GHA 1.04

087 Viertes Kapitel.

Am andern Tage handtierte Heinrich Lee bereits in einem gemietheten Zimmer umher und war bemüht, seine Siebensachen in den verschiedenen Hausgeräthen unterzubringen. Sein gewaltiger altväterlicher Holzkoffer stand mitten auf dem Boden und schien sich nicht erschöpfen zu wollen; denn außer dem reichlichen Vielerlei, womit ihn die Mutter für des Leibes Bedürfniß versorgt hatte, führte er auch einen ziemlichen Vorrath an sonstigen Dingen mit, von denen er sich nicht hatte trennen können, obschon ein guter Theil keinen andern Werth hatte, als daß Heinrich bisher die Sachen täglich vor Augen und in Händen sah. Er kannte den Zustand noch nicht, wo man jedes entbehrliche Buch, jedes Kästchen oder Schächtelchen aus alter Zeit, Briefschaften, 088 sogar musikalische Instrumente, die Einem fast an die Hand gewachsen sind, über Bord wirft und starr und ängstlich seine Zukunft suchend, welche immer zurückzuweichen scheint, während sie fortwährend um uns herumschleicht und hinter unserm Rücken unbemerkt zur Vergangenheit wird, mit dem zusammengepreßten Gepäcke eines Couriers Jahre lang dahin lebt, in Wohnungen, die eben so knapp eingerichtet sind, ein Bett, ein Tisch, ein Sopha, vier Stühle, und das Alles in der jämmerlichen Eleganz, wie sie der Laden eines Trödlers oder Möbelverleihers darbietet und der Geschmack einer hungrigen Wittwe zusammenstellt. Da ist keine trauliche Uhr an der Wand, ja kein überzähliges Tischchen am Fenster, kein Blumenstock vor demselben; statt daß klare weiße Vorhänge schlicht darüberhangen, schlingt sich toll gewordener rother und gelber Kattun um einen trübselig vergoldeten Spieß, welcher schon zwölfmal verkauft und wieder gekauft wurde. Und trotz dieser Armseligkeit hat die einzige Kommode im Nu das Mitgebrachte des fahrenden Bewohners verschlungen wie ein Haifisch eine Katze und 089 läßt Nichts zu sehen übrig, als hier einen Bogen Briefpapier, dort eine Haarbürste. Es ist ein unerquickliches Leben in dieser baumwollenen Pracht der Miethzimmer, immer den Reisekoffer neben dem Ofen!

Die Wohnung jedoch, welche Heinrich gefunden hatte, entsprach mehr seinen mitgebrachten mannigfaltigen Habseligkeiten. Sie war einfach, aber bequem und hatte in ihrer Einrichtung das Ansehen einer seit lange so bestandenen ordentlichen Wohnstube. Die Fenster gingen auf einen stillen Hof, die Sessel an denselben standen noch auf besonderen Erhöhungen, und noch ein anderer behaglicher Sitz zum träumerischen Ausruhen versprach die endlich geleerte Arche Noä Heinrichs zu werden, welche er zwischen den Ofen und das Bett hineinschob.

Er saß auch schon auf dem soliden Deckel, ausruhend und nachdenklich, wie Einer, der für den Augenblick nicht weiß, was eigentlich zunächst nun zu beginnen ist. Ohne Empfehlungen und Bekanntschaften in dieser Stadt angekommen, mußte er sich ganz allein zu helfen und nach 090 eigenem Ueberblick und Urtheil seine Thätigkeit zu ordnen suchen. In der Hand hielt er ein eingebundenes Manuscript und blätterte darin umher, als ob er eine Richtschnur oder wenigstens die Anknüpfungspunkte für eine solche herausfinden wollte. Es war die Geschichte seiner bisherigen Jugend, welche er in jugendlicher Subjectivität und Schreibseligkeit während der letzten Zeit vor seiner Abreise niedergeschrieben hatte, um sich eine Art Abschluß und Uebersicht zu bilden.

Bis seine neuen Verhältnisse eine bestimmte Gestalt angenommen haben, wollen wir das mäßige Büchlein durchlesen, um ihn selbst wie sein ferneres Geschick desto klarer beurtheilen zu können. Schon daß er dasselbe geschrieben, ist so bezeichnend, daß auch der Inhalt denjenigen weiter anregen muß, der überhaupt an unserm Helden Theil nehmen mag.

