GH 4.11

234 Eilftes Kapitel.

Dortchen Schönfund.

Nach einigen Tagen war ich mit dem Ordnen der Studienblätter und der Wiederherstellung der größeren und kleineren Cartonlandschaften zu Ende. Die letzteren waren vorläufig, bis die aus der Hauptstadt zu beziehenden Einfassungen anlangten, an die ihnen bestimmten Orte gehängt worden, wo der Graf sie abwechselnd mit Zufriedenheit betrachtete. Ohne einen größern Werth beanspruchen zu können, erhöhten sie in der That den malerisch ernsten Anblick des Bibliotheksaales und verschafften mir das wohlthuende Gefühl, sie als Zeugnisse ehrlichen Wollens an solcher Stelle gerettet zu wissen, wie ich schon bemerkt habe. Dazu ließ es der Graf nicht an aufrichtenden Aeußerungen fehlen.

«Mögen Sie die künstlerische Laufbahn fortsetzen oder nicht,» sagte er, «so werden mir die Bilder fast gleich werth bleiben, im ersten Falle als Wegezeichen eines Entwicklungsganges, im andern als 235 Illustration oder Ergänzung Ihrer Jugendgeschichte, die ich nun durchgelesen habe. Jeder braucht Liebhabereien; die meinigen dehne ich nun aus auf das Wahrnehmen eines Lebensganges, wie der Ihrige sich darbietet. Sie sind ein wesentlicher Mensch, aber Sie leben in Symbolen, so zu sagen, und das ist ein gefährliches Handwerk, besonders wenn es in so naiver Weise geschieht! Doch wollen wir darüber uns jetzt keine grauen Haare wachsen lassen, wenigstens nicht Sie; denn was mich betrifft, so kann ich dies Sprichwort leider nicht mehr gut anwenden. Was mir zunächst obliegt, ist die Vergütung, die ich Ihnen für diesen Schmuck meines Büchersaales zu leisten habe!»

«Das haben Sie ja schon gethan!» sagte ich fast erschrocken, daß ich schon wieder Geld erhalten solle, so verdächtig war mir dies ungewohnte Glück; und doch zierte ich mich eher, als daß es mir Ernst war, ohne doch die Ziererei zu beabsichtigen. Denn der Graf dauerte mich in meine eigene Armuth hinein ob so starken Ausgaben.

Er rief aber: «Machen Sie keine Umstände, mein Lieber! Es soll nicht ein Kaufpreis sein, denn ich weiß wohl, daß solche Sachen nicht leicht an Mann zu bringen und für jedermann brauchbar wären; es ist vielmehr eine Discretionsfrage für 236 mich und für Sie eine Nothwendigkeit. Da das also so zusammentrifft und außerdem zur Durchführung unseres ungewöhnlichen Abenteuers beiträgt, warum sollten wir demselben die Ehre nicht anthun?»

Hiemit schob er mir eine Papierhülle voll Banknoten in die Brusttasche; es war, wie ich später fand, eine gleiche Summe, wie er mir schon ausbezahlt, so daß ich also schon doppelt so reich dastand, als nur vor einigen Tagen.

«Nun,» fuhr er fort, «sprechen wir von der Hauptsache, davon nämlich, was Sie beginnen wollen? Ich fühle auch, daß Sie umsatteln sollten; für einen biedern Landschafter ist Ihre Einrichtung zu weitläufig, zu winkelig, zu irrgänglich und unruhig, da muß ein anderer Hausmeister hinein! aber nicht so trübselig und unfreiwillig muß es geschehen, sondern, wie wir schon gesagt, mit dem Anstand eines freien Entschlusses, der allenfalls auch anders zu fassen war!»

«Dem Anstand ist ja schon Genüge gethan durch die Aufnahme, welche Sie meinen zweifelhaften Erzeugnissen gewähren!»

«Nein, in meinem Sinne nicht! Sie müssen sich selbst noch den Beweis leisten, daß Sie wenn auch nicht glänzend doch mit Ehren bestehen könnten bei dem Berufe, den Sie gewählt; dann erst mögen 237 Sie sich bedanken und daran vorbei gehen! Malen Sie bei uns ein fertiges Bild, mit gesammelter Kraft, aber leichten Herzens, keck und ohne Sorgen, und ich will wetten, wir verkaufen es!»

