GH 4.14

335 Vierzehntes Kapitel.

Die Rückkehr und ein Ave Cäsar.

Zwei stattliche Goldrahmen, im Voraus bestellt, waren fertig, als wir in der Stadt ankamen, die wir nun zum zweiten Male gemeinschaftlich besuchten. Mein Beschützer machte sich sofort daran, den Einfluß zu benutzen, der ihm des Titels und auch seiner Person wegen in unverfänglichen Dingen nicht verkümmert war; die Bilder hingen deshalb nach wenigen Tagen im besten Lichte der Ausstellungsräume, in welchen ich einst so ungeschickt und dunkel aufgetreten. Sie waren freilich keine Meisterwerke, aber auch nicht gehaltlos und konnten eben sowol einen Fortschritt als den Stillstand begrenzter Fähigkeit in sich bergen, das ewige Ausruhen von einem einmaligen Anlaufe, wo der Anläufer in sich gegangen ist und am Wegbord der goldenen Mittelstraße, der vielbegangenen, sitzen bleibt.

Zu meiner Verwunderung hingen auch jene zwei kleinen Bilder daneben, die von mir dem israelitischen 336 Schneider und Gemäldehändler um ein Kleid überlassen worden. Der Graf hatte sie, da er von der Sache wußte, aufgestöbert und aus dritter Hand an sich gebracht. Jetzt waren sie mit Zetteln verziert, worauf das stattliche Wort «Verkauft» geschrieben stand. Diese List des Grafen erweckte ein günstiges Vorurtheil für die ganze kleine Sammlung der vier Stücke, und in dem nächsten Kunstbericht einer verbreiteten großen Zeitung war ihrer schon in einigen aufmunternden Zeilen gedacht, wenn auch nicht mit sehr zutreffenden Worten. Kurz, nach wenigen Tagen meldete sich ein bedeutender Kunsthändler, welcher die deutschen Malerschulen bereiste, um ganze Bildersammlungen für entlegene Hinterländer zu erwerben. Durch diesen Käufer, der meine Bilder zu bescheidenem Preise anzukaufen hoffte, würde mein Name den Zusatz «Mitglied der X'er Schule» erhalten haben, eine Ehre, die ich mir nicht hätte träumen lassen. Der Graf jedoch meinte, die Bilder müßten an einen Liebhaber und nicht an einen Handelsmann verkauft werden, und er sei einem solchen bereits auf der Spur.

Nach abermals einigen Tagen aber übergab mir der Custos der Ausstellung einen für mich aus dem Norden angekommenen Brief. Er war von Erikson, welcher schrieb: «Lieber Heinrich, ich lese eben in 337 der dortigen Zeitung, die ich meiner Frau wegen halte, daß du noch dort bist und vier Arbeiten ausgestellt hast, zwei kleine und zwei größere. Wenn du für die einen oder andern noch keine Bestimmung weißt, so überlasse mir eines der beiden Paare und schick' es mir; ich zähle darauf! Den Preis setze auf anständigem Fuße und nicht zu schüchtern an; denn du mußt wissen, daß es mir gut geht. Ich habe den Stand unsers Hauses wiederherstellen können, ohne das Geld meiner Frau zu brauchen, und überdies Ersparnisse gemacht, nämlich zwei Bübchen, von denen der ältere neulich schon den Teufel an die Wand gemalt hat und zwar mit Kirschmus, als er die Mama sagen hörte, man solle das gerade nicht thun. Ein nettes Kräutchen, und ist noch nicht drei Jahr alt! Kann ich die Bilder bekommen, so schreib' recht viel dazu!»

Ich entschied mich ohne Zaudern für dies Freundesangebot, das meinen Entschluß, der Kunst zu entsagen, am leichtesten bestehen ließ; denn ein solcher Ankauf aus freundschaftlichem Wohlwollen war ja noch kein Beweis für den wahren Künstlerberuf. Der Graf mußte mir beistimmen, obgleich ich den Verdacht hegte, daß es mit seinem Verkaufsprojekte nicht viel anders beschaffen sein mochte.

Die Bilder wurden an Erikson abgesandt. In 338 meinem Briefe, den ich wegen zu vollen Herzens nicht so ausführlich schrieb, wie er wünschte, bat ich ihn, er möge die Kaufsumme mir in die Heimat schicken, wohin ich abzugehen im Begriffe sei; so brachte ich also nicht nur eine für meine bisherigen Verhältnisse ansehnliche Baarschaft mit nach Hause, sondern auch ausstehendes Guthaben, dessen Eingang aus weiter Ferne, nachdem ich selbst so wohlbehalten angekommen und das erste Aufsehen vorüber war, von erfreulichster Wirkung sein mußte.

