opfer politischer oder der Familienverfolgung
      sein müsse; denn um eben diese Zeit wurden viele
      Polen und andere Flüchtlinge wegen gewaltsamer Unternehmungen
10   des Landes verwiesen; andere wurden von fremden
      Agenten beobachtet und umgarnt.

           Strapinski aber that einen guten Schlaf, und als er spät
      erwachte, sah er zunächst den prächtigen Sonntagsschlafrock des
      Wagwirtes über einen Stuhl gehängt, ferner ein Tischchen
15   mit allem möglichen Toilettenwerkzeug bedeckt. Sodann harrten
      eine Anzahl Dienstboten, um Körbe und Koffer, angefüllt mit
      feiner Wäsche, mit Kleidern, mit Cigarren, mit Büchern, mit
      Stiefeln, mit Schuhen, mit Sporen, mit Reitpeitschen, mit
      Pelzen, mit Mützen, mit Hüten, mit Socken, mit Strümpfen,
20   mit Pfeifen, mit Flöten und Geigen abzugeben von seiten der
      gestrigen Freunde, mit der angelegentlichen Bitte, sich dieser
      Bequemlichkeiten einstweilen bedienen zu wollen. Da sie die
      Vormittagsstunden unabänderlich in ihren Geschäften verbrachten,
      ließen sie ihre Besuche auf die Zeit nach Tisch ansagen.

25        Diese Leute waren nichts weniger, als lächerlich oder einfältig,
      sondern umsichtige Geschäftsmänner, mehr schlau als
      vernagelt; allein da ihre wohlbesorgte Stadt klein war und es
      ihnen manchmal langweilig darin vorkam, waren sie stets begierig
      auf eine Abwechslung, ein Ereignis, einen Vorgang,
30   dem sie sich ohne Rückhalt hingaben. Der vierspännige Wagen,
      das Aussteigen des Fremden, sein Mittagessen, die Aussage des
      Kutschers waren so einfache und natürliche Dinge, daß die Goldacher,

 
S. 30  

      welche keinem müßigen Argwohn nachzuhängen pflegten,
      ein Ereignis darauf aufbauten, wie auf einen Felsen.

           Als Strapinski das Warenlager sah, das sich vor ihm
      ausbreitete, war seine erste Bewegung, daß er in seine Tasche
05   griff, um zu erfahren, ob er träume oder wache. Wenn sein
      Fingerhut dort noch in seiner Einsamkeit weilte, so träumte er.
      Aber nein, der Fingerhut wohnte traulich zwischen dem gewonnenen
      Spielgelde und scheuerte sich freundschaftlich an den
      Thalern; so ergab sich auch sein Gebieter wiederum in das
10   Ding und stieg von seinen Zimmern herunter auf die Straße,
      um sich die Stadt zu besehen, in welcher es ihm so wohl erging.
      Unter der Küchenthüre stand die Köchin, welche ihm
      einen tiefen Knix machte und ihm mit neuem Wohlgefallen
      nachsah; auf dem Flur und an der Hausthüre standen andere
15   Hausgeister, alle mit der Mütze in der Hand, und Strapinski
      schritt mit gutem Anstand und doch bescheiden °heraus, seinen
      Mantel sittsam zusammennehmend. Das Schicksal machte ihn
      mit jeder Minute größer.

           Mit ganz anderer Miene besah er sich die Stadt, als
20   wenn er um Arbeit darin ausgegangen wäre. Dieselbe bestand
      größtenteils aus schönen, festgebauten Häusern, welche
      alle mit steinernen oder gemalten Sinnbildern geziert und mit
      einem Namen versehen waren. In diesen Benennungen war
      die Sitte der Jahrhunderte deutlich zu erkennen. Das Mittelalter
25   spiegelte sich ab in den ältesten Häusern oder in den
      Neubauten, welche an deren Stelle getreten, aber den alten
      Namen behalten aus der Zeit der kriegerischen Schultheiße und
      der Märchen. Da hieß es: zum Schwert, zum Eisenhut, zum
      Harnisch, zur Armbrust, zum blauen Schild, zum Schweizerdegen,
30   zum Ritter, zum Büchsenstein, zum Türken, zum Meerwunder,
      zum goldenen Drachen, zur Linde, zum Pilgerstab,
      zur Wasserfrau, zum Paradiesvogel, zum Granatbaum, zum
 
----------

16  heraus,] hinaus,  H2

  

Kleider machen Leute

(S. 31-40)

S. 31

      Kämbel, zum Einhorn u. dgl. Die Zeit der Aufklärung und
      der Philanthropie war deutlich zu lesen in den moralischen Begriffen,
      welche in schönen Goldbuchstaben über den Hausthüren
      erglänzten, wie: zur Eintracht, zur Redlichkeit, zur alten Unabhängigkeit,
05   zur neuen Unabhängigkeit, zur Bürgertugend a,
      zur Bürgertugend b, zum Vertrauen, zur Liebe, zur Hoffnung,
      zum Wiedersehen 1 und 2, zum Frohsinn, zur inneren Rechtlichkeit,
      zur äußeren Rechtlichkeit, zum Landeswohl (ein reinliches
      Häuschen, in welchem hinter einem Kanarienkäficht, ganz mit
10   Kresse behängt, eine freundliche alte Frau saß mit einer weißen
      Zipfelhaube und Garn haspelte), zur Verfassung (unten haus'te
      ein Böttcher, welcher eifrig und mit großem Geräusch kleine Eimer
      und Fäßchen mit Reifen einfaßte und unablässig klopfte); ein
      Haus hieß schauerlich: zum Tod! ein verwaschenes Gerippe erstreckte
15   sich von unten bis oben zwischen den Fenstern; hier
      wohnte der Friedensrichter. Im Hause zur Geduld wohnte der
      Schuldenschreiber, ein ausgehungertes Jammerbild, da in dieser
      Stadt keiner dem °andern etwas schuldig blieb.

           Endlich verkündete sich an den neuesten Häusern die Poesie
20   der Fabrikanten, Bankiere und Spediteure und ihrer Nachahmer
      in den wohlklingenden Namen: Rosenthal, Morgenthal, Sonnenberg,
      Veilchenburg, Jugendgarten, Freudenberg, Henriettenthal,
      zur Camellia, Wilhelminenburg u. s. w. Die an Frauennamen
      gehängten Thäler und Burgen bedeuteten für den Kundigen
25   immer ein schönes Weibergut.

           An jeder Straßenecke stand ein alter Turm mit reichem
      Uhrwerk, buntem Dach und zierlich vergoldeter Windfahne.
      Diese Türme waren sorgfältig erhalten; denn die Goldacher
      erfreuten sich der Vergangenheit und der Gegenwart und
30   thaten auch recht daran. Die ganze Herrlichkeit war aber von
      der alten Ringmauer eingefaßt, welche, obwohl nichts mehr
      nütze, dennoch zum Schmucke beibehalten wurde, da sie ganz

----------

18  andern] anderen  E2-E3

S. 32

      mit °dichtem, altem Epheu überwachsen war und so die kleine
      Stadt mit einem immergrünen Kranze umschloß.

           Alles dieses machte einen wunderbaren Eindruck auf
      Strapinski; er glaubte sich in einer anderen Welt zu befinden.
05   Denn als er die Aufschriften der Häuser las, dergleichen er
      noch nicht gesehen, war er der Meinung, sie bezögen sich auf
      die besonderen Geheimnisse und Lebensweisen jedes Hauses und
      es sehe hinter jeder Hausthüre wirklich so aus, wie die Ueberschrift
      angab, so daß er in eine Art moralisches Utopien hinein
10   geraten wäre. So war er geneigt zu glauben, die wunderliche
      Aufnahme, welche er gefunden, hänge hiemit im Zusammenhang,
      so daß z. B. das Sinnbild der Wage, in welcher er
      wohnte, bedeute, daß dort das ungleiche Schicksal abgewogen
      und ausgeglichen und zuweilen ein reisender Schneider zum
15   Grafen gemacht würde.

           Er geriet auf seiner Wanderung auch vor das Thor, und
      wie er nun so über das freie Feld hinblickte, meldete sich zum
      letzten Male der pflichtgemäße Gedanke, seinen Weg unverweilt
      fortzusetzen. Die Sonne schien, die Straße war schön, fest,
20   nicht zu trocken und auch nicht naß, zum Wandern wie gemacht.
      Reisegeld hatte er nun auch, so daß er angenehm einkehren
      konnte, wo er Lust dazu verspürte, und kein Hindernis
      war zu erspähen.

           Da stand er nun, gleich dem Jüngling am Scheidewege,
25   auf einer wirklichen Kreuzstraße; aus dem Lindenkranze, welcher
      die Stadt umgab, stiegen gastliche Rauchsäulen, die goldenen
      Turmknöpfe funkelten lockend aus den Baumwipfeln; Glück,
      Genuß und Verschuldung, ein geheimnisvolles Schicksal winkten
      dort; von der Feldseite her aber glänzte die freie Ferne;
30   Arbeit, Entbehrung, Armut, Dunkelheit harrten dort, aber auch
      ein gutes Gewissen und ein ruhiger Wandel; dieses fühlend,
      wollte er denn auch entschlossen ins Feld abschwenken. Im

----------

01  dichtem,] dichtem  H2-E3

S. 33

      gleichen Augenblicke rollte ein rasches Fuhrwerk heran; es war
      das Fräulein von gestern, welches mit °wehendem, blauem
      Schleier ganz allein in einem schmucken leichten Fuhrwerke saß,
      ein schönes Pferd regierte und nach der Stadt fuhr. Sobald
05   Strapinski nur an seine Mütze griff und dieselbe demütig vor
      seine Brust nahm in seiner Ueberraschung, verbeugte sich das
      Mädchen rasch errötend gegen ihn, aber überaus freundlich,
      und fuhr in großer Bewegung, das Pferd zum Galopp antreibend,
      davon.