Ich schüttelte abermals den Kopf, da ich an die Monate dachte, welche ein solches Unterfangen noch kosten würde.

«Diese That,» sagte ich, «selbst wenn sie gelänge, würde ja wieder nichts anderes als eines der Symbole sein, von denen Sie sagen, Herr Graf, daß ich in ihnen lebe, und in diesem Falle eines, das mir doch zu kostspielig wäre! Auch haben Sie selbst mit Ihrer Großmuth dahin gewirkt, daß die Heimreise mir nun in den Gliedern liegt!»

«Hören Sie an!» versetzte er, «wir wollen ohne längeres Zaudern vorgehen! Aber eine Nacht müssen Sie die Frage noch beschlafen. Machen Sie sich auf morgen früh reisefertig, der Wagen soll bereit stehen; dann bringe ich Sie je nach Ihrem letzten Worte entweder zur Station der nach der Schweiz durchgehenden Post oder wir fahren zusammen nach der Hauptstadt, wo ich ohnedies zu thun habe und Sie die für Ihre Arbeit nöthigen Einkäufe besorgen. Soll es gelten?»

Ich schlug ein, zweifelte aber nicht, daß ich den Weg in die Heimat wählen werde.

238 Diesen Tag sollte das Essen in dem sogenannten Rittersaale eingenommen werden, einem in den oberen Stockwerken liegenden und mir noch unbekannten Raume. Dorothea kam in die Bibliothek, uns das zu verkünden. Es sei dort vermöge der Sonnenseite heute eine so milde Temperatur, daß der Saal nicht brauche geheizt zu werden und der schöne Herbsttag zu den Fenstern hereinspazieren könne. Sie selber sah, wie ich mit stillem Erstaunen wahrnahm, einem hellen Junitage gleich; auch der Graf betrachtete sie überrascht einen Augenblick. Sie war in schwarzen Atlas gekleidet, trug um Hals und Brust eine vornehme Spitzenzierde, und in dieser verlor sich eine Perlenschnur. Die dunkle Lockenlast aber war heut mit besonderem Schwunge nach dem Nacken zurückgeworfen, während die hiedurch zu Tage tretenden lichten Felder der Schläfengegend dem Kopfe einen Ausdruck von Freiheit, wo nicht von Stolz verliehen.

«Was hast du denn vor, daß du dich so aufgeputzt?» sagte der Graf, «erwartest du Gäste, von denen ich nichts weiß?»

«Nichts weiter hab' ich vor,» erwiderte sie, «als daß ich dem schönen Wetter und dem Saale zu Ehren ein bischen Staat machen will. Dazu hoff' ich, durch das Ensemble aller dieser Dinge unserm 239 Freunde, dem Herren Lee, einen bunten Eindruck zu verschaffen; vielleicht, wenn er seine Geschichten fortsetzt, beschreibt er es einst auf einer halben Seite und mit dem Saale schmuggelt sich meine fragwürdige Figur zugleich in das Buch hinein! Heut steht überdies Narcissus im katholischen und im protestantischen Kalender, und da dürfen wir uns allerseits ein wenig der Eitelkeit hingeben, nicht so, Herr Heinrich?»

Obgleich sie diese Rede in einer halb weichmüthig ernsten, halb anmuthig lächelnden Weise vorbrachte, welche keine bösliche Absicht verrieth, so schien mir doch das Wort Narziß eine Stichelei auf die Selbstbespiegelung meines Schreibbuches zu sein, zumal mir nicht recht wohl dabei war, es aus der Hand gegeben zu haben. Aus welcher Tiefe, sei es des Urtheils oder des bloßen Scherzes solche Stichelei aufsteigen mochte, sie dünkte mich gleichermaßen beschämend und ich fühlte die Röthe im Gesicht, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden. Sie beachtete das aber nicht und merkte nichts davon, so daß ich ihr wol zu viel Absicht zugetraut haben mochte.