Allein als ob das unglückliche Träumen von Gold und Gut im Kleinen zur Wahrheit werden wollte, war es hiemit noch nicht genug. Nachdem mein neuer Aufenthalt den Behörden bekannt geworden und eben wieder zu Ende gehen sollte, erhielt ich eine gerichtliche Vorladung, um gewisse Eröffnungen entgegenzunehmen. Schon früher hatte ich meinem alten freundlichen Trödelmännchen Joseph Schmalhöfer einen Besuch abstatten wollen, seine dunkle Behausung jedoch verschlossen gefunden und erfahren, daß der einsame Mensch seit vielen Wochen todt sei. Zu meinem großen Erstaunen wurde mir jetzt auf der Gerichtskanzlei mitgetheilt, daß der Alte, der keine Erben hinterließ, sein nicht ganz unbeträchtliches Vermögen einer wohlthätigen Stiftung vergabt und meine Person in seinem letzten Willen 339 mit einem Legate von vier tausend Gulden bedacht habe. Sofern ich mich nun darüber ausweisen könne, daß ich wirklich die von dem Legator gemeinte Person sei, so liege die genannte Summe zur Auszahlung bereit, nachdem alle bisherigen Erkundigungen nutzlos geblieben seien. Es handle sich namentlich um die Frage, ob ich derjenige wäre, der dem Verstorbenen eine größere Zahl gewisser Handzeichnungen u. s. w. verkauft und bei Gelegenheit einer fürstlichen Vermählungsfeier Fahnenstangen angestrichen habe.

Den durchschlagendsten Nachweis konnte der Graf mit zwei Worten leisten, soweit es die Zeichnungen betraf, und für das Uebrige genügte seine Glaubwürdigkeit dem Gerichtsbeamten vollkommen, als er erklärte, der, welcher die Stecken bemalt, könne kein anderer sein, als ich.

Also wurden mir vier öffentliche Schuldtitel von je tausend Gulden aushingegeben; der Graf verkaufte dieselben und besorgte mir gute Wechsel für den Betrag, so daß ich nun mit Vermögenstheilen in dreifacher Form ausgestattet war; mit baarem Gelde, mit Forderungen und mit Wechseln.

«Wenn jetzt nur nicht der dicke Tell mit seinem Pfeil und das Kirchendach kommt!» sagte ich, als wir an der Mittagstafel unsers Gasthofes saßen, 340 wo ich zum Ueberflusse auch noch der Gast des Grafen war; «ich muß trachten, daß ich fortkomme, sonst zerfließt mir das viele unnatürliche Glück zuletzt doch noch zu einem Traum!»

Ich fühlte mich in der That ordentlich beklemmt und fing an, dem Glückswandel nicht mehr recht zu trauen.

«Was spintisieren Sie mir wieder über der Kümmerlichkeit!» sagte der Graf; «bei Allem, was Sie nun besitzen und was Ihnen so ungeheuer erscheint, ist nicht ein Pfennig, dessen rechtmäßige Quelle Sie nicht in sich selbst zu suchen haben! Und wie können Sie von Traum und Glücksfall reden, wo Sie gegenüber den par Gulden mit Ihren schönen Jahren so im Verluste sind?»

«Aber die Geschichte mit dem Legat ist doch gewiß das reine Glücksabenteuer!»

«Auch dies nicht! Auch sie hat ihre Wurzel nur in Ihnen selbst! Ich habe vergessen, Ihnen ein beschriebenes Papier zu geben, das sich in den Falten eines der Schuldbriefe gefunden hat, als ich die Werthtitel meinem Bankier brachte. Hier ist der Zettel, den der Alte Ihnen hinterließ!»