10        Strapinski aber machte unwillkürlich ganze Wendung und
      kehrte getrost nach der Stadt zurück. Noch an demselben Tage
      galoppierte er auf dem besten Pferde der Stadt, an der Spitze
      einer ganzen Reitergesellschaft, durch die Allee, welche um die
      grüne Ringmauer führte, und die fallenden Blätter der Linden
15   tanzten wie ein goldener Regen um sein verklärtes Haupt.

           Nun war der Geist in ihn gefahren. Mit jedem Tage
      wandelte er sich, gleich einem Regenbogen, der zusehends bunter
      wird an der vorbrechenden Sonne. Er lernte in Stunden, in
      Augenblicken, was andere nicht in Jahren, da es in ihm gesteckt
20   hatte, wie das Farbenwesen im Regentropfen. Er beachtete
      wohl die Sitten seiner Gastfreunde und bildete sie während
      des Beobachtens zu einem Neuen und Fremdartigen um; besonders
      suchte er abzulauschen, was sie sich eigentlich unter
      ihm dächten und was für ein Bild sie sich von ihm gemacht.
25   Dies Bild arbeitete er weiter aus nach seinem eigenen Geschmacke,
      zur vergnüglichen Unterhaltung der einen, welche
      gern etwas Neues sehen wollten, und zur Bewunderung der
      anderen, besonders der Frauen, welche nach erbaulicher Anregung
      dürsteten. So ward er rasch zum Helden eines artigen
30   Romanes, an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebevoll
      arbeitete, dessen Hauptbestandteil aber immer noch das
      Geheimnis war.

----------

02  wehendem,] wehendem  H2-E3

 
S. 34

           Bei °alledem °verlebte Strapinski, was er in seiner Dunkelheit
      früher nie gekannt, eine schlaflose Nacht um die andere,
      und es ist mit Tadel hervorzuheben, daß es eben so viel die
      Furcht vor der Schande, als armer Schneider entdeckt zu
05   werden und dazustehen als das ehrliche Gewissen war, was
      ihm den Schlaf raubte. Sein angeborenes Bedürfnis, etwas
      Zierliches und Außergewöhnliches vorzustellen, wenn auch nur
      in der Wahl der Kleider, hatte ihn in diesen Conflikt geführt
      und brachte jetzt auch jene Furcht hervor, und sein Gewissen
10   war nur insoweit mächtig, daß er beständig den Vorsatz nährte,
      bei guter Gelegenheit einen Grund zur Abreise zu finden und
      dann durch Lotteriespiel und dergleichen die Mittel zu gewinnen,
      aus geheimnisvoller Ferne °zu vergüten, um was er die gastfreundlichen
      Goldacher gebracht hatte. Er ließ sich auch schon
15   aus allen Städten, wo es Lotterieen oder Agenten derselben
      gab, Lose kommen mit mehr oder weniger bescheidenem Einsatze,
      und die daraus entstehende Correspondenz, der Empfang
      der Briefe wurde wiederum als ein Zeichen wichtiger Beziehungen
      und Verhältnisse vermerkt.

20        Schon hatte er mehr als ein Mal ein paar Gulden gewonnen
      und dieselben sofort wieder zum Erwerb neuer Lose
      verwendet, als er eines Tages von einem fremden Collecteur,
      der sich aber Bankier nannte, eine namhafte Summe empfing,
      welche hinreichte, jenen Rettungsgedanken auszuführen. Er
25   war bereits nicht mehr erstaunt über sein Glück, das sich von
      selbst zu verstehen schien, fühlte sich aber doch erleichtert und
      besonders dem guten Wagwirt gegenüber beruhigt, welchen er
      seines guten Essens wegen sehr wohl leiden mochte. Anstatt
      aber kurz abzubinden, seine Schulden gradaus zu bezahlen und
30   abzureisen, gedachte er, wie er sich vorgenommen, eine kurze
      Geschäftsreise vorzugeben, dann aber von irgend einer großen Stadt
      aus zu melden, daß das unerbittliche Schicksal ihm verbiete,

----------

01  alledem] alldem  H2-E3
01  verlebte] erlebte  H2
13  zu] alles zu  H2

S. 35

      je wiederzukehren; dabei °wolle er seinen Verbindlichkeiten nachkommen,
      ein gutes Andenken hinterlassen und seinem Schneiderberufe
      sich aufs neue und mit mehr Umsicht und Glück widmen,
      oder auch sonst einen anständigen Lebensweg erspähen. Am
05   liebsten wäre er freilich auch als Schneidermeister in Goldach
      geblieben und hätte jetzt die Mittel gehabt, sich da ein bescheidenes
     Auskommen zu begründen; allein es war klar, daß
      er hier nur als Graf leben konnte.

           Wegen des sichtlichen Vorzuges und Wohlgefallens, dessen
10   er sich bei jeder Gelegenheit von Seite des schönen Nettchens
      zu erfreuen hatte, waren schon manche Redensarten im Umlauf
      und er hatte sogar bemerkt, daß das Fräulein hin und wieder
      die Gräfin genannt wurde. Wie konnte er diesem Wesen nun
      eine solche Entwicklung bereiten? Wie konnte er das Schicksal,
15   das ihn gewaltsam so erhöht hatte, so frevelhaft Lügen strafen
      und sich selbst beschämen?

           Er hatte von seinem Lotteriemann, genannt Bankier,
      einen Wechsel bekommen, welchen er bei einem Goldacher Haus
      einkassierte; diese Verrichtung bestärkte abermals die günstigen
20   Meinungen über seine Person und Verhältnisse, da die soliden
      Handelsleute nicht im entferntesten an einen Lotterieverkehr
      dachten. An demselben Tage nun begab sich Strapinski auf
      einen stattlichen Ball, zu dem er geladen war. In tiefes,
      einfaches Schwarz gekleidet erschien er und verkündete sogleich
25   den ihn Begrüßenden, daß er genötigt sei, zu verreisen.

           In zehn Minuten war die Nachricht der ganzen Versammlung
      bekannt und Nettchen, deren Anblick Strapinski suchte,
      schien, wie erstarrt, seinen Blicken auszuweichen, bald rot, bald
      blaß werdend. Dann tanzte sie mehrmals hinter einander mit
30   jungen Herren, setzte sich zerstreut und schnell atmend und schlug
      eine Einladung des Polen, der endlich herangetreten war, mit
      einer kurzen Verbeugung aus, ohne ihn anzusehen.

----------

01  wolle] wollte H2

S. 36

           Seltsam aufgeregt und bekümmert ging er hinweg, nahm
      seinen famosen Mantel um und schritt mit wehenden Locken
      in einem Gartenwege auf und nieder. Es wurde ihm nun
      klar, daß er eigentlich nur dieses Wesens halber so lange dageblieben
05   sei, daß die unbestimmte Hoffnung, doch wieder in
      ihre Nähe zu kommen, ihn unbewußt belebte, daß aber der
      ganze Handel eben eine Unmöglichkeit darstelle von der verzweifeltsten
      Art.

           Wie er so dahin schritt, hörte er rasche Tritte hinter sich,
10   leichte, doch unruhig bewegte. Nettchen ging an ihm vorüber
      und schien, nach einigen ausgerufenen Worten zu urteilen, nach
      ihrem Wagen zu suchen, obgleich derselbe auf der andern Seite
      des Hauses stand und hier nur Winterkohlköpfe und eingewickelte
      Rosenbäumchen den Schlaf der Gerechten verträumten.
15   Dann kam sie wieder zurück und da er jetzt mit klopfendem
      Herzen ihr im Wege stand und bittend die Hände nach ihr
      ausstreckte, fiel sie ihm ohne weiteres um den Hals und fing
      jämmerlich an zu weinen. Er bedeckte ihre glühenden Wangen
      mit seinen fein duftenden dunklen Locken und sein Mantel
20   umschlug die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens
      wie mit schwarzen Adlersflügeln; es war ein wahrhaft schönes
      Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu
      tragen schien.

           Strapinski aber verlor in diesem Abenteuer seinen Verstand
25   und gewann das Glück, das öfter den Unverständigen
      hold ist. Nettchen eröffnete ihrem Vater noch in selbiger Nacht
      beim Nachhausefahren, daß kein anderer als der Graf der
      Ihrige sein werde; dieser erschien am Morgen in aller Frühe,
      um bei dem Vater °liebenswürdig, schüchtern und melancholisch,
30   wie immer, um sie zu werben, und der Vater hielt folgende
      Rede:

           «So hat sich denn das Schicksal und der Wille dieses

----------

29  liebenswürdig,] liebenswürdig  H2-E3

S. 37

      thörichten Mädchens erfüllt! Schon als Schulkind behauptete
      sie fortwährend nur einen Italiener oder einen Polen, einen
      großen Pianisten oder einen Räuberhauptmann mit schönen
      Locken heiraten zu wollen, und nun haben wir die Bescherung!
05   Alle inländischen wohlmeinenden Anträge hat sie ausgeschlagen,
      noch neulich mußte ich den gescheiten und tüchtigen Melchior
      Böhni heimschicken, der noch große Geschäfte machen wird, und
      sie hat ihn noch schrecklich verhöhnt, weil er nur ein rötliches
      Backenbärtchen trägt und aus einem silbernen Döschen schnupft!
10   Nun, Gott sei Dank, ist ein polnischer Graf da aus wildester
      Ferne! Nehmen Sie dieGans, Herr Graf, und schicken Sie
      mir dieselbe wieder, wenn sie in Ihrer Polackei friert und
      einst unglücklich wird und heult! Ach, was würde die selige
      Mutter für ein Entzücken genießen, wenn sie noch erlebt hätte,
15   daß das verzogene Kind eine Gräfin geworden ist!»