Der erwähnte Saal war wirklich bunt genug, aber mit Würde und Feierlichkeit. Ein scharlachrother Teppich spannte sich über den ganzen Fußboden; 240 der Plafond war in seiner Länge und Breite von einem einzigen Frescogemälde bedeckt, der Wandraum zwischen demselben und der etwa mannshohen dunkeln Holzbekleidung durchaus mit den Bildnissen der Vorfahren behangen. Ueber einem schwarzen Marmorkamine thürmten sich alte Waffen und Rüstungen empor; andere feinere Waffen glänzten in Glasschränken, besonders kostbare Degen und Schwerter, deren Abbilder man auf manchem Bildnisse ihrer ehemaligen Träger wieder erkannte. Aber es waren auch Waffenstücke aus Jahrhunderten da, in welche keine Bilder zurückreichten. So zeigte ein kleiner dreieckiger Schild noch kaum erkennbar das älteste einfache Wappenbild des Geschlechtes, das nur eines von den zwanzig Feldern des jetzigen Wappenschildes ist, auf dessen oberem Rande vier gekrönte Helme sitzen wie vier Hähne auf einer Stange.

Ich konnte mich nicht enthalten, eifrig umher zu gehen und die Augen an all' den schönen Dingen zu weiden; der Graf erklärte mir ein und anderes, Dorothea brachte Schlüssel herbei und öffnete die wohlverwahrten Schränklein eines großen Buffets, in welchen ein alterthümlicher Silberschatz schimmerte. Andere Schränke waren in das Holzgetäfer der Wände eingelassen und enthielten Handschriften auf Pergament mit glänzenden Miniaturen, viele Urkunden 241 mit hängenden Siegeln in Holz- oder Silberkapseln, auch ohne Kapseln und halb zerbröckelt. Der Graf zog ein par solcher Urkunden hervor und entfaltete sie; ich konnte sie aber nicht lesen, denn sie stammten aus dem zwölften oder gar eilften Jahrhundert und waren kaiserliche Briefe, die sich auf den Fleck Landes bezogen, auf welchem wir standen. Als ich meine Verwunderung über so reiche Erinnerungen und Denkmäler bezeugte, dergleichen ich noch nie gesehen, bemerkte der Graf, er habe eben den ganzen Familienkram in diesem Saale aufgestapelt, wo derselbe sein Dasein genießen möge, ohne die Lebenden auf Schritt und Tritt zu behelligen. Seine Freude daran sei nur eine mäßige und nicht größer, als sie etwa jeder Sammler auch empfinde.

«Ei,» sagte ich, «solche Anschaulichkeit und Durchsichtigkeit einer langen Vergangenheit, die sich auf uns selbst bezieht, läßt sich doch nicht willkürlich vergessen und verwischen, und man sollte sich ihrer freuen können, ohne sie unfreisinnig zu mißbrauchen!»

«Man sollte es denken; wer aber die Erfahrung davon hat, weiß, daß man unter Umständen der sechs oder sieben Jahrhunderte müde werden kann. Ich habe mir auch schon gewünscht, in einem freien Rechtsstaate einer erhaltenden Aristokratie anzugehören 242 vermöge der Abkunft, das Wort Aristokratie natürlich nur im Sinne erhöhter freiwilliger Leistungen verstanden. Allein das sind Träume, aus verschiedenen Gründen, und so bleibt einem Adelsmüden nur der Ausweg, gelegentlich im allgemeinen Volksthume aufzugehen. Das hat aber auch seine Schwierigkeiten und ist ohne glückliche Ereignisse nicht so leicht auszuführen, und so läßt sich auch hier das Schicksal weniger lenken, als man glauben sollte. Mein Vater, der lediglich durch seine Geburt ein Reiterführer war, ist in der Heeresfolge des französischen Revolutionswesens in Rußland elend um's Leben gekommen. Mein älterer Bruder, der für einen Querkopf galt, ging nach Südamerika, um in seiner Art ein neues Leben zu beginnen; allein da fiel er erst recht dem unvernünftigen Zufall anheim und verlor frühzeitig in dortigen Händeln das Leben. Von einer iberischen Adelsdame, mit der er sich kurz vorher ehelich verbunden haben soll, ist uns niemals eine weitere Nachricht zugekommen. Nun bin ich der Majoratsherr und die ganze Herrlichkeit steht auf meinen zwei Augen, da ich absolut der letzte unserer Linie bin. Hätte ich einen Sohn, so wäre ich schon mit ihm nach der neuen Welt gegangen, um in der verjüngenden Volksfluth unterzutauchen. Für mich 243 allein lohnt es nicht mehr der Mühe, sintemal ich im Uebrigen mich mit dem Leben nicht unzufrieden fühle! Doch setzen wir uns zu Tisch, da es unserer Dame einmal gefällt die Ahnfrau zu spielen!»