Der Graf gab mir ein Fetzchen Papier, auf welchem mit der mir bekannten unbehülflichen Handschrift des Trödlers, die zudem von eingetretener 341 Körperschwäche noch verschlimmert sein mochte, zu lesen war:

«Du bist nicht wieder zu mir gekommen, mein Söhnchen, und ich weiß nicht, wo du zu finden bist. Ich möchte aber, weil ich fürchte, daß der Tod mich bei kurzen Tagen in meinem Kram heimsucht, dir Etwas erweisen und zuwenden, was ich nachher doch nicht mehr brauchen kann, leider! Ich thu' es aber, weil du alleweile mit dem zufrieden gewesen bist, was ich dir für deine Malerei gegeben habe, und vornämlich, weil du so still und fleißig bei mir gearbeitet hast. Wenn es in deine Hände kommt, was ich in langen Jahren erspart habe mit Geduld und Vorsicht und dir jetzt verehren thue, so genieße es mit Gesundheit und Verstand, weil ich leider davon abscheiden muß, und hiemit behüt' dich Gott, mein Männchen!»

«Es ist doch gut,» sagte ich mit neuer Verwunderung, «daß es für alle Gebarungen zweierlei Richter giebt! Was Andere mir als Leichtsinn, wo nicht Verkommenheit auslegen würden, erhält von dem braven Alten einen Tugendpreis!»

«Drum wollen wir auf seine Seligkeit anstoßen, weil er so gerecht gerichtet hat!» erwiderte der Graf wohlgemuth; «und jetzt wollen wir unsere Freundschaft leben lassen und Brüderschaft trinken, wenn 342 es Ihnen recht ist!» fuhr er fort, indem er die Gläser von Neuem füllte.

Ich stieß an und trank aus, sah dabei aber so überrascht und verschüchtert drein, daß er es wohl bemerkte, als er mir die Hand schüttelte; denn der Unterschied des Alters und der Lebensverhältnisse hatten mich dergleichen doch nicht erwarten lassen.

«Sei nur nicht verduzt, wenn es gilt, sich zu duzen!» sagte er fröhlich; «ich betrachte es als Gewinn, mit einem Stammesbruder aus anderer Staatsform und von jüngerem Lebensalter auf du und du zu sein. Und auch du darfst dich der guten deutschen Sitte füglich unterwerfen, nach welcher zu Zeiten Jünglinge, Männer und Greise, welche auf dasselbe Ziel losgehen, Brüderschaft schließen. Nun aber wollen wir von dir allein reden! Was gedenkst du zu beginnen in deinem Lande?»

«Ich denke meine unterbrochenen Studien am borghesischen Fechter wieder aufzunehmen!» antwortete ich. Auf seine Frage, was das heiße, erzählte ich kurz, wie ich durch die so genannte Figur auf das Studium des Menschen hinübergeleitet worden sei und nun zwar nicht mehr dessen Gestalt, sondern dessen lebendiges Wesen und Zusammensein zum Berufe wählen möchte. Da mir jetzt Zeit und Mittel durch das Glück gegeben seien, so hoffe ich 343 auf rasche und zweckmäßige Weise noch die nöthigen Kenntnisse nachzuholen, um mich dem öffentlichen Dienste widmen zu können.

«So was habe ich mir auch gedacht,» sagte der gräfliche Duzbruder; «allein wie die Dinge einmal stehen, würde ich mit besondern Studien keine Zeit mehr verlieren, zumal Ihr ja keine Hierarchie mit Zwangsfolge habt. An deiner Stelle würde ich mich ruhig erst ein wenig umsehen und dann, nöthigenfalls als Freiwilliger, ein unteres Amt übernehmen und schwimmen lernen, indem du sofort in's Wasser springst. Machst du es zur Regel, jeden Tag daneben einige Stunden staatswissenschaftliche Sachen zu lesen und zu überdenken, so bist du in wenig Zeit ein praktischer und hinlänglich gebildeter Amtsmann zugleich, und die Unterschiede der Schulweisheit gleichen sich mit den wachsenden Jahren vollständig aus, während das hervorzutreten beginnt, was den eigentlichen Mann ausmacht. Das Gerichtswesen und was daran hängt, würde ich freilich den gründlich geschulten Juristen überlassen und dahin wirken, daß auch die andern es thun. Die Hauptsache ist, daß du später in der Gesetzgebung weißt, wo sie hin gehören und wo ihnen das Wort zu geben ist, und daß du sie in Ehren hältst, so lange sie das Recht lebendig machen und nicht es tödten 344 und das Volk verderben. Am wenigsten dulde feige Richter im Land, sondern stürze sie und gieb sie der Verachtung preis –»

«Halt, Grave!» rief ich, da er sich in lauten Eifer hinein zu reden begann und meine gegenwärtige Sache vergaß; «noch bin ich weder Consul noch Tribun!»