           Nun gab es große Bewegung; in wenig Tagen sollte
      rasch die Verlobung gefeiert werden, denn der Amtsrat behauptete,
      daß der künftige Schwiegersohn sich in seinen Geschäften
      und vorhabenden Reisen nicht durch Heiratssachen
20   dürfe aufhalten lassen, sondern diese durch die Beförderung
      jener beschleunigen müsse.

           Strapinski brachte zur Verlobung Brautgeschenke, welche
      ihn die Hälfte seines zeitlichen Vermögens kosteten; die andere
      Hälfte verwandte er zu einem Feste, das er seiner Braut geben
25   wollte. Es war eben Fastnachtszeit und bei hellem Himmel
      ein verspätetes glänzendes Winterwetter. Die Landstraßen
      boten die prächtigste Schlittenbahn, wie sie nur selten entsteht
      und sich hält, und Herr von Strapinski veranstaltete darum
      eine Schlittenfahrt und einen Ball in dem für solche Feste
30   beliebten stattlichen Gasthause, welches auf einer Hochebene mit
      der schönsten Aussicht gelegen war, etwa zwei gute Stunden
      entfernt und genau in der Mitte zwischen Goldach und Seldwyla.

S. 38

           Um diese Zeit geschah es, daß Herr Melchior Böhni in
      der letzteren Stadt Geschäfte zu besorgen hatte und daher
      einige Tage vor dem Winterfest in einem leichten Schlitten
      dahin fuhr, seine beste Cigarre rauchend; und es geschah
05   ferner, daß die Seldwyler auf den gleichen Tag, wie die
      Goldacher, auch eine Schlittenfahrt verabredeten, nach dem
      gleichen Orte, und zwar eine kostümierte oder Maskenfahrt.

           So fuhr denn der Goldacher Schlittenzug gegen die
      Mittagsstunde unter Schellenklang, Posthorntönen und
10   Peitschenknall durch die Straßen der Stadt, daß die Sinnbilder
      der alten Häuser erstaunt herniedersahen, und zum Thore
      hinaus. Im ersten Schlitten saß Strapinski mit seiner Braut,
      in einem polnischen Ueberrock von grünem Sammet, mit
      Schnüren besetzt und schwer mit Pelz verbrämt und gefüttert.
15   Nettchen war ganz in weißes Pelzwerk gehüllt; blaue Schleier
      schützten ihr Gesicht gegen die frische Luft und gegen den
      Schneeglanz. Der Amtsrat war durch irgend ein plötzliches
      Ereignis verhindert worden, mitzufahren; doch war es sein
      Gespann und sein Schlitten, in welchem sie fuhren, ein vergoldetes
20   Frauenbild als Schlittenzierat vor sich, die Fortuna
      vorstellend; denn die Stadtwohnung des Amtsrates hieß zur
      Fortuna.

           Ihnen folgten fünfzehn bis sechzehn Gefährte mit je einem
      Herren und einer Dame, alle geputzt und lebensfroh, aber
25   keines der Paare so schön und stattlich, wie das Brautpaar.
      Die Schlitten trugen, wie die Meerschiffe ihre Galions, immer
      das Sinnbild des Hauses, dem jeder angehörte, so daß das
      Volk rief: «Seht, da kommt die Tapferkeit! wie schön ist die
      Tüchtigkeit! Die Verbesserlichkeit scheint neu lackiert zu sein und
30   die Sparsamkeit frisch vergoldet! Ah, der Jakobsbrunnen und
      der Teich Bethesda!» Im Teiche Bethesda, welcher als bescheidener
      Einspänner den Zug schloß, kutschierte Melchior Böhni

S. 39

      still und vergnügt. Als Galion seines °Fahrzeuges hatte er
      das Bild jenes jüdischen Männchens vor sich, welcher an
      besagtem Teiche dreißig Jahre auf sein Heil gewartet. So
      segelte denn das Geschwader im Sonnenscheine dahin und erschien
05   bald auf der weithin schimmernden Höhe, dem Ziele sich
      nahend. Da ertönte gleichzeitig von der entgegengesetzten Seite
      lustige Musik.

           Aus einem duftig bereiften Walde heraus brach ein Wirrwarr
      von bunten Farben und Gestalten und entwickelte sich zu
10   einem Schlittenzug, welcher hoch am weißen Feldrande sich auf
      den blauen Himmel zeichnete und ebenfalls nach der Mitte der
      Gegend hinglitt, von abenteuerlichem Anblick. Es schienen
      meistens große bäuerliche Lastschlitten zu sein, je zwei zusammen
      gebunden, um absonderlichen Gebilden und Schaustellungen zur
15   Unterlage zu dienen. Auf dem vordersten Fuhrwerke ragte eine
      kolossale Figur empor, die Göttin Fortuna vorstellend, welche
      in den Aether hinaus zu fliegen schien. Es war eine riesenhafte
      Strohpuppe voll schimmernden Flittergoldes, deren Gazegewänder
      in der Luft flatterten. Auf dem zweiten Gefährte
20   aber fuhr ein ebenso riesenmäßiger Ziegenbock einher, schwarz
      und düster abstechend und mit gesenkten Hörnern der Fortuna
      nachjagend. Hierauf folgte ein seltsames Gerüste, welches sich
      als ein fünfzehn Schuh hohes Bügeleisen darstellte, dann eine
      gewaltig schnappende Schere, welche mittelst einer Schnur auf-
25   und zugeklappt wurde und das Himmelszelt für einen blau
      seidenen Westenstoff anzusehen schien. Andere solche landläufige
      Anspielungen auf das Schneiderwesen folgten noch und zu
      Füßen aller dieser Gebilde saß auf den geräumigen, je von
      vier Pferden gezogenen Schlitten die Seldwyler Gesellschaft in
30   buntester Tracht, mit lautem Gelächter und Gesang.

           Als beide Züge gleichzeitig auf dem Platze vor dem Gasthause
      auffuhren, gab es demnach einen geräuschvollen Auftritt

----------

01  Fahrzeuges] Fahrzeugs  E2-E3

S. 40

      und ein großes Gedränge von Menschen und Pferden. Die
      Herrschaften von Goldach waren überrascht und erstaunt über
      die abenteuerliche Begegnung; die Seldwyler dagegen stellten
      sich vorerst gemütlich und freundschaftlich bescheiden. Ihr vorderster
05   Schlitten mit der Fortuna trug die Inschrift «Leute
      machen Kleider» und so ergab es sich denn, daß die ganze
      Gesellschaft lauter Schneidersleute von allen Nationen und aus
      allen Zeitaltern darstellte. Es war gewissermaßen ein historisch-
      ethnographischer Schneiderfestzug, welcher mit der umgekehrten
10   und ergänzenden Inschrift abschloß: «Kleider machen Leute!»
      In dem letzten Schlitten mit dieser Ueberschrift saßen nämlich,
      als das Werk der vorausgefahrenen heidnischen und christlichen
      Nahtbeflissenen aller Art, ehrwürdige Kaiser und Könige,
      Ratsherren und Stabsoffiziere, Prälaten und Stiftsdamen in
15   höchster Gravität.

           Diese Schneiderwelt wußte sich gewandt aus dem Wirrwarr
      zu ordnen und ließ die Goldacher Herren und Damen, das
      Brautpaar an deren Spitze, bescheiden ins Haus spazieren, um
      nachher die unteren Räume desselben, welche für sie bestellt
20   waren, zu besetzen, während jene die breite Treppe empor nach
      dem großen Festsaale rauschten. Die Gesellschaft des Herren
      Grafen fand dies Benehmen schicklich und ihre Ueberraschung
      verwandelte sich in Heiterkeit und beifälliges Lächeln über die
      unverwüstliche Laune der Seldwyler; nur der Graf selbst hegte
25   gar dunkle Empfindungen, die ihm nicht behagten, obgleich er
      in der jetzigen Voreingenommenheit seiner Seele keinen bestimmten
      Argwohn verspürte und nicht einmal bemerkt hatte,
      woher die Leute gekommen waren. Melchior Böhni, der seinen
      Teich Bethesda sorglich bei Seite gebracht hatte und sich aufmerksam
30   in der Nähe Strapinskis befand, nannte laut, daß
      dieser es hören konnte, eine ganz andere Ortschaft als den
      Ursprungsort des Maskenzuges.

 

Kleider machen Leute

(S. 41-50)

S. 41

           Bald saßen beide Gesellschaften, jegliche auf ihrem Stockwerke,
      an den gedeckten Tafeln und gaben sich fröhlichen Gesprächen
      und Scherzreden hin, in Erwartung weiterer Freuden.

           Die kündigten sich denn auch für die Goldacher an,
05   als sie paarweise in den Tanzsaal hinüber schritten und dort
      die Musiker schon ihre Geigen stimmten. Wie nun aber alles
      im Kreise stand und sich zum Reihen ordnen wollte, erschien
      eine Gesandtschaft der Seldwyler, welche das freundnachbarliche
      Gesuch und Anerbieten vortrug, den Herren und Frauen von
10   Goldach einen Besuch abstatten zu dürfen und ihnen zum
      Ergötzen einen Schautanz aufzuführen. Dieses Anerbieten
      konnte nicht wohl zurückgewiesen werden; auch versprach man
      sich von den lustigen Seldwylern einen tüchtigen Spaß und
      setzte sich daher nach der Anordnung der besagten Gesandtschaft
15   in einem großen Halbring, in dessen Mitte Strapinski und
      Nettchen glänzten gleich fürstlichen Sternen.

