GHA 4.08

271 Achtes Kapitel.

Aber er lernte erst jetzt die allerursprünglichsten menschlichen Zustände kennen. Er war auf dem Dampfwagen angekommen vor Jahren und seitdem nach dieser Seite hin kaum über das Weichbild der Stadt hinausgelangt und hatte sich um die Lage der Ortschaften und um das Straßennetz nicht gekümmert. Bald stieß er in der Dunkelheit auf den Eisenbahndamm, welcher die Landstraße durchschnitt; ein später Zug brauste vorüber, der in fliegender Eile an das gleiche Ziel führte, welches Heinrich zu erreichen strebte, und wehmüthig sah er die dröhnende Wagenburg in der nächtlichen Ferne verschwinden. Jetzt theilte sich die Straße in zwei fast gleich große Zweige, und da er den Unterschied wegen der Nacht nicht 272 bemerkte, folgte er dem etwas schmäleren Zweige; nach einer Stunde wiederholte sich der gleiche Irrthum, indem die Straße sich abermals in eine unmerklich kleinere abzweigte, und endlich war Heinrich, auf einem schmalen holperigen Fahrweg gehend, weit seitwärts von der Heerstraße und in das Innere des alten Landes gerathen. Er ging über dunkle Höhen, durch Gehölze, über Feld- und Wiesenfluren, an Dörfern vorüber, deren schwache Umrisse oder matte Lichter weit vom Wege lagen; er begegnete einzelnen unkenntlichen Menschen, welche ihn ebenso wenig erkennen mochten und behutsam grüßten oder auch schweigend vorbeigingen. Aber er fragte Niemanden nach dem Wege, da er einen näheren Ort in der Richtung nach der Schweiz nicht zu nennen wußte, und nach der letzteren am wenigsten fragen mochte in der Ueberzeugung, daß die Frage so tief im fremden Lande, auf nächtlichen Wegen an herumdämmernde Landleute gerichtet, vollkommen zwecklos und thöricht erscheinen, ja sogar bedenklich auffallen würde. So ging er mitten in dem civilisirtesten Welttheil wie in einer unbewohnten 273 Wildniß und suchte nur die Richtung nach der Heimath innezuhalten, indem er die Himmelsgegend nach den Spuren des verloschenen herbstlichen Abendrothes im Auge behielt. Obschon er müde ward, so wanderte er unverdrossen weiter, sein Päckchen bald unter diesen, bald unter jenen Arm nehmend; denn die Nacht war frostig und kalt. Bald schmerzten ihn auch die steinigen harten Geleise der Wege durch die schlechten Sohlen und er schlotterte in seinen dünnen Kleidern. Die tiefste Einsamkeit waltete jetzt auf Erden, da es Mitternacht war und Heinrich über weite Felder ging; aber um so belebter waren die herbstlichen, mondlosen aber mit tausend Sternbildern durchwirkten Lüfte, denn singende, zwitschernde Staaren- und Schwalbenvölker zogen nach Süden, ja die ganze Nacht hindurch rauschte und tönte es auf den himmlischen Straßen von Sängerschaaren, wilden Tauben-, Hühner- und Gänsezügen, welche entweder weit aus Norden kamen, oder aus diesen Fluren aufbrachen und südwärts reisten. Noch nie hatte Heinrich diesen herbstlichen Nachtverkehr der Lüfte so genau und auffallend 274 gesehen, und indem er sich unten auf der dunklen harten Erde mühselig forthalf, blickte er fortwährend nach dem Himmel und beobachtete neugierig das Ziehen und Begegnen der gefiederten Völkerschaften, denen mit Sonnenaufgang das wärmere Land und die neue lustige Heimath gewiß war.