«Gleichviel!» rief er jetzt noch viel lauter; «hast du aber gleichzeitig einen feigen und einen ungerechten Richter neben einander, so laß beiden die Köpfe abschlagen und dann setze dem ungerechten den Kopf des feigen und dem feigen den Kopf des ungerechten auf! So sollen sie weiter richten, so gut sie können!»

Erst jetzt schwieg er, trank und sagte wieder: «Ungefähr so mein' ichs, du wirst mich wol verstehen!»

Ich hatte den sonst so ruhigen Mann nie so aufgeregt gesehen; die bloße Vorstellung, daß ich unmittelbar in eine Republik gehe und mich an deren öffentlichem Leben betheiligen werde, schien ihm andere verwandte Vorstellungen und alte Leiden der Unzufriedenheit zu erwecken.

Indessen war die Stunde des Abschiedes endlich da und kein Grund des Aufschubes mehr vorhanden. Da er meine Angelegenheit geordnet und mich reisefertig 345 sah, fuhr der Graf gleich nach Tisch weg, um sein Gut am gleichen Tage noch zu erreichen, während ich den Bahnhof suchte, der um diese Zeit zum ersten Mal eröffnet worden. Denn einige Bruchstücke von Eisenstraßen des obern Deutschlands hatten ihren ersten Zusammenhang erhalten und ich konnte auf dem neuen Wege rascher die Schweizergrenze erreichen, wenn auch nicht in gerader Richtung. An dieser Veränderung mochte ich die Länge meiner Abwesenheit bemessen.

Als ich den Rhein überschritt und das Land betrat, war dieses gerade mit dem Getöse jener politischen Aktionen erfüllt, welche mit dem Umwandlungsprozesse eines fünfhundertjährigen Staatenbundes in einen Bundesstaat abschlossen, ein organischer Prozeß, der über seiner Energie und Manigfaltigkeit die äußere Kleinheit des Landes vergessen ließ, da an sich nichts klein und nichts groß ist und ein zellenreicher, summender und wohlbewaffneter Bienenkorb bedeutsamer ist, als ein mächtiger Sandhaufen. Beim schönsten Frühlingswetter sah ich Straßen und Wirthshäuser angefüllt und hörte das zornige Geschrei über gelungene oder mißlungene Gewaltthat. Man lebte mitten in der Reihe von blutigen oder trockenen Umwälzungen, Wahlbewegungen und Verfassungsänderungen, die man Putsche 346 nannte und Schachzüge waren auf dem wunderlichen Schachbrette der Schweiz, wo jedes Feld eine kleinere oder größere Volkssouveränetät war, die eine mit Vertretung, die andere demokratisch, diese mit, jene ohne Veto, diese von städtischem Wesen, jene von ländlichem, und wieder eine andere mit theokratischem Oele versalbt, daß sie nicht aus den Augen sehen konnte.

Sogleich übergab ich mein Gepäck der Postanstalt und beschloß, den Rest der Reise zu Fuß zurückzulegen, um unverweilt eine vorläufige Kenntniß der Zustände aus eigener Anschauung zu erwerben; denn gerade auf meinem Wege rauchte und schwelte es an mehreren Orten.

Und doch lag überall das Land in himmelblauem Duft, aus welchem der Silberschein der Gebirgszüge und der Seen und Ströme funkelte und die Sonne spielte auf dem jungen bethauten Grün. Ich sah die reichen Formen der Heimat, in Ebenen und Gewässern ruhig und wagrecht, im Gebirge steil und kühn gezackt, zu Füßen blühende Erde und in der Nähe des Himmels eine fabelhafte Wüste, alles unaufhörlich wechselnd und überall die zahlreich bewohnten Thal- und Wahlschaften bergend. Mit der Gedankenlosigkeit der Jugend und des kindischen Alters hielt ich die Schönheit des Landes für ein 347 historisch-politisches Verdienst, gewissermaßen für eine patriotische That des Volkes und gleichbedeutend mit der Freiheit selbst, und rüstig schritt ich durch katholische und reformierte Gebietstheile, durch aufgeweckte und eigensinnig verdunkelte, und wie ich mir so das ganze große Sieb voll Verfassungen, Confessionen, Parteien, Souveränetäten und Bürgerschaften dachte, durch welches die endlich sichere und klare Rechtsmehrheit gesiebt werden mußte, die zugleich die Mehrheit der Kraft, des Gemüthes und des Geistes war, der fortzuleben fähig ist, da wandelte mich die begeisterte Lust an, mich als einzelner Mann und widerspiegelnden Theil des Ganzen zum Kampfe zu gesellen und mitten in demselben mich mit regen Kräften fertig zu schmieden zum tüchtigen und lebendigen Einzelmann, der mit rathet und thatet und rüstig drauf aus ist, das edle Wild der Mehrheit erjagen zu helfen, von der er selbst ein Theil, die ihm aber deswegen nicht theurer ist, als die Minderheit, die er besiegt, weil diese hinwieder mit der Mehrheit vom gleichen Fleisch und Blut ist.