           Nun traten allmählich jene besagten Schneidergruppen
      nach einander ein. Jede führte in zierlichem Gebärdenspiel
      den Satz «Leute machen Kleider» und dessen Umkehrung durch,
20   indem sie erst mit Emsigkeit irgend ein stattliches Kleidungsstück,
      einen Fürstenmantel, Priestertalar u. dergl. anzufertigen
      schien und sodann eine dürftige Person damit bekleidete, welche
      urplötzlich umgewandelt sich in höchstem Ansehen aufrichtete und
      nach dem Takte der Musik feierlich einherging. Auch die
25   Tierfabel wurde in diesem Sinne in Scene gesetzt, da eine gewaltige
      Krähe erschien, die sich mit Pfauenfedern schmückte und
      quakend umherhüpfte, ein Wolf, der sich einen Schafspelz
      zurecht schneiderte, schließlich ein Esel, der eine furchtbare
      Löwenhaut von Werg trug und sich heroisch damit drapierte,
30   wie mit einem Carbonarimantel.

           Alle, die so erschienen, traten nach vollbrachter Darstellung
      zurück und machten allmählich so den Halbkreis der Goldacher

S. 42

      zu einem weiten Ring von Zuschauern, dessen innerer Raum
      endlich leer ward. In diesem Augenblicke ging die Musik in
      eine wehmütig ernste Weise über und zugleich beschritt eine
      letzte Erscheinung den Kreis, dessen Augen sämtlich auf sie gerichtet
05   waren. Es war ein schlanker junger Mann in dunklem
      Mantel, dunkeln schönen Haaren und mit einer polnischen
      Mütze; es war niemand anders als der Graf Strapinski, wie
      er an jenem Novembertag auf der Straße gewandert und den
      verhängnisvollen Wagen bestiegen hatte.

10        Die ganze Versammlung blickte lautlos gespannt auf die
      Gestalt, welche feierlich schwermütig einige Gänge nach dem
      Takte der Musik umher trat, dann in die Mitte des Ringes
      sich begab, den Mantel auf den Boden breitete, sich schneidermäßig
      darauf niedersetzte und anfing ein Bündel auszupacken.
15   Er zog einen beinahe fertigen Grafenrock hervor, ganz wie ihn
      Strapinski in diesem Augenblicke trug, nähete mit großer Hast
      und Geschicklichkeit Troddeln und Schnüre darauf und bügelte
      ihn schulgerecht aus, indem er das scheinbar heiße Bügeleisen
      mit nassen Fingern prüfte. Dann richtete er sich langsam auf,
20   zog seinen fadenscheinigen Rock aus und das Prachtkleid an,
      nahm ein Spiegelchen, kämmte sich und vollendete seinen Anzug,
      daß er endlich als das leibhafte Ebenbild des Grafen dastand.
      Unversehens ging die Musik in eine rasche, mutige Weise über,
      der Mann wickelte seine Siebensachen in den alten Mantel und
25   warf das Pack weit über die Köpfe der Anwesenden hinweg
      in die Tiefe des Saales, als wollte er sich ewig von
      seiner Vergangenheit trennen. Hierauf beging er als stolzer
      Weltmann in stattlichen Tanzschritten den Kreis, °hier und
      da sich vor den Anwesenden huldreich verbeugend, bis er
30   vor das Brautpaar gelangte. Plötzlich faßte er den Polen,
      ungeheuer überrascht, fest ins Auge, stand als eine Säule
      vor ihm still, während gleichzeitig wie auf Verabredung die

----------

28  hier] hie  H2-E3

S. 43

      Musik aufhörte und eine fürchterliche Stille wie ein stummer
      Blitz einfiel.

           «Ei ei ei ei!» rief er mit weithin vernehmlicher Stimme
      und reckte den Arm gegen den Unglücklichen aus, «sieh da den
05   Bruder Schlesier, den Wasserpolacken! Der mir aus der Arbeit
      gelaufen ist, weil er wegen einer kleinen Geschäftsschwankung
      glaubte, es sei zu Ende mit mir. Nun es freut mich, daß es
      Ihnen so lustig geht und Sie hier so fröhliche Fastnacht
      halten! Stehen Sie in Arbeit zu Goldach?»

10        Zugleich gab er dem bleich und lächelnd dasitzenden
      Grafensohn die Hand, welche dieser willenlos ergriff wie eine
      feurige Eisenstange, während der Doppelgänger rief: «Kommt
      Freunde, seht hier unsern sanften Schneidergesellen, der wie
      ein Raphael aussieht und unsern Dienstmägden, auch der
15   Pfarrerstochter so wohl gefiel, die freilich ein bißchen übergeschnappt
      ist!»

           Nun kamen die Seldwyler Leute alle herbei und drängten
      sich um Strapinski und seinen ehemaligen Meister, indem sie
      ersterem treuherzig die Hand schüttelten, daß er auf seinem
20   Stuhle schwankte und zitterte. Gleichzeitig setzte die Musik
      wieder ein mit einem lebhaften Marsch; die Seldwyler, sowie
      sie an dem Brautpaar vorüber waren, ordneten sich zum Abzuge
      und marschierten unter Absingung eines wohl einstudierten
      diabolischen Lachchores aus dem Saale, während die Goldacher,
25   unter welchen Böhni die Erklärung des Mirakels blitzschnell zu
      verbreiten gewußt hatte, durcheinander liefen und sich mit den
      Seldwylern kreuzten, so daß es einen großen Tumult gab.

           Als dieser sich endlich legte, war auch der Saal beinahe
      leer; wenige Leute standen an den Wänden und flüsterten verlegen
30   untereinander; ein paar junge Damen hielten sich in
      einiger Entfernung von Nettchen, unschlüssig, ob sie sich derselben
      nähern sollten oder nicht.

S. 44

           Das Paar aber saß unbeweglich auf seinen Stühlen gleich
      einem steinernen egyptischen Königspaar, ganz still und einsam;
      man glaubte den unabsehbaren glühenden Wüstensand zu fühlen.

           Nettchen, weiß wie ein Marmor, wendete das Gesicht
05   langsam nach ihrem Bräutigam und sah ihn seltsam von der
      Seite an.

           Da stand er langsam auf und ging mit schweren Schritten
      hinweg, die Augen auf den Boden gerichtet, während große
      Thränen aus denselben fielen.

10        Er ging durch die Goldacher und Seldwyler, welche die
      Treppen bedeckten, hindurch wie ein Toter, der sich gespenstisch
      von einem Jahrmarkt stiehlt, und sie ließen ihn seltsamer Weise
      auch wie einen solchen passieren, indem sie ihm still auswichen
      ohne zu lachen oder harte Worte nachzurufen. Er ging auch
15   zwischen den zur Abfahrt gerüsteten Schlitten und Pferden von
      Goldach hindurch, indessen die Seldwyler sich in ihrem Quartiere
      erst noch recht belustigten, und er wandelte halb unbewußt,
      nur in der Meinung, nicht mehr nach Goldach zurückzukommen,
      dieselbe Straße gegen Seldwyla hin, auf welcher er vor einigen
20   Monaten hergewandert war. Bald verschwand er in der Dunkelheit
      des Waldes, durch welchen sich die Straße zog. Er
      war barhäuptig, denn seine Polenmütze war im Fenstergesimse
      des Tanzsaales liegen geblieben nebst den Handschuhen, und
      so schritt er denn gesenkten Hauptes und die frierenden Hände
25   unter die gekreuzten Arme bergend vorwärts, während seine
      Gedanken sich allmählich sammelten und zu einigem Erkennen
      gelangten. Das erste deutliche Gefühl, dessen er inne wurde,
      war dasjenige einer ungeheuren Schande, gleich wie wenn er
      ein wirklicher Mann von Rang und Ansehen gewesen und nun
30   infam geworden wäre durch Hereinbrechen irgend eines
      verhängnisvollen Unglückes. Dann löste sich dieses Gefühl aber
      auf in eine Art Bewußtsein erlittenen Unrechtes; er hatte sich

S. 45

      bis zu seinem glorreichen Einzug in die verwünschte Stadt nie
      ein Vergehen zu Schulden kommen lassen; soweit seine Gedanken
      in die Kindheit zurückreichten, war ihm nicht erinnerlich,
      daß er je wegen einer Lüge oder einer Täuschung gestraft oder
05   gescholten worden wäre, und nun war er ein Betrüger geworden
      dadurch, daß die Thorheit der Welt ihn in einem unbewachten
      und so zu sagen wehrlosen Augenblicke überfallen
      und ihn zu ihrem Spielgesellen gemacht hatte. Er kam sich
      wie ein Kind vor, welches ein anderes boshaftes Kind überredet
10   hat, von einem Altare den Kelch zu stehlen; er haßte und
      verachtete sich jetzt, aber er weinte auch über sich und seine
      unglückliche Verirrung.

           Wenn ein Fürst Land und Leute nimmt, wenn ein Priester
      die Lehre seiner Kirche ohne Ueberzeugung verkündet, aber die
15   Güter seiner Pfründe mit Würde verzehrt; wenn ein dünkelvoller
      Lehrer die Ehren und Vorteile eines hohen Lehramtes
      inne hat und genießt, ohne von der Höhe seiner Wissenschaft
      den mindesten Begriff zu haben und derselben auch nur den
      kleinsten Vorschub zu leisten; wenn ein Künstler ohne Tugend,
20   mit leichtfertigem Thun und leerer Gaukelei sich in Mode bringt
      und Brot und Ruhm der wahren Arbeit vorwegstiehlt; oder
      wenn ein Schwindler, der einen großen Kaufmannsnamen
      geerbt oder erschlichen hat, durch seine Thorheiten und
      Gewissenlosigkeiten Tausende um ihre Ersparnisse und Notpfennige
25   bringt, so weinen alle diese nicht über sich, sondern erfreuen
      sich ihres Wohlseins und bleiben nicht einen Abend ohne aufheiternde
      Gesellschaft und gute Freunde.