 

 

091 Eine Jugendgeschichte.

Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von einer seit vielen Jahrhunderten verschollenen Familie hat. Niemand weiß mehr, wo einst das Schloß gestanden, von dem man in den Chroniken noch schwache Spuren findet; eben so wenig weiß man, wann der letzte «Edle» dieses Namens gestorben ist; aber das Dorf steht noch da, seelenreich und belebter als je, während das halbe Dutzend Familiennamen unverändert geblieben ist und für die zahlreichen, weitläufigen Geschlechter fort und fort ausreichen muß. Der kleine Gottesacker, welcher sich rings an die trotz ihres Alters immer schneeweiß geputzte Kirche schmiegt und niemals erweitert worden ist, besteht in seiner Erde buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen 092 Geschlechter, es ist unmöglich, daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich übertreibe und vergesse die vier Tannenbretter, welche jedesmal mit in die Erde kommen und den eben so alten Riesengeschlechtern auf den grünen Bergen rings entstammen; ich vergesse ferner die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche auf diesen Fluren wuchs, gesponnen und gebleicht wurde, und also so gut zur Familie gehört, wie jene Tannenbretter, und nicht hindert, daß die Erde unseres Kirchhofes so schön kühl und schwarz sei, als irgend eine. Es wächst auch das grünste Gras darauf, und die Rosen nebst dem Jasmin wuchern in göttlicher Unordnung und Ueberfülle, so daß nicht einzelne Stäudlein auf ein frisches Grab gesetzt, sondern das Grab muß in den Blumenwald hineingehauen werden, und nur der Todtengräber kennt genau die Gränze in diesem Wirrsal, wo das frisch umzugrabende Gebiet anfängt.

093 Das Dorf zählt etwa zweitausend Bewohner, von welchen je etwa dreihundert den gleichen Namen führen; aber höchstens zwanzig bis dreißig von diesen pflegen sich Vetter zu nennen, weil die Familienerinnerungen selten bis zum Urgroßvater hinaufsteigen. Aus der unergründlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht gestiegen, sonnen sich diese Menschen darin, so gut es gehen will, rühren sich und wehren sich ihrer Haut, um wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Wenn sie ihre Nasen in die Hand nehmen, so sind sie sattsam überzeugt, daß sie eine ununterbrochene Reihe von zwei und dreißig Ahnen besitzen müssen und anstatt dem natürlichen Zusammenhange derselben nachzuspüren, sind sie vielmehr bemüht, die Kette ihrerseits nicht ausgehen zu lassen. So kommt es, daß sie alle möglichen Sagen und wunderlichen Geschichten ihrer Gegend mit der größten Genauigkeit erzählen können, ohne zu wissen, wie es zugegangen ist, daß der Großvater die Großmutter nahm. Alle Tugenden glaubt Jeder selbst zu besitzen, wenigstens diejenigen, 094 welche nach seiner Lebensweise für ihn wirkliche Tugenden sind, und was die Missethaten betrifft, so hat der Bauer so gut Ursache, wie der Vornehme, die seiner Väter in Vergessenheit begraben zu wünschen; denn er ist zuweilen eine so wüste und wilde Bestie, wie manches andere Menschenkind.

Ein großes rundes Gebiet von Feld und Wald bildet ein reiches unverwüstliches Vermögen der Bewohner; doch ist es eigentlich nicht ganz rund, indem mancher mächtige Acker, manche Zelle Laub- und Nadelholz jenseits der Hügel hinunter kühn und naseweis in das Gebiet anderer Gemeinden eingreift, während jene sich gelegentlich durch die glückliche und listige Erwerbung eines diesseitigen Gränzstückes rächen und daher das Ganze einen so zerfetzten Rand hat, wie ein Bettlermantel. Dieser Reichthum blieb sich von je her so ziemlich gleich; wenn auch hie und da eine Braut einen Theil verschleppt, so unternehmen die jungen Bursche dafür häufige Raubzüge bis auf acht Stunden weit und sorgen für hinlänglichen Ersatz, so wie dafür, daß die Gemüthsanlagen 095 und körperlichen Physiognomieen der Gemeinde die gehörige Mannigfaltigkeit bewahren, und sie entwickeln hierin eine tiefere und gelehrtere Einsicht für ein frisches Fortgedeihen, als manche reiche Patricier- oder Handelsstadt und als die europäischen Fürstengeschlechter.

