GH 1.08

107 Achtes Kapitel.

Kinderverbrechen.

Gleich dem Chorus in den Schauspielen der Alten hatte ich von meiner frühsten Jugend an das Leben und die Ereignisse in diesem nachbarlichen Hause betrachtet und war ein allezeit aufmerksamer Theilnehmer. Ich ging ab und zu, setzte mich in eine Ecke oder stand mitten unter den Handelnden und Lärmenden, wenn etwas vorfiel. Ich holte die Bücher hervor und verlangte, wessen ich von den Sehenswürdigkeiten bedurfte, oder spielte mit den Schmucksachen der Frau Margreth. Alle die mannigfaltigen Personen, welche in das Haus kamen, kannten mich, und Jeder war freundlich gegen mich, weil dieses meiner Beschützerin so behagte. Ich aber machte nicht viele Worte, sondern gab Acht, daß Nichts von den geschehenden Dingen meinen Augen und Ohren entging. Mit all diesen Eindrücken beladen, zog ich dann über die Gasse wieder nach Hause und spann in der Stille unserer 108 Stube den Stoff zu großen träumerischen Geweben aus, wozu die erregte Phantasie den Einschlag gab. Sie verflochten sich mir mit dem wirklichen Leben, daß ich sie kaum von demselben unterscheiden konnte.

Daraus nur mag ich mir unter Anderem eine Geschichte erklären, welche ich ungefähr in meinem siebenten Jahre anrichtete, und die ich sonst gar nicht begreifen könnte. Ich saß einst hinter dem Tische, mit irgend einem Spielzeuge beschäftigt, und sprach dazu einige unanständige, höchst rohe Worte vor mich hin, deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich auf der Straße gehört haben mochte. Eine Frau saß bei meiner Mutter und plauderte mit ihr, als sie die Worte hörte und meine Mutter aufmerksam darauf machte. Sie fragte mich mit ernster Miene, wer mich diese Sachen gelehrt hätte, insbesondere die fremde Frau drang in mich, worüber ich mich verwunderte, einen Augenblick nachsinnend, und dann den Namen eines Knaben nannte, den ich in der Schule zu sehen pflegte. Sogleich fügte ich noch zwei oder drei Andere hinzu, sämmtlich Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren, mit denen ich kaum noch ein Wort gesprochen hatte. Einige Tage darauf behielt mich der Lehrer zu meiner Verwunderung nach der Schule zurück, sowie jene vier angegebenen Knaben, 109 welche mir wie halbe Männer vorkamen, da sie an Alter und Größe mir weit vorgeschritten waren. Ein geistlicher Herr erschien, welcher gewöhnlich den Religionsunterricht gab und sonst der Schule vorstand, setzte sich mit dem Lehrer an einen Tisch und hieß mich neben ihn sitzen. Die Knaben hingegen mußten sich vor dem Tische in eine Reihe stellen und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Sie wurden nun mit feierlicher Stimme gefragt, ob sie gewisse Worte in meiner Gegenwart ausgesprochen hätten; sie wußten Nichts zu antworten und waren ganz erstaunt. Hierauf sagte der Geistliche zu mir: «Wo hast du die bewußten Dinge gehört von diesen Buben?» Ich war sogleich wieder im Zuge und antwortete unverweilt mit trockener Bestimmtheit: «Im Brüderleinsholze!» Dieses ist ein Gehölz, eine Stunde von der Stadt entfernt, wo ich in meinem Leben nie gewesen war, das ich aber oft nennen hörte. «Wie ist es dabei zugegangen, wie seid ihr dahin gekommen?» fragte man weiter. Ich erzählte, wie mich die Knaben eines Tages zu einem Spaziergange überredet und in den Wald hinaus mitgenommen hätten, und ich beschrieb einläßlich die Art, wie etwa größere Knaben einen kleinern zu einem muthwilligen Streifzuge mitnehmen. Die Angeklagten geriethen außer sich und betheuerten mit Thränen, daß sie 110 theils seit langer Zeit, theils gar nie in jenem Gehölze gewesen seien, am wenigsten mit mir! Dabei sahen sie mit erschrecktem Hasse auf mich, wie auf eine böse Schlange, und wollten mich mit Vorwürfen und Fragen bestürmen, wurden aber zur Ruhe gewiesen und ich aufgefordert, den Weg anzugeben, welchen wir gegangen. Sogleich lag derselbe deutlich vor meinen Augen, und angefeuert durch den Widerspruch und das Läugnen eines Mährchens, an welches ich nun selbst glaubte, da ich mir sonst auf keine Weise den wirklichen Bestand der gegenwärtigen Scene erklären konnte, gab ich nun Weg und Steg an, die an den Ort führen. Ich kannte dieselben nur vom flüchtigen Hörensagen, und obgleich ich kaum darauf gemerkt hatte, stellte sich nun jedes Wort zur rechten Zeit ein. Ferner erzählte ich, wie wir unterwegs Nüsse heruntergeschlagen, Feuer gemacht und gestohlene Kartoffeln gebraten, auch einen Bauernjungen jämmerlich durchgebläut hätten, welcher uns hindern wollte. Im Walde angekommen, kletterten meine Gefährten auf hohe Tannen und jauchzten in der Höhe, den Geistlichen und den Lehrer mit Spitznamen benennend. Diese Spitznamen hatte ich, über das Aeußere der beiden Männer nachsinnend, längst im eigenen Herzen ausgeheckt, aber nie verlautbart; bei dieser Gelegenheit brachte ich sie zugleich 111 an den Mann, und der Zorn der Herren war eben so groß, als das Erstaunen der vorgeschobenen Knaben. Nachdem sie wieder von den Bäumen heruntergekommen, schnitten sie große Ruthen und forderten mich auf, auch auf ein Bäumchen zu klettern und oben die Spottnamen auszurufen. Als ich mich weigerte, banden sie mich an einen Baum fest und schlugen mich so lange mit den Ruthen, bis ich Alles aussprach, was sie verlangten, auch jene unanständigen Worte. Indessen ich rief, schlichen sie sich hinter meinem Rücken davon, ein Bauer kam in demselben Augenblicke heran, hörte meine unsittlichen Reden und packte mich bei den Ohren. «Wart ihr bösen Buben!» rief er, «diesen hab' ich!» und hieb mir einige Streiche. Dann ging er ebenfalls weg und ließ mich stehen, während es schon dunkelte. Mit vieler Mühe riß ich mich los und suchte den Heimweg in dem dunklen Wald. Allein ich verirrte mich, fiel in einen tiefen Bach, in welchem ich bis zum Ausgange des Waldes theils schwamm, theils watete, und so, nach Bestehung mancher Gefährde, den rechten Weg fand. Doch wurde ich noch von einem großen Ziegenbocke angegriffen, bekämpfte denselben mit einem rasch ausgerissenen Zaunpfahl und schlug ihn in die Flucht.