«Das thu' ich! Mir gefällt es einstweilen recht wohl in diesem Saale, der nicht zu unterschätzen ist!» ließ sich Dorothea mit einiger Gemessenheit vernehmen, die mich wieder verlegen machte, weil ich diese neue Laune nicht verstand und sie weder tadeln noch bewundern konnte. Indessen war der Aufenthalt in der That feierlich sowol durch die hereinfluthende sonnige Luft als durch den Duft eines feinen Räucherwerkes, das vorher in dem Raum verbrannt worden war. Die Farbenpracht, die uns umgab, schien hiedurch noch an Kraft und Tiefe zu gewinnen.

Nachdem wir eine Weile in mehr abgebrochener flüchtiger Unterhaltung gesessen, wendete sich Dorothea mit freundlich herablassendem, jedoch halb gleichgültigem Wesen, ganz wie eine große Dame an mich und sagte: «Nun, Herr Lee, auch Sie sind ja nicht unempfindlich für ein gutes Herkommen, und in Ihrem bürgerlichen Stande freuen Sie sich Ihrer wackern Eltern und versichern sich beim Beginn Ihrer Aufzeichnungen, daß Sie wol auch zweiunddreißig brave Ahnen besitzen, wenn auch unbekannter Weise?»

244 «Allerdings,» gab ich mit Selbstzufriedenheit und gelindem Trotze zur Antwort, «allerdings bin ich auch nicht auf der Straße gefunden!»

Da klatschte sie plötzlich jubelnd in die Hände, indem sie ihre gewöhnliche natürliche Art wieder aufnahm, und rief fröhlich: «Nun hab' ich Sie gefangen, mein wohlgeborner Herr! Ich bin nämlich auf der Straße gefunden, wie Sie mich da sehen!»

Ich sah sie verblüfft an und wußte nicht, was das heißen sollte, indessen sie fortfuhr sich zu freuen und sagte: «Ja ja, mein gestrenger Herr von braver Abkunft! Ich bin das richtigste Findelkind und heiße mit Namen Dortchen Schönfund und nicht anders, so hat mich mein lieber Pflegevater getauft!»

Nun blickte ich verwundert den Grafen an, der lachte: «Ist das also nun das Ziel deines Witzes? Wir mußten nämlich dieser Tage lachen, als wir Ihre Worte lasen: wenn Sie sich selbst bei der Nase nehmen, so seien Sie sattsam überzeugt, daß Sie zweiunddreißig Ahnen besitzen. Als wir dann weiter lasen, wie Sie sich doch nicht enthalten können über die Vorfahren einige Betrachtungen anzustellen, schmollte unser Kind hier und klagte, daß Alle, Adelige wie Bürger und Bauern sich ihrer Abkunft freuen und nur sie allein sich schämen müsse und gar keine Herkunft habe. Denn ich habe sie wirklich auf 245 der Straße gefunden und sie ist meine brave und kluge Pflegetochter!»

Er strich ihr liebevoll die Locken zurück, die aus ihrer Verbannung im wohlgebauten Nacken an den gebührenden Platz neben den erröthenden Wangen zurückstrebten. Betroffen und gerührt bat ich um Verzeihung für die unbewußte Verletzung ihrer Gefühle, die ich begangen. Meine eigene Beschämung, fügte ich bei, habe ich verdient, da ich mich verlocken ließ, die vermeintliche stolze Gräfin abtrumpfen zu wollen, anstatt sie in ihrer Art und Weise ungeschoren zu lassen. Uebrigens sei ihr Herkommen doch noch das vornehmste, denn sie komme so recht unmittelbar aus Gottes Hand und man könne sich ja die höchsten und wunderbarsten Dinge darunter denken!