Dann gerieth er in einen großen Forst und die Dunkelheit wurde vollkommen. Still huschte der Kauz an seinem Gesichte vorüber, die Waldschnepfe bog hier und dort blitzschnell um die Büsche, wovon er aber nur ein leises Wehen hörte, aus der Tiefe schrie der Uhu. Diesen hatte Heinrich nie gehört und er kannte sein Geschrei nicht, daher machte es die Verwirrung und Fremdheit des Abenteuers vollständig. Doch stieß er nun an einer Lichtung auf einen rauchenden Kohlenmeiler, dessen Hüter in der Erdhütte steckte und schlief. Heinrich setzte sich auf einen Baumstrunk an den heißen Meiler und wärmte sich, und er wäre ganz glücklich gewesen, wenn er jetzt nur etwas zu essen und zu trinken gehabt hätte. Er ging zwar einigemal unter die Bäume 275 und ein Wenig in sie hinein und griff gierig mit den Händen im Dunkeln herum, ob nicht etwa ein Thier oder Vogel in dieselben gerathen möchte, was er würgen und braten könnte; es rauschte auch auf und gab Laut da und dort; allein nichts kam ihm unter die begierigen Hände und traurig kehrte er an seinen Platz zurück, wo er endlich einschlief. Ein Flug laut schreiender Wanderfalken, deren silberblaue Flügel und weiße Federbrüste im ersten Morgenroth blitzten, weckte den Schläfer aus verlorenen Träumen, und da, wie er sich ermunterte, der Köhler sich zugleich zu regen und aus seiner Hütte zu kriechen begann, die Füße voran, so stand Heinrich auf und setzte seinen Weg fort, dem Köhler einen guten Morgen wünschend, und der Köhler dankte ihm, des Glaubens, es wäre ein früh vorübergehender Reisender mit kleinem Wachstuchbündel. «Der mag auch kaum ein altes Hemde in seinem Päckchen haben!» sagte er vor sich hin, als die dürftige Gestalt im Walde verschwand.

Doch dieses nahm bald ein Ende und Heinrich trat in eine weite, wunderschöne deutsche 276 Herbstmorgenlandschaft hinaus. Waldige und dunkle Gebirgszüge umgaben den Horizont, durch das weite Thal schlängelte sich ein röthlicher Fluß daher, weil der halbe Himmel im Morgenroth flammte und die purpurisch angeglühten Wolkenschichten über Feldern, Höhen, Dörfern und kleinen grauen Städten hingen. Nebel rauchte an den Waldhängen und verzog sich an den dunkelblauen Bergen; Burgen, hohe Stadtthore und Kirchthürme glänzten röthlich auf, und über all' dem stand noch der spät aufgegangene Mond am Himmel und vermehrte, ohne zu leuchten, den Reichthum dieser Herbstwelt um sein goldenes Rund. Längs des Waldrandes, über welchem er schwebte, entspann sich ein hallender Jagdlärm; Hörner tönten, Hunde musicirten fern und nah, Schüsse knallten, und ein schöner Hirsch sprang an Heinrich vorüber, als er eben den Forst verließ. Das Morgenroth und der alte Mond waren so ruhig und heimathlich, ihn dünkte, er müsse und müsse zu Hause sein, während das fremde Gebirge ihm nur zu deutlich sagte, wie fern er noch sei, und das Morgenroth überdies 277 noch den Seufzer entlockte: Morgenroth bringt ein nasses Abendbrot! Jenes verkündete einen unzweifelhaften tüchtigen Regentag, und der wandernde Heinrich dachte mit Schrecken an die kommenden Fluthen und daß er durchnäßt bis auf die Haut in die zweite Nacht hinein gehen müsse. Die Nässe und der Schmutz besiegeln jeglichen schlechten Humor des Schicksals und nehmen dem Verlassenen noch den letzten Trost, sich etwa erschöpft an die trockene Erde zu werfen, wo es Niemand sieht. Ueberall kältet ihm die bitterliche Feuchte entgegen und er ist gezwungen, aufrecht über sie hin zu tanzen und doch immer zu versinken.