           Unser Schneider aber weinte bitterlich über sich, d. h. er
      fing solches plötzlich an, als nun seine Gedanken an der
30   schweren Kette, an der sie hingen, unversehens zu der verlassenen
      Braut zurückkehrten und sich aus Scham vor der Unsichtbaren
      zur Erde krümmten. Das Unglück und die Erniedrigung

S. 46

      zeigten ihm mit °einem hellen Strahle das verlorene
      Glück und machten aus dem unklar verliebten Irrgänger
      einen verstoßenen Liebenden. Er streckte die Arme gegen die
      kalt glänzenden Sterne empor und taumelte mehr, als er ging,
05   auf seiner Straße dahin, stand wieder still und schüttelte den
      Kopf, als plötzlich ein roter Schein den Schnee um ihn her
      erreichte und zugleich Schellenklang und Gelächter ertönte. Es
      waren die Seldwyler, welche mit Fackeln nach Hause fuhren.
      Schon näherten sich ihm die ersten Pferde mit ihren Nasen;
10   da raffte er sich auf, that einen gewaltigen Sprung über den
      Straßenrand und duckte sich unter die vordersten Stämme des
      Waldes. Der tolle Zug fuhr vorbei und verhallte endlich in
      der dunklen Ferne, ohne daß der Flüchtling bemerkt worden
      war; dieser aber, nachdem er eine gute Weile reglos gelauscht
15   hatte, von der Kälte wie von den erst genossenen feurigen Getränken
      und seiner gramvollen Dummheit übermannt, streckte
      unvermerkt seine Glieder aus und schlief ein auf dem knisternden
      Schnee, während ein eiskalter Hauch von Osten heranzuwehen
      begann.

20        Inzwischen erhob auch Nettchen sich von ihrem einsamen
      Sitze. Sie hatte dem abziehenden Geliebten gewissermaßen
      aufmerksam nachgeschaut, saß länger als eine Stunde unbeweglich
      da und stand dann auf, indem sie bitterlich zu weinen
      begann und ratlos nach der Thüre ging. Zwei Freundinnen
25   gesellten sich nun zu ihr mit zweifelhaft tröstenden Worten;
      sie bat dieselben, ihr Mantel, Tücher, Hut und dergleichen zu
      verschaffen, in welche Dinge sie sich sodann stumm verhüllte,
      die Augen mit dem Schleier heftig trocknend. Da man aber,
      wenn man weint, fast immer zugleich auch die Nase schneuzen
30   muß, so sah sie sich doch genötigt, das Taschentuch zu nehmen
      und that einen tüchtigen Schneuz, worauf sie stolz und zornig
      um sich blickte. In dieses Blicken hinein geriet Melchior Böhni,

----------

01  einem] Einem  H2-E3

S. 47

      der sich ihr freundlich, demütig und lächelnd näherte und ihr
      die Notwendigkeit darstellte, nunmehr einen Führer und Begleiter
      nach dem väterlichen Hause zurück zu haben. Den Teich
      Bethesda, sagte er, werde er hier im Gasthause zurücklassen
05   und dafür die Fortuna mit der verehrten Unglücklichen sicher
      nach Goldach hingeleiten.

           Ohne zu antworten ging sie festen Schrittes voran nach
      dem Hofe, wo der Schlitten mit den ungeduldigen wohlgefütterten
      Pferden bereit stand, einer der letzten, welche dort
10   waren. Sie nahm rasch darin Platz, ergriff das Leitseil und
      die Peitsche, und während der achtlose Böhni, mit glücklicher
      Geschäftigkeit sich geberdend, dem Stallknecht, der die Pferde
      gehalten, das Trinkgeld hervorsuchte, trieb sie unversehens die
      Pferde an und fuhr auf die Landstraße hinaus in starken
15   Sätzen, welche sich bald in einen anhaltenden munteren Galopp
      verwandelten. Und zwar ging es nicht nach der Heimat, sondern
      auf der Seldwyler Straße hin. Erst als das leichtbeschwingte
      Fahrzeug schon dem Blicke entschwunden war, entdeckte
      Herr Böhni das Ereignis und lief in der Richtung gegen
20   Goldach mit Ho ho! und Haltrufen, sprang dann zurück und
      jagte mit seinem eigenen Schlitten der entflohenen oder nach
      seiner Meinung durch die Pferde entführten Schönen nach, bis
      er am Thore der aufgeregten Stadt anlangte, in welcher das
      Aergernis bereits alle Zungen beschäftigte.

25        Warum Nettchen jenen Weg eingeschlagen, ob in der Verwirrung
      oder mit Vorsatz, ist nicht sicher zu berichten. Zwei
      Umstände mögen hier ein leises Licht gewähren. Einmal lagen
      sonderbarer Weise die Pelzmütze und die Handschuhe Strapinskis,
      welche auf dem Fenstersimse hinter dem Sitze des
30   Paares gelegen hatten, nun im Schlitten der Fortuna neben
      Nettchen; wann und wie sie diese Gegenstände ergriffen, hatte
      niemand beachtet und sie selbst wußte es nicht; es war wie im

S. 48

      Schlafwandel geschehen. Sie wußte jetzt noch nicht, daß Mütze
      und Handschuhe neben ihr lagen. Sodann sagte sie mehr als
      ein Mal laut vor sich hin: «Ich muß noch zwei Worte mit
      ihm sprechen, nur zwei Worte!»

05        Diese beiden Thatsachen scheinen zu beweisen, daß nicht
      ganz der Zufall die feurigen Pferde lenkte. Auch war es
      seltsam, als die Fortuna in die Waldstraße gelangte, in welche
      jetzt der helle Vollmond hinein schien, wie Nettchen den Lauf
      der Pferde mäßigte und die Zügel fester anzog, so daß dieselben
10   beinahe nur im Schritt einhertanzten, während die
      Lenkerin die traurigen aber dennoch scharfen Augen gespannt
      auf den Weg heftete, ohne links und rechts den geringsten
      auffälligen Gegenstand außer acht zu lassen.

           Und doch war gleichzeitig ihre Seele wie in tiefer, schwerer,
15   unglücklicher Vergessenheit befangen; was sind Glück und Leben!
      von was hangen sie ab? Was sind wir selbst, daß wir wegen
      einer lächerlichen Fastnachtslüge glücklich oder unglücklich werden?
      Was haben wir verschuldet, wenn wir durch eine fröhliche
      gläubige Zuneigung Schmach und Hoffnungslosigkeit einernten?
20   Wer sendet uns solche einfältige Truggestalten, die zerstörend
      in unser Schicksal eingreifen, während sie sich selbst daran auflösen,
      wie schwache Seifenblasen?

           Solche mehr geträumte als gedachte Fragen umfingen die
      Seele Nettchens, als ihre Augen sich plötzlich auf einen länglichen
25   °dunklen Gegenstand richteten, welcher zur Seite der
      Straße sich vom mondbeglänzten Schnee abhob. Es war der
      langhingestreckte Wenzel, dessen dunkles Haar sich mit dem
      Schatten der Bäume vermischte, während sein schlanker Körper
      deutlich im Lichte lag.

30        Nettchen hielt unwillkürlich die Pferde an, womit eine
      tiefe Stille über den Wald kam. Sie starrte unverwandt nach
      dem dunklen Körper, bis derselbe sich ihrem hellsehenden Auge

----------

25  dunklen] dunkeln  E2

S. 49

      fast unverkennbar darstellte und sie leise die Zügel festband,
      ausstieg, die Pferde einen Augenblick beruhigend streichelte und
      sich hierauf der Erscheinung vorsichtig, lautlos näherte.

           Ja, er war es. Der dunkelgrüne °Sammet seines Rockes
05   nahm sich selbst auf dem nächtlichen Schnee schön und edel
      aus; der schlanke Leib und die geschmeidigen Glieder, wohl
      geschnürt und bekleidet, alles sagte noch in der Erstarrung,
      am Rande des Unterganges, im Verlorensein: Kleider machen
      Leute!

10        Als sich die einsame Schöne näher über ihn hinbeugte
      und ihn ganz sicher erkannte, sah sie auch sogleich die Gefahr,
      in der sein Leben schwebte, und fürchtete, er möchte bereits erfroren
      sein. Sie ergriff daher unbedenklich eine seiner Hände,
      die kalt und fühllos schien. Alles andere vergessend rüttelte
15   sie den Aermsten und rief ihm seinen Taufnamen ins Ohr:
      «Wenzel! Wenzel!» Umsonst, er rührte sich nicht, sondern
      atmete nur schwach und traurig. Da fiel sie über ihn her,
      fuhr mit der Hand über sein Gesicht, und gab ihm in der
      Beängstigung Nasenstüber auf die erbleichte Nasenspitze. Dann
20   nahm sie, hiedurch auf einen guten Gedanken gebracht, Hände
      voll Schnee und rieb ihm die Nase und das Gesicht und auch
      die Finger tüchtig, soviel sie vermochte und bis sich der glücklich
      Unglückliche erholte, erwachte und langsam seine Gestalt
      in die Höhe richtete.

25        Er blickte um sich und sah die Retterin vor sich stehen.
      Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen; Wenzel erkannte jeden
      Zug in ihrem weißen Gesicht, das ihn ansah mit großen Augen.

           Er stürzte vor ihr nieder, küßte den Saum ihres Mantels
      und rief: «Verzeih' mir! Verzeih' mir!»

30        «Komm, fremder Mensch!» sagte sie mit unterdrückter
      zitternder Stimme, «ich werde mit Dir sprechen und Dich
      fortschaffen!»

----------

04  Sammet] Sammt  H2-E3

      S. 50

           Sie winkte ihm, in den Schlitten zu steigen, was er folgsam
      that; sie gab ihm Mütze und Handschuh, ebenso unwillkürlich,
      wie sie dieselben mitgenommen hatte, ergriff Zügel und
      Peitsche und fuhr vorwärts.