Aber die Mehrheit, rief ich vor mir her, ist die einzige wirkliche und nothwendige Macht im Lande, so greifbar und fühlbar, wie die körperliche Natur, an die wir gefesselt sind. Sie ist der einzig untrügliche Halt, immer jung und immer gleich mächtig; 348 daher gilt es, sie unvermerkt vernünftig und klar zu machen, wo sie es nicht ist. Dies ist das höchste und schönste Ziel. Weil sie nothwendig und unausweichlich ist, so kehren sich die verkehrten Köpfe aller Extreme gegen sie, indessen sie stets abschließt und selbst den Unterliegenden beruhigt, während ihr ewig jugendlicher Reiz ihn zu neuem Ringen mit ihr lockt und so sein eigenes geistiges Leben erhält und nährt. Sie ist immer liebenswürdig und wünschbar, und selbst wenn sie irrt, hilft die gemeine Verantwortlichkeit den Schaden ertragen. Wenn sie den Irrthum erkennt, so ist das Erwachen aus demselben ein frischer Maimorgen und gleicht dem Anmuthigsten, was es giebt. Sie läßt es sich nicht einfallen, sich stark zu schämen, ja die allgemein verbreitete Heiterkeit läßt den begangenen Fehltritt kaum ungeschehen wünschen, da er ihre Erfahrung bereichert, die Lust der Besserung hervorgerufen hat und auf das schwindende Dunkel das Licht erst recht hell erscheinen läßt.

Sie ist die reizende Aufgabe, an welcher sich ihr Einzelner messen kann, und indem er dies thut, wird er erst zum ganzen Mann, und es tritt eine wundersame Wechselwirkung ein zwischen dem Ganzen und seinem lebendigen Theile.

Mit großen Augen beschaut sich erst die Menge 349 den Einzelnen, der ihr etwas vorsagen will, und dieser, muthig ausharrend, kehrt sein bestes Wesen heraus, um zu siegen. Er denke aber nicht, ihr Meister zu sein; denn vor ihm sind Andere da gewesen, nach ihm werden Andere kommen, und jeder wurde von der Menge geboren; er ist ein Theil von ihr, welchen sie sich gegenüber stellt, um mit ihm, ihrem Kind und Eigenthum, ein Selbstgespräch zu führen. Jede wahre Volksrede ist nur ein Monolog, den das Volk selber hält. Glücklich aber, wer in seinem Lande ein Spiegel seines Volkes sein kann, der nichts widerspiegelt, als das Volk, während dieses selbst nur ein kleiner Spiegel der weiten lebendigen Welt ist und sein soll.

Dergestalt redete ich mich in eine hohe Begeisterung hinein, je blauer der Himmel glänzte und je näher ich der Vaterstadt kam.

Freilich ahnte ich nicht, daß Zeit und Erfahrung die idyllische Schilderung der politischen Mehrheiten nicht ungetrübt lassen würden; noch weniger merkte ich, daß ich im gleichen Augenblicke, wo ich mich selbstthätig zu verhalten gedachte, auch schon die Lehren der Geschichte vergaß, noch bevor ich nur den ersten Schritt gethan. Daß große Mehrheiten von einem einzigen Menschen vergiftet und verdorben werden können und zum Danke dafür wieder ehrliche 350 Einzelleute vergiften und verderben, – daß eine Mehrheit, die einmal angelogen, fortfahren kann, angelogen werden zu wollen, und immer neue Lügner auf den Schild hebt, als wäre sie nur ein einziger bewußter und entschlossener Bösewicht, – daß endlich auch das Erwachen des Bürgers und Bauersmannes aus einem Mehrheitsirrthum, durch den er sich selbst beraubt hat, nicht so rosig ist, wenn er in seinem Schaden dasteht, – das alles bedachte und kannte ich nicht.