Bald verhüllte auch ein dichtes Nebeltuch alle die Morgenpracht, und das graue Tuch begann sich langsam in nasse Fäden zu entfasern, bis ein gleichmäßiger starker Regen weit und breit hernieder fuhr, welcher den ganzen Tag anhielt. Nur manchmal wechselte das naßkalte Einerlei mit noch stärkeren Wassergüssen, welche einen kräftigen Rhythmus in das Schlamm- und Wasserleben brachten, das bald alles Land und alle 278 Wege überzog. Heinrich ging unverdrossen durch die Fluthen, welche längst seine Kleider durchdrangen, in den Nacken strömten und aus den Rockärmeln heraus liefen. Einen Bauernknecht auf dem Felde fragte er nun nach der Gegend und vernahm, daß er im Allgemeinen die rechte Richtung innegehalten und nur um einige Stunden seitwärts gerathen sei. Er sah mit Seufzen ein, daß er unmöglich in Einem Zuge nach der Heimath gelangen könne, ohne etwas zu essen; doch berechnete er, daß er bis zum nächsten Tage eine Landschaft erreichen müsse, wo seiner dunklen Erinnerung nach schon etwas Obst wuchs, daß er gefallene Früchte suchen, sich leiblich stärken und unter irgend einer Feldscheune ruhen könne, um dann in einem zweiten Anlauf die Schweizergränze zu erreichen, wo er heimisch und geborgen war. Doch schon um die Mittagszeit, als er durch ein triefendes Gehölz ging und es rings im Lande Mittag läutete, schien ihm der Hunger und die Ermattung unerträglich und er setzte sich rathlos auf einen nassen Steinblock. Da kam ein altes Mütterchen daher getrippelt, welches mit der 279 einen Hand ein elendes Bündel kurzen Reisigs auf dem grauen Kopfe trug, dessen Haare so rauh und struppig waren, wie das Reisig, und mit der anderen Hand mühselig eine abgebrochene Birkenstaude nachschleppte. Mit tausend kurzen, zitternden Schrittchen zerrte sie emsig und keuchend, viele Seufzer ausstoßend, den widerspenstigen Busch über alle Hindernisse nach sich, gleich einer Ameise, die einen zu schweren Halm nach dem Bau schleppt. Heinrich bedachte eben mit Scham über seine eigene Ungeduld, wie das schwache bejahrte Weib, das vielleicht dem Lande arbeitende und starke Söhne geboren hatte, sein ganzes Leben nur Einen fortgesetzten Gang in Regen und Noth ging, ohne Grund und ohne Schuld, als ein dicker Flurschütz des Weges kam, wohl eben so alt, wie das arme Weib, aber mit rothem trotzigen Gesicht und einem eisgrauen Schnurrbart und scheibenrunden thöricht rollenden Augen. Dieser fuhr sogleich über die Frau her, welche den Busch zitternd fahren ließ, und schrie: Hast wieder Holz gestohlen, du Strolchin! Bei allen Heiligen betheuerte die Alte, daß sie das 280 Birkenbäumchen also geknickt mitten auf dem Wege gefunden habe; aber er rief: Lügen thust du auch noch? wart' ich werd' dir's austreiben! Und der alte Mann nahm die alte Graue beim vertrockneten Ohr, welches unter der verschobenen geblümten Katunhaube hervor guckte, und zerrte sie mehrmals an selbem hin und her, wie man etwa einen bösen jungen Buben schüttelt, daß es höchst seltsam und unnatürlich anzusehen war. Heinrich sprang mit einem Satze hinzu und schlug dem bösen Holzvogt sein hartes Wachstuchpäcklein einige Mal so heftig um die Ohren und auf das Gesicht, daß der Unhold taumelte und ihm das übermüthige Blut aus Mund und Nase rann. Das Frauchen machte sich, so schnell es konnte, aus dem Staube, oder vielmehr aus dem Regen, der Feldwärtel aber wollte seinen Säbel ziehen, und indem dieser nicht hervorkommen wollte, verharrte der Wüthende krampfhaft in der ziehenden Stellung, die eine Hand am Griff, die andere an der Scheide, schnaubend und fluchend, und gab in dieser gebannten Lage ein so herausforderndes Bild der höchsten Wuth, daß Heinrich noch einmal 281 auf ihn zu sprang, ihm noch mehrere Maulschellen gab und mit Scheltworten, Stößen und Schlägen davon jagte. Froher als der junge Moses, der den ägyptischen Aufseher erschlagen, athmete er auf und fand plötzlich, daß das unvorhergesehene Abenteuer ein gutes Mittagsmahl war, denn er fühlte nicht mehr den mindesten Hunger und sich so angenehm aufgeregt und bei Kräften, daß er wohlgemuth seinen Weg fortsetzte und sich nicht stark um die Rache des Flurschützen kümmerte, welcher wahrscheinlich Mannschaften herbeiholte.