«Nein,» versetzte der Graf, «wir wollen keine verwunschene Prinzessin aus ihr machen. Der einfache Hergang ist hier Jedermann bekannt, und was jedes Kind weiß, dürfen Sie auch erfahren. Vor zwanzig Jahren, als meine Frau, die einzige, gestorben war, trieb ich mich schmerzlich und trostlos im Lande herum. Eines Abends stieg ich an der österreichischen Donau in einem unserer Stadthäuser ab, das die Geliebte gern und häufig bewohnt hatte. Als ich in's Haus ging, sah ich ein schönes zwei bis dreijähriges Kind still auf der Steinbank neben dem 246 Portale sitzen, ohne seiner zu achten. Ich ging nochmals aus, um das Abendroth über dem breiten Strome zu sehen, das die Verstorbene so oft aufgesucht; das Kind schlief nun. Als ich eine halbe Stunde später zurückkam, weinte es leise und furchtsam. Ich rief jetzt den Hausmeister herbei, der in seiner Teilnahmlosigkeit von nichts wissen wollte, als daß ein Haufen Auswanderer die Stadt durchschwärmt habe, denen das Kind wol angehöre. Ich befahl, es in's Haus zu nehmen und zu pflegen, und da die Sache langsam und widerwillig von statten ging, nahm ich es zu mir und gab ihm von meinem eigenen Essen. Die Auswanderer waren allerdings da gewesen, aber schon auf Flößen und Schiffen die Donau hinuntergefahren. Laut den erhobenen polizeilichen Nachforschungen kamen sie aus Schwaben und gingen nach dem südlichen Rußland; allein weder in ihrer alten noch in der neuen Heimat wollte Jemand etwas von dem Kinde wissen; nirgends wurde ein solches vermißt, nirgends war es in Büchern oder Schriften der Ausgewanderten eingetragen. Eine Bande Zigeuner, die in der Nähe der Stadt erschien, gab Anlaß zu neuen Untersuchungen. Aber auch da kam nichts heraus. Kurz, das Kind verblieb mir als Findelkind schönster Sorte, wie Sie's da vor sich sehen! Ich verschaffte ihm 247 eine schöne gesicherte Findlingsexistenz, erklärte meine todte Frau zu seiner Pathin und nannte es mit ihrem Namen Dorothea. Den Zunamen Schönfund ließ ich durch Amtsgewalt festsetzen, und als die Person sich später gar so gut anließ und ich sie an Kindesstatt in aller Form Rechtens adoptirte, ließ ich noch den hiesigen Orts- und Hausnamen dranhängen. So heißt sie nun Schönfund-W...berg. Zu einer Gräfin konnt' ich sie freilich nicht machen, es ist auch nicht nöthig!»

«Bin ich nun mehr zu bemitleiden oder zu beneiden?» fragte mich das schöne Wesen mit leicht geneigtem Haupte.

«Gewiß nur zu beneiden,» sagte ich, aus meiner gerührten Verwunderung erwachend; «Sie gleichen einfach einem Stern, der aus der Tiefe des Himmels neu erschienen ist und dem man einen Namen gegeben hat. Ein Stern kann aber wieder verschwinden, während die unsterbliche Seele, die jetzt Ihren Namen trägt, nie mehr vergeht.»

Sie bewegte aber den Kopf leise wie zu einem Nein und sagte: «Mit diesem Trost wollen wir uns nicht stark brüsten! Der Findling wird sich so still wieder drücken, wie er gekommen ist!»