Aber auch mit diesen Schatten wäre ja das Unausweichliche und Nothwendige der Mehrheit, ohne deren Zustimmung der mächtigste Selbstherrscher in Rauch aufgeht, und ihre reine Größe, wenn sie unverderbt ist, stark genug gewesen, meine Vorsätze zu tragen und den Durst nach der neuen Lebensluft nicht erlöschen zu lassen. So griffen denn meine Schritte immer kecker und unternehmungslustiger aus, bis ich plötzlich das Pflaster der Stadt unter den Füßen fühlte und ich doch mit klopfendem Herzen ausschließlicher der Mutter gedachte, die darin lebte.

Meine Sachen mußten inzwischen auf der Post angekommen sein. Ich lenkte die Schritte zuerst dahin, um sogleich eine Schachtel an Hand zu nehmen, die meine bescheidenen Reisegrüße für sie enthielt, nämlich den Stoff für ein feineres Kleid, welches 351 zu tragen ich sie zu überreden hoffte, und einen Vorrath ausländischen Gebäckes, das würzig und haltbar ihr einen guten Mund machen sollte.

Diese Schachtel an der Hand ging ich am noch lichten Nachmittage durch unsere alte Straße; sie erschien mir belebter als vor Jahren; auch sah ich daß manche neue Verkaufsmagazine errichtet und alte rußige Werkstätten verschwunden, mehrere Häuser umgebaut und andere wenigstens frisch verputzt waren. Nur das unsrige, ehemals eines der saubersten, sah schwarz und räucherig aus, als ich mich näherte und an die Fenster unserer Stube hinaufblickte. Sie standen offen und waren mit Blumentöpfen besetzt; aber fremde Kindergesichter schauten heraus und verschwanden wieder. Niemand bemerkte oder kannte mich, als ich eben in die bekannte Thüre treten wollte, ein Mann ausgenommen, der mit einem Zollstab und Bleistift in der Hand über die Gasse geeilt kam. Es war der Handwerksmeister, der mich einst auf seiner Hochzeitsreise besucht hatte.

«Seit wann sind Sie da, oder kommen Sie eben?» rief er, eilig mir die Hand reichend.

«Diesen Augenblick komme ich,» sagte ich, und er antwortete und bat mich, schnell eine Minute bei ihm drüben einzutreten, eh' ich hinaufginge.

Ich that es mit ängstlicher Spannung und fand 352 mich in einem schönen Verkaufsladen, in dessen Hintergrund die junge Frau am Schreibpulte saß. Sofort kam auch sie mir entgegen und sagte: «Um Gotteswillen, warum kommen Sie so spät?»

Erschreckt stand ich da, ohne noch errathen zu können, was es sein möchte, das die Leute so erregte. Der Nachbar aber säumte nicht, mich aufzuklären.

«Ihre gute Mutter ist erkrankt, so schwer, daß es vielleicht nicht rathsam ist, wenn Sie unangekündigt und plötzlich bei ihr erscheinen. Seit heute früh haben wir nichts gehört; nun aber ist's am besten, meine Frau geht schnell hinüber und sieht nach wie es steht. Sie warten indessen hier!»

Ohne an eine so traurige Wendung glauben zu wollen, und doch bekümmert, ließ ich mich wortlos auf einen Stuhl sinken, die Schachtel auf den Knieen. Die Frau lief über die Gasse und verschwand in der Thüre, die mir wie einem Fremden noch verschlossen sein sollte. Die Augen voll Thränen kehrte die Nachbarin zurück und sagte mit verschleierter Stimme:

«Kommen Sie schnell, ich fürchte, sie macht es nicht mehr lang, ein Geistlicher ist dort! Die arme Frau scheint nicht mehr bei Bewußtsein!»