Wie er nun so vorwärts drang durch Wind und Regen, wirkte die Wärme der guten That, welche die Stelle eines nahrhaften Imbisses bei ihm vertreten, immer angenehmer nach; es ging wie ein Licht in ihm auf und es wollte ihn bedünken, als ob eine solche fortgesetzte und fleißige Thätigkeit in lebendigem Menschenstoffe doch etwas ganz anderes wäre, als das abgeschlossene Phantasiren auf Papier und Leinwand, insonderheit wenn man für dieses nicht sehr geeignet sei. Oder vielmehr begann es ihm klarer zu werden 282 mitten in dem düstern Unwetter, in welcher Weise er sich in der Berufswahl getäuscht, da erst jetzt, und noch viel eindringlicher als durch jenes borghesische Fechterbild, das runde lebendige Menschenleben sich in seiner Hand abgedruckt und noch deutlich nachfühlte, im Gegensatz zu dem kalten Flächenleben, dem er sich sonst ergeben.

Auf der Höhe des nahen Gehölzes fürbas schreitend, dachte er sich den Fall, daß er den bösen Flurschützen in der Hitze eines Kampfes todt geschlagen und in Folge dessen gefangen worden und vor ein Gericht über Leben und Tod gestellt sei, und er dachte sich eine feurige und siegreiche Vertheidigungsrede aus, welche ihn nicht nur aus dem bösen Handel zöge, sondern auch der Sache der Menschlichkeit ein kräftiges Wort liehe und aus dem Angeklagten einen Ankläger machen würde. Dann von diesem gewaltsamen Gegenstande zu anderen Vorstellungen übergehend, sah er sich handelnd und redend, streitend und überzeugend oder sich unbefangen überzeugen lassend, unter den Menschen verkehren und durch das bloße Hervorkehren eines guten Gewissens, einer 283 wahren Natur und Offenheit, eines unverhohlenen und kräftigen Benehmens die Lügner überführen, die Unentschlossenen antreiben und die vorsätzlich Unklaren zum Sehen zwingen, jeden Handel bestehen, jede Verwirrung zerstreuen und durch das einfachste und unverfänglichste Dasein das Wahre an sich ziehen und Heiterkeit um sich verbreiten. Er sah sich das Verwerfliche unter allen Bedingungen verwerfen und ohne Prahlerei und Salbung, ohne Verzerrung des Gesichtes und Verrenkung des Lebens überall für das Sprüchlein einstehen: Ehrlich währt am längsten und was dem Einen Recht, ist dem Anderen billig; und er lachte ruhig und unbekümmert diejenigen aus, welche weiser zu sein glaubten, als diese einfache Lehre, und weitsehender, als deren unabweichliche Folgen. Dann indem er wieder des Flurschützen gedachte und den Grund von dessen bestialischem Wesen aufzufinden sich bemühte, stellte er sich die Gestalt desselben nochmals lebendig vor die Augen, und indem er die rollenden Augen, die hochrothen Backen und Nasenpolster, den grauen wohl im Stand gehaltenen Schnurrbart, 284 den dicken Bauch und die blanken Knöpfe des Dienstrockes betrachtete, sah er wohl, daß das Fundament alles dieses anmaßlichen behaglich brutalen Gebausches eine unbegränzte Eitelkeit sei, die sich, da sie einer halben Bestie angehörte, nicht anders als in solcher Weise äußern konnte: «Dieser Kerl, welcher vielleicht der beste Vater und Gatte war und ein ganz guter Geselle unter seines Gleichen, insofern man ihn nur nicht im Prahlen und Ausbreiten seiner Art behinderte, dieser Kerl gefiel sich ausnehmend wohl und hielt sich für einen Kerl, nach Maßgabe seiner Dummheit, als er die alte Frau am Ohr zerrte. Nicht daß er etwa in der Kirche oder im Beichtstuhl zuweilen nicht einsähe, daß er unchristlich lebe und handle; der Rausch der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit ist es, welcher ihn alle