Als ich diese Worte nicht recht zu deuten wußte, weil ich die eigene Rede, die sie hervorgerufen, über 248 ihrem Anblicke schon vergessen hatte, sagte der Graf zu mir: «Sie müssen nämlich wissen, es ist Dortchens Wahrzeichen, daß sie ganz auf eigene Faust nicht an Unsterblichkeit glaubt, und zwar nicht etwa in Folge eingeschulter Dinge oder durch fremden Einfluß, sondern auf ursprüngliche Weise, so zu sagen von Kindsbeinen auf!»

Dorothea schämte sich wie über ein verrathenes Herzensgeheimniß; sie drückte das erröthende Gesicht auf den Damast des Tischtuches, daß die Locken sich auf dessen Fläche ausbreiteten. Auf mich aber machte der Vorgang einen Eindruck, welcher dem uns befallenden sanften Schreck oder Schauder gleicht, wenn ein Wesen, das uns bereits mit Wohlgefallen umsponnen hat, mit irgend einer entschiedenen Eigenschaft plötzlich dicht an die Seele herantritt.

«Da ich nun ganz erkannt bin und durchschaut werde,» sagte sie unversehens sich mit holdem Lächeln aufrichtend, «will ich mich zurückziehen und sorgen, daß wir einen traulichen Winkel für unsern Kaffe finden.»

Als ich später den Grafen auf seinen Geschäftsgängen begleitete, da er die Hauptaufsicht über seine Güter selber führte, befrug ich ihn um das Nähere.

«Es ist in der That so,» antwortete er, «seit sie ihr Urtheil nur ein wenig rühren konnte und 249 diese Dinge nennen hörte, wir wissen die Zeit kaum anzugeben, sagte sie mit aller Unbefangenheit, aus dem kindlichsten und reinsten Herzen heraus, daß sie gar nicht absehen und glauben könne, wie die Menschen unsterblich sein sollten. Es kommt allerdings nicht selten vor, daß rechtliche Leute aus allen Ständen dies ursprüngliche schlichte Vergänglichkeitsgefühl ohne Weiteres aus der Mutter Natur schöpfen und ohne skeptischer oder kritischer Art zu sein, dasselbe unbekümmert bewahren wie eine harmlose Selbstverständlichkeit. Aber so lieblich und natürlich, wie bei diesem Kinde, ist mir die Erscheinung noch nie vorgekommen, und ihre unschuldige Ueberzeugung veranlaßte mich, der ich Gott und Unsterblichkeit hatte liegen lassen, wie sie lagen, meinen philosophischen Bildungsgang noch einmal vorzunehmen, und als ich auf dem Wege des Denkens und der Bücher wieder da anlangte, wo das Mädchen von Hause aus gewesen, und Dortchen mir über die Schultern mit in die Bücher guckte, da war es erst merkwürdig, wie sich das gedanklich bestärkte Gefühl in ihr gestaltete. Wer sagt, daß es ohne Unsterblichkeitsglauben weder Poesie noch Lebensweihe in der Welt gebe, der hätte sie sehen müssen; nicht nur Natur und Leben um sie herum, sondern sie selbst wurde wie verklärt. Das Licht der Sonne schien ihr tausendmal 250 schöner, als andern Menschen, das Dasein aller Dinge wurde ihr heilig und ebenso der Tod, den sie sehr ernsthaft nimmt, ohne ihn zu fürchten. Sie gewöhnte sich, zu jeder Stunde an ihn zu denken, mitten in der heiteren Freude und im Glücksgefühl, und daß wir einst ohne allen Spaß und für immer abscheiden müssen. Das ganze vorübergehende Dasein unserer Persönlichkeit und ihr Begegnen mit den anderen vergänglichen, belebten und unbelebten Dingen, unser aufblitzendes und verschwindendes Tanzen im Weltlichte hat für sie einen zarten leichten Anhauch bald von milder Trauer, bald von zierlicher Fröhlichkeit, welche den Druck der schwerfälligen Ansprüche des Einzelnen nicht aufkommen läßt, während das Gesammtwesen doch besteht. Und welche Pietät und Theilnahme hegt sie für die Sterbenden und Todten! Ihnen, welche ihren Lohn dahin haben und abziehen mußten, wie sie sagt, schmückt sie die Gräber, und es vergeht kein Tag, an welchem sie nicht eine Stunde auf dem Kirchhofe zubringt. Dieser ist ihr Lustgarten und ihr Schmollwinkel, und bald kehrt sie fröhlich und übermüthig, bald still und nachdenklich davon zurück.»