Sie eilte wieder vor mir her, um hülfreich bei der Hand zu sein, wenn es noth that, und ich folgte 353 mit zitternden Knieen. Die Nachbarin erklomm rasch und leicht die Treppen; auf den verschiedenen Stockwerken standen feierlich Leute unter ihren Thüren, leise sprechend, wie in einem Sterbehause. Auch vor unserer Wohnung standen solche, die ich nicht kannte; meine Führerin im alten Vaterhause eilte auch an diesen vorüber und ich folgte ihr bis auf den Dachboden, wo ich unsern Hausrath dicht aufeinander stehen sah und die Mutter in einem Kämmerchen wohnte. Leise öffnete die Nachbarin dessen Thüre; da lag die Arme auf dem Sterbebett, die Arme über die Decke hingestreckt, das todesbleiche Gesicht weder rechts noch links wendend und langsam athmend. In den ausgeprägten Zügen schien ein tiefer Kummer auszuleben und der Ruhe der Ergebung oder der Ohnmacht Platz zu machen. Vor dem Bette saß der Diacon der Kirchgemeinde und las ein Sterbegebet. Ich war geräuschlos eingetreten und hielt mich still, bis er geendet. Die Nachbarin trat, als er das Buch sachte zuschlug, zu ihm und flüsterte ihm zu, der Sohn sei angekommen.

«In diesem Fall kann ich mich zurückziehen,» sagte er, sah mich einen Augenblick aufmerksam an, grüßte und begab sich hinweg.

Die Nachbarin trat jetzt an das Bett, nahm ein Tüchlein und trocknete sanft die feuchte Stirne und 354 die Lippen der Kranken; dann, während ich immer noch wie ein vor ein Gericht Gerufener da stand, den Hut in der Hand, die Schachtel zu Füßen, neigte sie sich nieder und sagte ihr mit zarter Stimme, welche die Leidende unmöglich erschrecken konnte: «Frau Lee! der Heinrich ist da!»

Obgleich diese Worte bei aller Weichheit so vernehmlich gesprochen waren, daß auch die vor der offenen Thüre versammelten Weiber sie hörten, gab sie doch kein anderes Zeichen, als daß sie die Augen leise nach der Sprechenden hin wendete. Indessen benahm mir außer der Trauer auch die dumpfe dämmerige Luft des Kämmerchens den Athem; denn der Unverstand der Wärterin, die in einem Winkel hockte, hielt nicht nur das kleine Fenster verschlossen¦ sondern auch die grüne Gardine davor, und ich mußte daran erkennen, daß heute noch kein Arzt da gewesen sei.

Unwillkürlich schlug ich die Gardine zurück und öffnete das Fenster. Die reine Frühlingsluft und das mit ihr einströmende Licht bewegten das erstarrende ernste Gesicht mit einem Schimmer von Leben; auf der Höhe der hageren Wangen zitterte leicht die Haut; sie regte energisch die Augen und richtete einen langen fragenden Blick auf mich, als ich mich, ihre Hände ergreifend, zu ihr niederbeugte; das Wort 355 aber, das ihre ebenfalls zitternden Lippen bewegte, brachte sie nicht mehr hervor.

Die Nachbarin nahm die Wärterin mit sich hinaus, drückte leise die Thüre zu, und ich fiel an dem Bett nieder mit dem Rufe: «Mutter! Mutter! und legte den Kopf weinend auf die Decke. Ein röchelndes stärkeres Athmen hieß mich wieder emporschnellen und ich sah die treuen Augen gebrochen. Ich nahm den leblosen Kopf in die Hände und hielt dies Haupt vielleicht zum ersten Male in meinem Leben so in der Hand, wenigstens so weit ich mich entsinnen konnte. Allein es war für immer vorbei.

Es fiel mir ein, daß ich ihr wol die Augen zudrücken sollte, daß ich ja dafür da sei und sie es vielleicht noch fühlen würde, wenn ich es unterließe; und da ich neu und ungeübt in diesem bittern Geschäfte war, so that ich es mit zager, scheuer Hand.

Die Frauen traten nach einer Weile herein und als sie sahen, daß die Mutter verschieden war, erboten sie sich, das Nöthige zu thun und die Leiche für den Sarg einzukleiden. Da ich einmal da war, verlangten sie von mir die Anweisung eines Todtengewandes. Ich öffnete einen auf dem Dachboden stehenden Schränke, der voll guter Kleider hing, die seit Jahren geschont und gespart und nicht nach der Mode geschnitten waren. Die Wärterin aber 356 sagte, es müsse ein Todtenkleid vorhanden sein, von welchem die Selige gesprochen, und wirklich fand man dasselbe, in ein weißes Tuch eingeschlagen, im Fuße des Schrankes liegen. Zu welcher Zeit sie es anfertigen lassen, war mir unbekannt.

Die Frauen sprachen auch davon, wie wenig Mühe die Todte während ihrer Krankheit verursacht, wie still und geduldig sie gelegen und fast nie etwas verlangt habe.

 


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