Noch nie hatte man in der Schule eine solche 112 Beredsamkeit an mir bemerkt, wie bei dieser Erzählung. Es kam Niemand in den Sinn, etwa bei meiner Mutter anfragen zu lassen, ob ich eines Tages durchnäßt und nächtlich nach Hause gekommen sei? Dagegen brachte man mit meinem Abenteuer in Zusammenhang, daß der Eine und Andere der Knaben nachgewiesener Maßen die Schule geschwänzt hatte, gerade um die Zeit, welche ich angab. Man glaubte meiner großen Jugend sowol, wie meiner Erzählung; diese fiel ganz unerwartet und unbefangen aus dem blauen Himmel meines sonstigen Schweigens. Die Angeklagten wurden unschuldig verurtheilt als verwilderte bösartige junge Leute, da ihr hartnäckiges und einstimmiges Läugnen und ihre gerechte Entrüstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten; sie erhielten die härtesten Schulstrafen, wurden auf die Schandbank gesetzt und überdies noch von ihren Eltern geprügelt und eingesperrt.

So viel ich mich dunkel erinnere, war mir das angerichtete Unheil nicht nur gleichgültig, sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir, daß die poetische Gerechtigkeit meine Erfindung so schön und sichtbarlich abrundete, daß etwas Auffallendes geschah, gehandelt und gelitten wurde, und das in Folge meines schöpferischen Wortes. Ich begriff gar 113 nicht, wie die mißhandelten Jungen so lamentiren und erbost sein konnten gegen mich, da der treffliche Verlauf der Geschichte sich von selbst verstand und ich hieran so wenig etwas ändern konnte, als die alten Götter am Fatum.

Die Betroffenen waren sämmtlich, was man schon in der Kinderwelt rechtliche Leute nennen könnte, ruhige, gesetzte Knaben, welche bisher keinen Anlaß zu scharfem Tadel gegeben, und aus denen seither stille und arbeitsame junge Bürger geworden. Um so tiefer wurzelte in ihnen die Erinnerung an meine Teufelei und das erlittene Unrecht, und als sie es Jahre lang nachher mir vorhielten, erinnerte ich mich ganz genau wieder an die vergessene Geschichte, und fast jedes Wort ward wieder lebendig. Erst jetzt quälte mich der Vorfall mit verdoppelter nachhaltiger Wuth, und so oft ich daran dachte, stieg mir das Blut zu Kopfe, und ich hätte mit aller Gewalt die Schuld auf jene leichtgläubigen Inquisitoren schieben, ja sogar die plauderhafte Frau anklagen mögen, welche auf die verpönten Worte gemerkt und nicht geruht hatte, bis ein bestimmter Ursprung derselben nachgewiesen war. Drei der ehemaligen Schulgenossen verziehen mir und lachten, als sie sahen, wie mich die Sache nachträglich beunruhigte, und sie freuten sich, daß ich zu ihrer 114 Genugthuung mich alles Einzelnen so wohl erinnerte. Nur der Vierte, der viele Mühe mit dem Leben hatte, konnte niemals einen Unterschied machen zwischen der Kinderzeit und dem späteren Alter, und trug mir die angethane Unbilde so nach, als ob ich sie erst heute, mit dem Verstande eines Erwachsenen, begangen hätte. Mit dem tiefsten Hasse ging er an mir vorüber, und wenn er mir beleidigende Blicke zuwarf, so vermochte ich sie nicht zu erwidern, weil das frühe Unrecht auf mir ruhte und Keiner es vergessen konnte.

 


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