05        Jenseits des Waldes, unfern der Straße, lag ein Bauernhof,
      auf welchem eine Bäuerin haus'te, deren Mann unlängst
      gestorben. Nettchen war die Patin eines ihrer Kinder, sowie
      der Vater Amtsrat ihr Zinsherr. Noch neulich war die Frau
      bei ihnen gewesen, um der Tochter Glück zu wünschen und allerlei
10   Rat zu holen, konnte aber zu dieser Stunde noch nichts von
      dem Wandel der Dinge wissen.

           Nach diesem Hofe fuhr Nettchen jetzt, von der Straße
      ablenkend und mit einem kräftigen Peitschenknallen vor dem
      Hause haltend. Es war noch Licht hinter den kleinen Fenstern;
15   denn die Bäuerin war wach und machte sich zu schaffen,
      während Kinder und Gesinde längst schliefen. Sie öffnete das
      Fenster und guckte verwundert heraus. «Ich bin's nur, wir
      sind's!» rief Nettchen. «Wir haben uns verirrt wegen der
      neuen obern Straße, die ich noch nie gefahren bin; macht uns
20   einen Kaffee, Frau Gevatterin, und laßt uns einen Augenblick
      hineinkommen, ehe wir weiter fahren!»

           Gar vergnügt eilte die Bäuerin her, da sie Nettchen sofort
      erkannte, und bezeigte sich entzückt und eingeschüchtert zugleich,
      auch das große Tier, den fremden Grafen zu sehen. In ihren
25   Augen waren Glück und Glanz dieser Welt in diesen zwei
      Personen über ihre Schwelle getreten; unbestimmte Hoffnungen,
      einen kleinen Teil daran, irgend einen bescheidenen Nutzen für
      sich oder ihre Kinder zu gewinnen, belebten die gute Frau
      und gaben ihr alle Behendigkeit, die jungen Herrschaftsleute zu
30   bedienen. Schnell hatte sie ein Knechtchen geweckt, die Pferde
      zu halten, und bald hatte sie auch einen heißen Kaffee bereitet,
      welchen sie jetzt hereinbrachte, wo Wenzel und Nettchen in der

 

Kleider machen Leute

(S. 51-62)

S. 51

      halbdunklen Stube einander gegenüber saßen, ein schwach
      flackerndes Lämpchen zwischen sich auf dem Tische.

           Wenzel saß, den Kopf in die Hände gestützt, und wagte
      nicht aufzublicken. Nettchen lehnte auf ihrem Stuhle zurück
05   und hielt die Augen fest verschlossen, aber ebenso den bitteren
      schönen Mund, woran man sah, daß sie keineswegs schlief.

           Als die Gevattersfrau den Trank auf den Tisch gesetzt
      hatte, erhob sich Nettchen rasch und flüsterte ihr zu: «Laßt
      uns jetzt eine °halbe Viertelstunde allein, legt Euch aufs Bett,
10   liebe Frau, wir haben uns ein bißchen gezankt und müssen
      uns heute noch aussprechen, da hier gute Gelegenheit ist!»

           «Ich verstehe schon, Ihr macht's gut so!» sagte die Frau
      und ließ die zwei bald allein.

           «Trinken Sie dies,» sagte Nettchen, die sich wieder gesetzt
15   hatte, «es wird Ihnen gesund sein!» Sie selbst berührte
      nichts. Wenzel Strapinski, der leise zitterte, richtete sich auf,
      nahm eine Tasse und trank sie aus, mehr weil sie es gesagt
      hatte, als um sich zu erfrischen. Er blickte sie jetzt auch an
      und als ihre Augen sich begegneten, und Nettchen forschend
20   die seinigen betrachtete, schüttelte sie das Haupt und sagte
      dann: «Wer sind Sie? Was wollten Sie mit mir?»

           «Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine!» erwiderte er
      traurig, «ich bin ein armer Narr, aber ich werde alles gut
      machen und Ihnen Genugthuung geben und nicht lange mehr
25   am Leben sein!» Solche Worte sagte er so überzeugt und
      ohne allen gemachten Ausdruck, daß Nettchens Augen unmerklich
     aufblitzten. Dennoch wiederholte sie: «Ich wünsche zu
      wissen, wer Sie eigentlich seien und woher Sie kommen und
      wohin Sie wollen?»

30        «Es ist alles so gekommen, wie ich Ihnen jetzt der
      Wahrheit gemäß erzählen will,» antwortete er und sagte ihr,
      wer er sei und wie es ihm bei seinem Einzug in Goldach

----------

09  halbe Viertelstunde] Viertelstunde  H2

S. 52

      ergangen. Er beteuerte besonders, wie er mehrmals habe
      fliehen wollen, schließlich aber durch ihr Erscheinen selbst gehindert
      worden sei, wie in einem verhexten Traume.

           Nettchen wurde mehrmals von einem Anflug von Lachen
05   heimgesucht; doch überwog der Ernst ihrer Angelegenheit zu
      sehr, als daß es zum Ausbruch gekommen wäre. Sie fuhr
      vielmehr fort zu fragen: «Und wohin gedachten Sie mit mir
      zu gehen und was zu beginnen?» – «Ich weiß es kaum,»
      erwiderte er; «ich hoffte auf weitere merkwürdige oder glückliche
10   Dinge; auch gedachte ich zuweilen des Todes in der Art,
      daß ich mir denselben geben wolle, nachdem ich –»

           Hier stockte Wenzel und sein bleiches Gesicht wurde ganz rot.

           «Nun, fahren Sie fort!» sagte Nettchen, ihrerseits bleich
      werdend, indessen ihr Herz wunderlich klopfte.

15        Da flammten Wenzels Augen groß und süß auf und er
      rief:

           «Ja, jetzt ist es mir klar und deutlich vor Augen, wie
      es gekommen wäre! Ich wäre mit Dir in die weite Welt
      gegangen °und, nachdem ich einige kurze Tage des Glückes mit
20   Dir gelebt, hätte ich Dir den Betrug gestanden und mir gleichzeitig
      den Tod gegeben. Du °wärest zu Deinem Vater zurückgekehrt,
      wo Du wohl aufgehoben gewesen wärest und mich
      leicht vergessen hättest. Niemand brauchte darum zu wissen;
      ich wäre spurlos verschollen. – Anstatt an der Sehnsucht
25   nach einem würdigen Dasein, nach einem gütigen Herzen, nach
      Liebe lebenslang zu kranken,» fuhr er wehmütig fort, «wäre
      ich einen Augenblick lang groß und glücklich gewesen und hoch
      über allen, die weder glücklich noch unglücklich sind und doch
      nie sterben wollen! O hätten Sie mich liegen gelassen im
30   kalten Schnee, ich wäre so ruhig eingeschlafen!»

           Er war wieder still geworden und schaute düster sinnend
      vor sich hin.

----------

19  und,] und  H2-E3
21  wärest] wärst  E2

S. 53

           Nach einer Weile sagte Nettchen, die ihn still betrachtet,
      nachdem das durch Wenzels Reden angefachte Schlagen ihres
      Herzens sich etwas gelegt hatte:

           «Haben Sie dergleichen oder ähnliche Streiche früher schon
05   begangen und fremde Menschen angelogen, die Ihnen nichts
      zu leide gethan?»

           «Das habe ich mich in dieser bitteren Nacht selbst schon
      gefragt und mich nicht erinnert, daß ich je ein Lügner gewesen
      bin! Ein solches Abenteuer habe ich noch gar nie gemacht
10   oder erfahren! Ja, in jenen Tagen, als der Hang in mir
      entstanden, etwas Ordentliches zu sein oder zu scheinen, in
      halber Kindheit noch, habe ich mich selbst überwunden und
      einem Glück entsagt, das mir beschieden schien!»

           «Was ist dies?» fragte Nettchen.

15        «Meine Mutter war, ehe sie sich verheiratet hatte, in
      Diensten einer benachbarten Gutsherrin und mit derselben auf
      Reisen und in großen Städten gewesen. Davon hatte sie eine
      feinere Art bekommen, als die anderen Weiber unseres Dorfes,
      und war wohl auch etwas eitel; denn sie kleidete sich und mich,
20   ihr einziges Kind, immer etwas zierlicher und gesuchter, als
      es bei uns Sitte war. Der Vater, ein armer Schulmeister,
      starb aber früh, und so blieb uns bei größter Armut keine
      Aussicht auf glückliche Erlebnisse, von welchen die Mutter gerne
      zu träumen pflegte. Vielmehr mußte sie sich harter Arbeit hingeben,
25   um uns zu ernähren, und damit das Liebste, was sie
      hatte, etwas bessere Haltung und Kleidung, aufopfern. Unerwartet
      sagte nun jene °neu verwitwete Gutsherrin, als ich etwa
      sechszehn Jahre alt war, sie gehe mit ihrem Haushalt in die
      Residenz für immer; die Mutter solle mich mitgeben, es sei
30   schade für mich in dem Dorfe ein Taglöhner oder Bauernknecht
      zu werden, sie wolle mich etwas Feines lernen lassen, zu was
      ich Lust habe, während ich in ihrem Hause leben und diese

----------

27  neu] nun  H2

S. 54

      und jene °leichtere Dienstleistungen thun könne. Das schien
      nun das Herrlichste zu sein, was sich für uns ereignen mochte.
      Alles wurde demgemäß verabredet und zubereitet, als die
      Mutter nachdenklich und traurig wurde und mich eines Tages
05   plötzlich mit vielen Thränen bat, sie nicht zu verlassen, sondern
      mit ihr arm zu bleiben; sie werde nicht alt werden, sagte sie,
      und ich würde gewiß noch zu etwas Gutem gelangen, auch
      wenn sie tot sei. Die Gutsherrin, der ich das betrübt hinterbrachte,
      kam her und machte meiner Mutter Vorstellungen; aber
10   diese wurde jetzt ganz aufgeregt und rief einmal um das andere,
      sie lasse sich ihr Kind nicht rauben; wer es kenne –»

           Hier stockte Wenzel Strapinski abermals und wußte sich
      nicht recht fortzuhelfen.