Augenblicke fortreißt und seinem Götzen fröhnen läßt. Gleichermaßen sieht er das Laster an seinem nächsten Vorgesetzten, dieser an dem seinigen und so fort stufenweise, indem Einer es am Anderen gar wohl bemerkt, selbst aber nichts Eifriges zu thun hat, als der eigenen Unart voll Wuth den Zügel schießen 285 zu lassen, um nicht zu kurz zu kommen und sich herrlich darzustellen. Alle die tausend von einander Abhängigen streichen ihre grauen Schnäuze und lassen die Augen rollen, nicht aus Bosheit, sondern aus kindischer Eitelkeit; sie sind eitel im Befehlen und eitel im Gehorchen, eitel im Stolz und eitel in der Demuth; sie lügen aus Eitelkeit und die Wahrheit wird aus Eitelkeit in ihrem Munde zur Lüge; denn sie sagen eine Wahrheit nicht um ihrer selbst willen, sondern weil es ihnen im Augenblicke gut anzustehen scheint. Stolz, Herrschsucht, Neid, Habsucht, Hartherzigkeit, Verläumdung, alle diese Laster lassen sich bändigen und zurückhalten oder in Schlummer singen; nur die Eitelkeit ist immer wach und verstrickt den Menschen unaufhörlich in tausend lügenhafte Dinge, Brutalitäten und kleinere oder größere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz anderes Wesen aus ihm machen, als er ursprünglich war und eigentlich sein will. Denn die Eitelkeit ist nichts anderes, als die krankhafte Abirrung von sich selbst, der Mangel an genügendem Gefühl seines sichern Daseins und die Angst, gerade 286 durch diese Verwirrung um das Dasein zu kommen. Hiergegen hilft kein Christenthum; denn der bekehrte Sünder ist erst recht eitel auf seine Reue und auf die Gnade des Herrn und wird seinen neuen Tick darin finden, über die Eitelkeit der Welt zu jammern. Gegen alles das Uebel, was von diesem Mehlstaub Eitelkeit stammt, hilft nur die einfache rein sachliche Gegenwirkung; die Eitelkeit immer und allüberall zu verletzen, sie bei der Nase zu nehmen und ihr die eigene Zwecklosigkeit deutlich zu machen, d. h. in sofern als sie nicht die unschuldige Beschäftigung mit der eigenen Person, sondern die Reibung an den Mitmenschen zu ihrer Befriedigung wählt. In der That sieht man oft, wie ein einziger Mensch, der nicht eitel ist oder doch das Gift unschädlich zu verbergen weiß, wenn er nur will, einen frischen Luftzug unter die Leute bringt, und wo mehrere zusammentreffen, die sich nur leidlich zu mäßigen vermögen, wird sogleich Ruhe, Ehre, Offenheit und Sicherheit herrschen und etwas Erkleckliches gethan werden.» «Ist die Eitelkeit, indem sie in der Zudringlichkeit, in der gewaltsamen 287 Verfügung über die Meinung und Gemüthsruhe Anderer besteht, ein Riß und eine Abirrung vom eigenen Wesen, so ist hingegen die unschuldige Eitelkeit, welche in einer gutartigen Verzierung des eigenen Wesens und in der Freude an demselben besteht, eine wahrhafte Ergänzung desselben, so zu sagen das goldene Hausmittelchen der Menschlichkeit und das beste Gegengift für jene bösartige weltliche Eitelkeit. Aber die gute und schöne Eitelkeit, als die zierliche Vervollkommnung oder Ausrundung unseres Wesens, indem sie alle Keimchen zum Blühen bringt, die uns brauchbar und annehmlich machen für die äußere Welt, ist zugleich der beste und feinste Richter und Regulator ihrer selbst und treibt uns an, das Gute und Wahre, was wir auch sonst vorbringen würden, ohne häßliche Manier, ohne Aufgeblasenheit und Schnörkelei zu vertreten, und so veredelt sie sich von selbst zum guten Geschmack, welcher seinerseits wieder nichts anderes als die Gesundheit und das Vernünftige selbst ist.»