Solch' anmuthige Art eignete sich freilich einstweilen nur für ein so sorgloses, leidenfreies und feingebildetes Leben und für die gesunde Jugendkraft; 251 dennoch vermehrte die Schilderung derselben meine Theilnahme und Befangenheit.

«Glaubt sie denn auch nicht an Gott?» fragte ich.

«Schulgerecht,» erwiderte der Graf, «sind allerdings beide Fragen unzertrennlich; nach Frauenart macht sie sich jedoch nicht viel aus der Logik, da sie hier mit ihren Begriffen nicht fertig ist. Du lieber Gott, sagt sie, was kann ich ärmstes Ding wissen! Bei Gott ist alles möglich, auch daß er existirt! Weiter geht sie aber mit so drolligen Wendungen nicht, vielmehr verursacht ihr in Gespräch und Lektüre eine zu große Freiheit oder Frechheit im Ausdrucke nur Mißbehagen, und allzugrobe Ausfälle duldet sie nicht. Sie sehe nicht ein, sagt sie, warum man gegen den lieben Gott, auch wenn man von seiner Abwesenheit überzeugt sei und ihn nicht fürchte, brauche grob und unverschämt zu sein. Das erscheine ihr mehr als eine schäbige, denn tapfere Manier.»

Nach der Rückkehr von unserem Gange suchte ich mein idyllisches Quartier im Gartenhaus auf, wo ich gebeten hatte mich zu lassen, als ich nach dem Schlosse übersiedeln sollte. Ich fand jedoch das kleine Gemach bewohnt; denn Dorothea, die sich nach ihrer Uebung wieder ein Mal im untern Saale aufgehalten, war mit der Gärtnerstochter hinaufgestiegen, um nachzusehen, ob es an nichts fehle. Als ich eintrat, 252 sah ich, daß zwei prachtvolle hohe Schilfrohre mit ihren Blüthenbüscheln kreuzweise hinter den Spiegel gesteckt waren. Unter dem Spiegel, der in einem verblichenen Rahmen von versilbertem getriebenem Kupfer steckte, lag der Zwiehanschädel auf der Kommode, auf einem Postamente von grünem Moose weich gebettet, und um den Scheitel wand sich ein Kränzlein von Immergrün. Mit den Ellbogen auf das bauchig geschweifte Möbel gestützt, stand Röschen übergelehnt und betrachtete den Kopf aufmerksam mit gerümpftem Näschen und possierlich gespitztem Munde. Etwas zurück stand die Herrin, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie es schien in ernsthaften Gedanken das Werk ihrer Hände gleichfalls beschauend.

«Bewundern Sie unsre Tapezierkünste!» wandte sie sich zu mir, «wir haben Ihrem stummen Reisekameraden den Aufenthalt etwas verschönert und Sie dabei mitgemeint. So eben bedenke ich aber, daß Sie sich des Gefährten entledigen und ihm die Ruhe gönnen sollten. Wir wollen ihn gelegentlich auf unserm Gottesacker begraben, ich habe just eine wohlgeborgene kleine Kopfstelle unter den Bäumen für ihn ausgedacht, die niemals umgegraben wird.»

Dieses «gelegentlich», das wie ein Rosenblatt ohne alles Gewicht von ihren Lippen fiel, erklang 253 so gastfreundlich, daß es mir sogleich das Herz erfreute. Doch erwiderte ich, der Schädel müsse nach meinem Vorsatze mit mir in die Heimat zurück und dort wolle ich ihn endlich wieder der Erde übergeben, wenn das auch als eine leere und unnütze Handlung erscheine.

«Wann gehen Sie denn?» sagte Dortchen.

«Ich denke Morgen, wie ausgemacht!»