           Nettchen fragte: «Was sagte die Mutter, wer es kenne?
15   Warum fahren Sie nicht fort?»

           Wenzel errötete und antwortete: «Sie sagte etwas Seltsames,
      was ich nicht recht verstand und was ich jedenfalls
      seither nicht verspürt habe; sie meinte, wer das Kind kenne,
      könne nicht mehr von ihm lassen, und wollte wohl damit
20   sagen, daß ich ein gutmütiger Junge gewesen sei oder etwas
      dergleichen. Kurz, sie war so aufgeregt, daß ich trotz alles
      Zuredens jener Dame entsagte und bei der Mutter blieb,
      wofür sie mich doppelt lieb hatte, tausendmal mich um Verzeihung
      bittend, daß sie mir vor dem Glücke sei. Als ich
25   aber nun auch etwas verdienen lernen sollte, stellte es sich
      heraus, daß nicht viel Anderes zu thun war, als daß ich zu
      unserem Dorfschneider in die Lehre ging. Ich wollte nicht,
      aber die Mutter weinte so sehr, daß ich mich ergab. Dies ist
      die Geschichte.»

30        Auf Nettchens Frage, warum er denn doch von der
      Mutter fort sei und °warum? erwiderte Wenzel: «Der Militärdienst
      rief mich weg. Ich wurde unter die Husaren gesteckt

----------

01  leichtere] leichten  H2
31  warum?] wann?  H2

S. 55

      und war ein ganz hübscher roter Husar, obwohl vielleicht der
      dümmste im Regiment, jedenfalls der stillste. Nach einem Jahr
      konnte ich endlich für ein paar Wochen Urlaub erhalten und
      eilte nach Hause, meine gute Mutter zu sehen; aber sie war
05   eben gestorben. Da bin ich denn, als meine Zeit °gekommen
      war, einsam in die Welt gereis't und endlich hier in mein
      Unglück geraten.»

           Nettchen lächelte, als er dieses vor sich hin klagte und sie
      ihn dabei aufmerksam betrachtete. Es war jetzt eine Zeitlang still
10   in der Stube; auf einmal schien ihr ein Gedanke aufzutauchen.

           «Da Sie,» sagte sie plötzlich, aber dennoch mit °zögerndem,
      spitzigem Wesen, «stets so wertgeschätzt und liebenswürdig
      waren, so haben Sie ohne Zweifel auch jederzeit Ihre gehörigen
      Liebschaften oder dergleichen gehabt und wohl schon mehr als
15   ein armes Frauenzimmer auf dem Gewissen – von mir nicht
      zu reden?»

           «Ach Gott,» erwiderte Wenzel, ganz rot werdend, «eh'
      ich zu Ihnen kam, habe ich niemals auch nur die Fingerspitzen
      eines Mädchens berührt, ausgenommen –»

20        «Nun?» sagte Nettchen.

           «Nun,» fuhr er fort, «das war eben jene Frau, die
      mich mitnehmen und bilden lassen wollte, die hatte ein Kind,
      ein Mädchen von sieben oder acht Jahren, ein seltsames heftiges
      Kind und doch gut wie Zucker und schön wie ein Engel. Dem
25   hatte ich vielfach den Diener und Beschützer machen müssen
      und es hatte sich an mich gewöhnt. Ich mußte es regelmäßig
      nach dem entfernten Pfarrhof bringen, wo es bei dem alten
      Pfarrer Unterricht genoß, und es von da wieder abholen.
      Auch sonst mußte ich öfter mit ihm ins Freie, wenn sonst
30   niemand gerade mitgehen konnte. Dieses Kind nun, als ich
      es zum letzten Mal im Abendschein über das Feld nach Hause
      führte, fing von der bevorstehenden Abreise zu reden an, erklärte

----------

05  gekommen] vorbei  H2
11  zögerndem,] zögerndem  H2-E3

S. 56

      mir, ich müßte dennoch mitgehen und fragte, ob ich es
      thun wollte. Ich sagte, daß es nicht sein könne. Das Kind
      fuhr aber fort, gar beweglich und dringlich zu bitten, indem
      es mir am Arme hing und mich am Gehen hinderte, wie
05   Kinder zu thun pflegen, so daß ich mich bedachtlos wohl
      etwas unwirsch frei machte. Da senkte das Mädchen sein
      Haupt und suchte beschämt und traurig die Thränen zu unterdrücken,
      die jetzt hervorbrachen, und es vermochte kaum das
      Schluchzen zu bemeistern. Betroffen wollte ich das Kind begütigen,
10   allein nun wandte es sich zornig ab und entließ mich
      in Ungnaden. Seitdem ist mir das schöne Kind immer im
      Sinne geblieben und mein Herz hat immer an ihm gehangen,
      obgleich ich nie wieder von ihm gehört habe –»

           Plötzlich hielt der Sprecher, der in eine sanfte Erregung
15   geraten war, wie erschreckt inne und starrte erbleichend seine
      Gefährtin an.

           «Nun,» sagte Nettchen ihrerseits mit seltsamem Tone in
      gleicher Weise etwas blaß geworden, «was sehen Sie mich
      so an?»

20        Wenzel aber streckte den Arm aus, zeigte mit dem Finger
      auf sie, wie wenn er einen Geist sähe, und rief:

           «Dieses habe ich auch schon erblickt. Wenn jenes Kind
      zornig war, so hoben sich ganz so, wie jetzt bei Ihnen, die
      schönen Haare um Stirne und Schläfe ein wenig aufwärts,
25   daß man sie sich bewegen sah, und so war es auch zuletzt
      auf dem Felde in jenem Abendglanze.»

           In der That hatten sich die zunächst den Schläfen und
      über der Stirne liegenden Locken Nettchens leise bewegt wie
      von einem ins Gesicht wehenden Lufthauche.

30        Die allezeit etwas kokette Mutter Natur hatte hier eines
      ihrer Geheimnisse angewendet, um den schwierigen Handel zu
      Ende zu führen.

S. 57

           Nach kurzem Schweigen, indem ihre Brust sich zu heben
      begann, stand Nettchen auf, ging um den Tisch herum dem
      Manne entgegen und fiel ihm um den Hals mit den Worten:
      «Ich will Dich nicht verlassen! Du bist mein, und ich will mit
05   Dir gehen trotz aller Welt!»

           So feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung aus tief
     entschlossener Seele, indem sie in süßer Leidenschaft ein
     Schicksal auf sich nahm und Treue hielt.

           Doch war sie keineswegs so blöde, dieses Schicksal nicht
10   selbst ein wenig lenken zu wollen; vielmehr faßte sie rasch und
      keck neue Entschlüsse. Denn sie sagte zu dem guten Wenzel,
      der in dem abermaligen Glückeswechsel verloren träumte:

           «Nun wollen wir gerade nach Seldwyl gehen und den
      Dortigen, die uns zu zerstören gedachten, zeigen, daß sie uns
15   erst recht vereinigt und glücklich gemacht haben!»

           Dem wackern Wenzel wollte °dies nicht einleuchten. Er
      wünschte vielmehr in unbekannte Weiten zu ziehen und geheimnisvoll
      romantisch dort zu leben in stillem Glücke, wie er sagte.

           Allein Nettchen rief: «Keine Romane mehr! Wie Du bist,
20   ein armer Wandersmann, will ich mich zu Dir bekennen und
      in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum
      Trotze Dein Weib sein. Wir wollen nach Seldwyla gehen
      und dort durch Thätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns
      verhöhnt haben, von uns abhängig machen!»

25        Und wie gesagt, so gethan! Nachdem die Bäuerin herbeigerufen
      und von Wenzel, der anfing seine neue Stellung
      einzunehmen, beschenkt worden war, fuhren sie ihres Weges
      weiter. Wenzel führte jetzt die °Zügel. Nettchen lehnte sich so
      zufrieden an ihn, als ob er eine Kirchensäule wäre. Denn
30   des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und Nettchen war
      just vor drei Tagen volljährig geworden und konnte dem
      ihrigen folgen.

----------

16  dies] das  H2
28  Zügel.] Zügel,  H2

S. 58

           In Seldwyla hielten sie vor dem Gasthause zum Regenbogen,
      wo noch eine Zahl jener Schlittenfahrer beim Glase
      saß. Als das Paar im Wirtssaale erschien, lief wie ein
      Feuer die Rede herum: «Ha, da haben wir eine °Entführung;
05   wir haben eine köstliche Geschichte eingeleitet!»

           Doch ging Wenzel ohne Umsehen hindurch mit seiner
      Braut, und nachdem sie in ihren Gemächern verschwunden
      war, begab er sich in den Wilden Mann, ein anderes gutes
      Gasthaus, und schritt stolz durch die dort ebenfalls noch
10   hausenden Seldwyler hindurch in ein Zimmer, das er begehrte,
      und überließ sie ihren erstaunten Beratungen, über welchen sie
      sich das grimmigste Kopfweh anzutrinken genötigt waren.

           Auch in der Stadt Goldach lief um die gleiche Zeit schon
      das Wort «Entführung!» °herum.

15        In aller Frühe schon fuhr auch der Teich Bethesda nach
      Seldwyla, von dem aufgeregten Böhni und Nettchens betroffenem
      Vater bestiegen. Fast wären sie in ihrer Eile ohne Anhalt
      durch Seldwyla gefahren, als sie noch rechtzeitig den Schlitten
      Fortuna wohlbehalten vor dem Gasthause stehen sahen und zu
20   ihrem Troste vermuteten, daß wenigstens die schönen Pferde
      auch nicht weit sein würden. Sie ließen daher ausspannen,
      als sich die Vermutung bestätigte und sie die Ankunft und den
      Aufenthalt Nettchens vernahmen, und gingen gleichfalls in den
      Regenbogen hinein.