Indem Heinrich dergestalt vor sich hin predigte, lenkte er endlich seine Gedanken auf sich 288 selbst und fragte sich, zum ersten Male in seinem Leben, ob er selbst nicht eitel sei, und in welcher Weise, in der verwerflichen oder in der guten Art? Er setzte sich abermals höchst bedächtig auf einen Stein und sann darüber nach, traurig und verfroren; denn in guten jungen Tagen fragt man sich wohl einmal, ob man gut oder böse sei, ob aber eitel, anmaßend oder unerträglich, erst wenn man etwas mürbe geworden und ordentlich durchgeregnet ist. Da fiel sein Blick auf das triefende Päcklein, das er in seinen Händen hielt, und er fand sofort, daß der Inhalt desselben wohl das Produkt der Selbstgefälligkeit sein dürfte, welche ihn in so frühem Alter unbewußt getrieben hatte, ein Bild von sich selbst zu entwerfen und festzuhalten. Doch als er dieses selbe Bild näher und nicht unliebsam betrachtete und der Sonnenschein der entschwundenen Jugendzeit durch das dunkle feuchte Wachstüchelchen zu leuchten begann, glaubte er sich sagen zu dürfen, daß die Eitelkeit der eingewickelten Bücher zu der guten Art gehöre, welche ihren Inhaber zierlich verlockt, sich selbst zu ergänzen und darzustellen und ihm 289 hilft zu sein, was er seiner Natur nach sein kann. Wie er nun das verhüllte Buch in Gedanken durchblätterte, sah er jene Stelle, wo er in den frühesten Tagen der Kindheit seine kleinen Mitschüler in's Unglück hinein gelogen und eine ganze Malefizgeschichte über sie aus dem Stegreif ersonnen hatte, und damit tauchte die weitere Frage in ihm auf, ob er eigentlich von Grund aus eine Neigung zum Wahren oder zu dessen Gegentheil habe; denn ohne die Liebe zur Wahrheit und Aufrichtigkeit ist die Eitelkeit in allen Fällen ein schädliches Laster. Da er aber seit nun bald zwanzig Jahren nicht die mindeste Lust zu solcher Teufelei mehr verspürt und sich auch gestehen konnte, aufrichtig um das Wahre bekümmert zu sein, so beruhigte er sich über diesen Punkt und suchte sich nur jene so ausgeprägte Kinderunthat auf andere Weise zu erklären.

Und da führte er sich dann den seltsamen Vorgang auf die angeborne Lust und Neigung zurück, im lebendigen Menschenverkehr zu wirken und zu hantiren und seinerseits dazu beizutragen, daß alle Dinge, an denen er betheiligt, einen ordentlichen 290 Verlauf nähmen. Dem Kinde war der Unterschied zwischen gut und böse oder vielmehr zwischen wahrer und falscher Sachlage nicht bewußt und völlig gleichgültig; die Erwachsenen hatten jenen Handel unvernünftig eingeleitet, das Kind hatte nichts zu thun, als da ihm die wirkliche Gerechtigkeit verborgen war, eine poetische Gerechtigkeit herzustellen und dazu erst einen ordentlichen faktischen Stoff zu schaffen. Auch erinnerte er sich noch heute, daß er damals ohne die mindesten Gewissensbisse und mit dem unbefangensten Interesse dem angerichteten Schaden zugesehen. Gedachte er nun noch, wie er um die gleiche Zeit sich Bilder von Wachs gemacht und eine tabellarische Schicksals- und Gerechtigkeitsordnung über sie geführt, so schien es ihm jetzt beinahe gewiß, daß in ihm mehr als alles Andere eigentlich eine Lust läge, im lebendigen Wechselverkehr der Menschen, auf vertrautem Boden und in festbegründeten Sitten das Leben selbst zum Gegenstande des Lebens zu machen.