«Sie gehen nicht, sondern thun, was der Papa räth! Kommen Sie, ich zeig' Ihnen was Hübsches!» Sie öffnete ein altes eingelegtes Schränkchen, das in der Ecke stand, und nahm einige sehr bunte feine und echte chinesische Täßchen aus demselben hervor. «Sehen Sie, die hab' ich von Ihrem und unserm Trödelmännchen erwischt; er hat mir noch mehrere in Aussicht gestellt, aber nicht Wort gehalten bis jetzt. Wir haben sie hieher gebracht, damit Sie uns einmal zum Kaffe bei sich einladen können oder unten im Saal, und damit auch etwas Artiges in Ihrem Zimmer ist! Schau auf, Röschen, so hat Herr Lee Flöte gespielt, als ich ihn zuerst gesehen!»

Sie nahm meinen Stock, hielt ihn wie eine Flöte an den Mund und sang dazu ein par Zeilen der Freischütz-Arie «Und ob die Wolke sie verhülle», und den Stock weglegend sang sie in beschleunigtem 254 Tempo, sie übermüthig abhaspelnd, die Schlußverzierung mit einer Schönheit und Sicherheit der Stimme, die mich in neues Erstaunen versetzte. Sie sang aber keine Note länger, als sich mit einer kurzen Aufwallung guter Laune vertrug, und das Lied verklang eben so unerwartet, wie es begonnen. Plötzlich sah sie den Kaplan über den Platz gehen und rief ihm aus dem Fenster zu: «Ehrwürden! kommen Sie ein bischen zu uns herauf, wir schwatzen hier, bis wir zum Thee wandern, und machen unserm herrlichen Dulder Odysseus den Hof. Röschen stellt die Nausikaa vor, Sie die heilige Macht Alkinoos, des edlen Phäakenbeherrschers, und ich die Mama Arete, Tochter des göttergleichen Rexenor!»

«Da wären Sie ja meine Gemahlin, gnädigste Heidin!» sagte der geistliche Herr schnaufend, als er in der That herangestiegen kam.

«Merken Sie was, o geschorner Diener der heiligen Jungfrau,» lachte sie, «welche den Aether beherrscht und thronet auf goldnen Altären?»

«Diese Unterhaltung geht über meinen Horizont!» rief Röschen, nachdem sie dem Kaplan einen der wenigen Stühle zugerückt hatte, und zog sich zurück, indessen jener ein lustiges Plaudern begann und den Krieg mit dem Fräulein fortführte. Schließlich kam noch der Graf um zu sehen, wo wir alle blieben, 255 und nahm an dem Geplauder Theil, bis es dunkelte und der Mond über den Parkbäumen stand, der seinen Schein in das Zimmer herein sandte. An seiner Gestalt erkannte ich, daß nun vier Wochen verflossen seien, seit ich mit den Arbeitermädchen unter den Silberpappeln am Flusse gesessen, und wunderte mich über den Wechsel der Dinge in einem so einfachen Lebenslauf.

Im Schlosse saß die kleine Gesellschaft dann noch lange beisammen. Im Anfange schien Dortchen noch aufgeregt fröhlich; allmälig wurde sie stiller und begnügte sich, zuweilen an dem großen Flügel kurze Sätze anzuschlagen; zuletzt verschwand sie ohne Abschied.

Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden, bis der Morgen graute, ohne daß ich mich deswegen übel befand. Kaum hatte ich eine kurze Zeit geschlafen, so wurde ich geweckt, weil die Stunde der Abreise da war. Verwirrt und in Uebereilung kleidete ich mich an und lief hinüber, wo der Graf schon beim Frühstücke saß, der Wagen vor der Thüre stand und der Kutscher bei den Pferden. Als wir eingestiegen waren sagte der Graf: «Nun, wohin solls gehen?» Keine Dorothea ließ sich sehen und doch wagte ich weder nach ihr zu fragen, da ich die Unbefangenheit allbereits eingebüßt, noch vermochte ich ohne Abschied 256 aus dem Lande zu gehen. Ich sagte daher, nachdem ich mich eine Minute besonnen, im letzten Augenblicke, ich wolle dem Vorschlage des Herrn Grafen folgen.

«Gut so!» erwiderte er und ließ die Richtung nach der Stadt einschlagen, von welcher ich hergekommen.

 


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