25        Es dauerte jedoch eine kleine Weile, bis Nettchen den
      Vater bitten ließ, sie auf ihrem Zimmer zu besuchen und dort
      allein mit ihr zu sprechen. Auch sagte man, sie habe bereits
      den besten Rechtsanwalt der Stadt rufen lassen, welcher im
      Laufe des Vormittags erscheinen werde. Der Amtsrat ging
30   etwas schweren Herzens zu seiner Tochter hinauf, überlegend, auf
      welche Weise er das desperate Kind am besten aus der Verirrung
      zurückführe, und war auf ein verzweifeltes Gebahren gefaßt.

----------

04  Entführung;] Entführung!  H2
14  herum.] kein Absatzende  H2

S. 59

           Allein mit Ruhe und sanfter Festigkeit trat ihm Nettchen
      entgegen. Sie dankte ihrem Vater mit Rührung für alle ihr
      bewiesene Liebe und Güte und erklärte sodann in bestimmten
      Sätzen: erstens sie wolle nach dem Vorgefallenen nicht mehr
05   in Goldach leben, wenigstens nicht die nächsten Jahre; zweitens
      wünsche sie ihr bedeutendes mütterliches Erbe an sich zu
      nehmen, welches der Vater ja schon lange für den Fall ihrer
      Verheiratung bereit gehalten; drittens wolle sie den Wenzel
      Strapinski heiraten, woran vor allem nichts zu ändern sei;
10   viertens wolle sie mit ihm in Seldwyla wohnen und ihm da
      ein tüchtiges Geschäft gründen helfen, und fünftens und letztens
      werde alles gut werden; denn sie habe sich überzeugt, daß er
      ein guter Mensch sei und sie glücklich machen werde.

           Der Amtsrat begann seine Arbeit mit der Erinnerung,
15   daß Nettchen ja wisse, wie sehr er schon gewünscht habe, ihr
      Vermögen zur Begründung ihres wahren Glückes je eher je
      lieber in ihre Hände legen zu können. Dann aber schilderte
      er mit aller Bekümmernis, die ihn seit der ersten Kunde von
      der schrecklichen Katastrophe erfüllte, das Unmögliche des Verhältnisses,
20   das sie festhalten wolle, und schließlich zeigte er das
      große Mittel, durch welches sich der schwere Konflikt allein
      würdig lösen lasse. Herr Melchior Böhni sei es, der bereit
      sei, durch augenblickliches Einstehen mit seiner Person den
      ganzen Handel niederzuschlagen und mit seinem unantastbaren
25   Namen ihre Ehre vor der Welt zu schützen und aufrecht zu
      halten.

           Aber das Wort Ehre brachte nun doch die Tochter in
      größere Aufregung. Sie rief, gerade die Ehre sei es, welche
      ihr gebiete, den Herrn Böhni nicht zu heiraten, weil sie ihn
30   nicht leiden könne, dagegen dem armen Fremden getreu zu
      bleiben, welchem sie ihr Wort gegeben habe, und den sie auch
      leiden könne!

S. 60

           Es gab nun ein fruchtloses Hin- und Widerreden,
      welches die standhafte Schöne endlich doch zum Thränenvergießen
      brachte.

           Fast gleichzeitig drangen Wenzel und Böhni herein, welche
05   auf der Treppe zusammengetroffen, und es drohte eine große
      Verwirrung zu entstehen, als auch der Rechtsanwalt erschien,
      ein dem Amtsrate wohlbekannter Mann, und vor der Hand
      zur friedlichen Besonnenheit mahnte. Als er in wenigen vorläufigen
      Worten vernahm, worum es sich handle, ordnete er
10   an, daß vor allem Wenzel sich in den Wilden Mann zurückziehe
      und sich dort still halte, daß auch Herr Böhni sich nicht
      einmische und fort gehe, daß Nettchen ihrerseits alle Formen
      des bürgerlichen guten Tones wahre bis zum Austrag der
      Sache und der Vater auf jede Ausübung von Zwang verzichte,
15   da die Freiheit der Tochter gesetzlich unbezweifelt sei.

           So gab es denn einen Waffenstillstand und eine allgemeine
      Trennung für einige Stunden.

           In der Stadt, wo der Anwalt ein paar Worte verlauten
      ließ von einem großen Vermögen, welches vielleicht nach Seldwyla
20   käme durch diese Geschichte, entstand nun ein großer Lärm.
      Die Stimmung der Seldwyler schlug plötzlich um zu Gunsten
      des Schneiders und seiner Verlobten, und sie beschlossen, die
      Liebenden zu schützen mit Gut und Blut und in ihrer Stadt
      Recht und Freiheit der Person zu wahren. Als daher das Gerücht
25   ging, die Schöne von Goldach °sollte mit Gewalt zurückgeführt
      werden, rotteten sie sich zusammen, stellten bewaffnete
      Schutz- und Ehrenwachen vor den Regenbogen und vor den
      Wilden Mann und begingen überhaupt mit gewaltiger Lustbarkeit
      eines ihrer großen Abenteuer, als merkwürdige Fortsetzung
30   des gestrigen.

           Der erschreckte und gereizte Amtsrat schickte seinen Böhni
      nach Goldach um Hülfe. Der fuhr im Galopp hin, und am

----------

25  sollte] solle  H2

S. 61

      nächsten Tage fuhren eine Anzahl Männer mit einer ansehnlichen
      Polizeimacht von dort herüber, um dem Amtsrat beizustehen,
      und es gewann den Anschein, als ob Seldwyla ein
      neues Troja werden sollte. Die Parteien standen sich drohend
05   gegenüber; der Stadttambour drehte bereits an seiner Spannschraube
      und that einzelne Schläge mit dem rechten Schlägel.
      Da kamen höhere Amtspersonen, geistliche und weltliche Herren
      auf den Platz, und die Unterhandlungen, welche allseitig gepflogen
      wurden, ergaben endlich, da Nettchen fest blieb und
10   Wenzel sich nicht einschüchtern ließ, aufgemuntert durch die
      Seldwyler, daß das Aufgebot ihrer Ehe nach Sammlung aller
      nötigen Schriften förmlich stattfinden und daß gewärtigt werden
      solle, ob und welche gesetzliche Einsprachen während dieses Verfahrens
      dagegen erhoben würden und mit welchem Erfolge.

15        Solche Einsprachen konnten bei der Volljährigkeit Nettchens
      einzig noch erhoben werden wegen der zweifelhaften Person
      des falschen Grafen Wenzel Strapinski.

           Allein der Rechtsanwalt, der seine und Nettchens Sache
      nun führte, ermittelte, daß den fremden jungen Mann weder
20   in seiner Heimat noch auf seinen bisherigen Fahrten auch nur
      der Schatten eines bösen Leumunds getroffen habe und von
      überall her nur gute und wohlwollende Zeugnisse für ihn einliefen.

           Was die Ereignisse in Goldach betraf, so wies der
      Advokat nach, daß Wenzel sich eigentlich gar nie selbst für einen
25   Grafen ausgegeben, sondern daß ihm dieser Rang von andern
      gewaltsam verliehen worden; daß er schriftlich auf allen vorhandenen
      Belegstücken mit seinem wirklichen Namen Wenzel
      Strapinski ohne jede Zuthat sich unterzeichnet hatte und somit
      kein anderes Vergehen vorlag, als daß er eine thörichte Gastfreundschaft
30   genossen hatte, die ihm nicht gewährt worden wäre,
      wenn er nicht in jenem Wagen angekommen wäre und jener
      Kutscher nicht jenen schlechten Spaß gemacht hätte.

S. 62

           So endigte denn der Krieg mit einer Hochzeit, an welcher
      die Seldwyler mit ihren sogenannten Katzenköpfen gewaltig
      schossen zum Verdrusse der Goldacher, welche den Geschützdonner
      ganz gut hören konnten, da der Westwind wehte. Der Amtsrat
05   gab Nettchen ihr ganzes Gut heraus und sie sagte, Wenzel
      müsse nun ein großer Marchand-Tailleur und Tuchherr werden
      in Seldwyla; denn da hieß der Tuchhändler noch Tuchherr,
      der Eisenhändler Eisenherr u. s. w.

           Das geschah denn auch, aber in ganz anderer Weise, als
10   die Seldwyler geträumt hatten. Er war bescheiden, sparsam
      und fleißig in seinem Geschäfte, welchem er einen großen Umfang
      zu geben verstand. Er machte ihnen ihre veilchenfarbigen
      oder weiß und blau gewürfelten Sammetwesten, ihre Ballfräcke
      mit goldenen Knöpfen, ihre rot ausgeschlagenen Mäntel, und
15   alles waren sie ihm schuldig, aber nie zu lange Zeit. Denn
      um neue, noch schönere Sachen zu erhalten, welche er kommen
      oder anfertigen ließ, mußten sie ihm das frühere bezahlen, so
      daß sie unter einander klagten, er presse ihnen das Blut unter
      den Nägeln hervor.

20        Dabei wurde er rund und stattlich und sah °beinahe gar
      nicht mehr träumerisch aus; er wurde von Jahr zu Jahr geschäftserfahrener
      und gewandter und wußte in Verbindung mit
      seinem bald versöhnten Schwiegervater, dem Amtsrat, so gute
      Spekulationen zu machen, daß sich sein Vermögen verdoppelte
25   und er nach zehn oder zwölf Jahren mit ebenso vielen Kindern,
      die inzwischen Nettchen, die Strapinska, geboren hatte, und mit
      letzterer nach Goldach übersiedelte und daselbst ein angesehener
      Mann ward.

           Aber in Seldwyla ließ er nicht einen Stüber zurück, sei
30   es aus Undank oder aus Rache.

----------

20  beinahe] beinah  H2-E2

 


Keller Seite