Mit diesen tüchtigen Gedanken stand Heinrich auf und sah, daß er sich über einem Thale befand, 291 und dicht zu seinen Füßen lag ein alterthümliches Städtlein, wo um ein graues mächtiges Kirchenschiff und um den Giebel des Rathhauses sich ein hundert kleine Häuser zusammenkauerten. Heinrich sah in die paar Sträßlein und auf den Platz hinein, wie auf einen Pfannkuchen, und sah zu seiner Verwunderung, daß die ganze Einwohnerschaft trotz des Regenwetters auf den Beinen war und die kleine Oeffentlichkeit des Ortes erfüllte. Er bemerkte auch alsbald, daß einige Feuerspritzen, begleitet von vielen Männern in kühnen Feuerkappen, sich durch das Gedränge bewegten, und da er keinen Rauch sah, so nahm er an, daß diese Leute wohl ihre herbstliche Feuermusterung und Spritzenprobe hielten. So war es auch; denn indem um das Rathhaus herum Platz gemacht wurde und man Feuerleitern daran legte, fingirte man kühnlich einen Brand auf dem Dache desselben, und alle Fenster des Städtleins waren geöffnet und die Einwohner, so nicht auf der Straße waren, harrten vergnügt unter den Fenstern der tapferen jährlichen Bespritzung ihres Rathhausgiebels. Um die Uebung unternehmender 292 und künstlicher zu gestalten, waren die Spritzen in kleinen Seitengäßchen vertheilt, und die langen Schläuche zur Freude der Stadtjugend, die verstohlen darauf herumtrampelte, zogen sich in mäandrischen Windungen bis zu dem unsichtbaren Feuer hinan. Männer standen hoch auf den Leitern und schritten auf dem Dache, die metallenen Wendröhren in der Hand, während andere ihnen von unten auf Befehlsworte zusandten und sie auf die gefährlichsten Punkte aufmerksam machten. Aber als nun das Abenteuer von Statten gehen sollte, da gab es eine große Verwirrung, ein Rufen, Schreien, Schelten, und zuletzt ein bedenkliches Durcheinanderdrängen und Puffen, ohne daß die Leute wußten, woran es lag und wie sie sich helfen sollten. Heinrich aber sah ganz herrlich, woher die Noth kam, und hätte gern gelacht, wenn er nicht so naß gewesen wäre; denn die Wendrohrführer hatten in der kunstreichen Verschlingung der Schläuche Jeder das unrechte Rohr ergriffen, und als sie nun oben auf dem Capitol ihrer Spritzenmannschaft laut zuriefen, Wasser zu geben oder damit 293 nachzulassen, je nach der Wendung des Abenteuers, da gab immer die Spritze eines Andern Wasser oder versiegte plötzlich, so daß ihr Vorkämpfer vergeblich sein Rohr kühnlich emporhielt und klug zielend hin und her schwenkte, während sein Nebenmann, der an nichts dachte, unerwartet Wasser bekam und dem Bürgermeister damit die Perrücke abspritzte, der den Kopf aus einer Dachluke streckte. Immer größer ward die Verwirrung, und ein allgemeiner Kampf schien zu entstehen; denn den einfachen Grund, die Verwechslung der Wendröhre, entdeckte Niemand, da die verschlungenen Schläuche um die Ecke gingen und Keiner die Sachlage übersah.

Heinrich ging still an dem Städtlein vorüber voll Nachdenken über dies wunderbare Gesicht. Dann rief er mit allem Feuer, dessen sein ausgehungertes und erfrorenes Leibwerk noch habhaft war: «Dies ist das Geheimniß! O wer allezeit auf rechte Weise zu sehen verstände, unbefangen mitten in der Theilnahme, ruhig in edler Leidenschaft, selbstbewußt, doch anspruchlos, kunstlos und doch zweckmäßig! Ich will nun aber doch 294 gehen und noch irgend etwas Lebendiges lernen, wodurch ich unter den Menschen etwas wirke und nütze!»

Also ging er darauf zu, als ob die nächsten hundert Schritte ihn dahin bringen könnten, und die einfache Sehnsucht nach der Heimath verwandelte sich nun in schönste Hoffnung und gewichtige Entschlüsse, also daß Heinrich, da er ganz im Unstern war und verlassen als ein Bettler im Unwetter dahin trieb, sich selbst erhöhte und wenigstens vor sich selbst gute Figur machte.

 


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