Die Eintheilung dieses Besitzes aber verändert sich von Jahr zu Jahr theilweise und mit jedem halben Jahrhundert ganz bis zur Unkenntlichkeit. Die Kinder der gestrigen Bettler sind heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkommen dieser treiben sich morgen mühsam in der Mittelklasse umher, um entweder ganz zu verarmen oder sich wieder aufzuschwingen.

Mein Vater starb so früh, daß ich ihn nicht mehr von seinem Vater konnte erzählen hören, ich weiß daher so gut wie Nichts von diesem Manne; nur so viel ist gewiß, daß damals die Reihe einer ehrbaren Unvermöglichkeit an seiner engeren Familie war. Da ich nicht annehmen mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein liederlicher Kauz gewesen sei, so halte ich es für wahrscheinlich, daß sein Vermögen durch eine sehr 096 zahlreiche Nachkommenschaft zersplittert wurde; wirklich habe ich auch eine Menge entfernter Vettern, welche ich kaum noch zu unterscheiden weiß, die, wie die Ameisen krabbelnd, bereits wieder im Schwunge sind, ein gutes Theil der viel zerhackten und durchfurchten Grundstücke an sich zu bringen. Ja, einige Alte unter denselben sind in der Zeit schon wieder reich gewesen und ihre Kinder wieder arm geworden.

Dazumal war es nicht ganz mehr jene erbärmliche Schweiz, wie sie Göthe im Wertherschen Nachlasse geschildert hat, und wenn auch die junge Saat der französischen Ideen durch einen ungeheueren Schneefall östreichischer, russischer und selbst französischer Quartierbillets bedeckt worden war, so gestattete doch die kluge Mediations-Verfassung einen gelinden Nachsommer und verhinderte meinen Vater nicht, die Kühe, die er weidete, eines Morgens stehen zu lassen und, einem höheren Triebe folgend, nach der Stadt zu gehen, um ein gutes Handwerk zu erlernen. Von da an verscholl er so ziemlich für seine Mitbürger; denn nach langen und harten, 097 aber meisterlich bestandenen Lehrjahren führte ihn sein Trieb, einen immer kühnern Schwung nehmend, in die Ferne und er durchschweifte als ein geschickter Steinmetz entlegene Reiche. Indessen aber hatte der sanftknisternde Papierblumenfrühling, welcher nach der Schlacht bei Waterloo aufging, wie überall hin, so auch in die geheimsten Winkel der Schweiz sein bläuliches Kerzenlicht verbreitet und der große Dichter hätte sich jetzt eher wieder zurecht finden können, wenn nicht unterdessen auch sein wackerer Lavater gestorben und mit demselben das letzte Restchen Phantasie aus dem städtischen Zopfthume der Schweizer entflohen wäre. Auch in meines Vaters Geburtsdorf, dessen Bewohner in den neunziger Jahren ebenfalls entdeckt hatten, daß sie seit undenklichen Zeiten mitten in einer Republik lebten, war die ehrwürdige und zugleich muntere Dame Restauration mit allen ihren Schachteln und Cartons feierlich eingezogen und richtete sich in dem Neste so gut ein, als sie konnte. Schattige Wälder, Höhen und Thäler mit den angenehmsten Freudenplätzen, ein fischreicher, klarer Fluß und die Wiederholung 098 aller dieser guten Dinge in einer weiten, belebten Nachbarschaft, welche sogar noch mit einigen bewohnten Schlössern gespickt war, zogen den einwohnenden Herrschaften Jahr aus und ein eine Menge jagender, fischender, tanzender, singender, essender und trinkender Gäste aus der Stadt zu. Man bewegte sich um so leichter, als man den Reifrock und die Perrücke weislich da liegen ließ, wohin sie die Revolution geworfen hatte, und das griechische Costüm der Kaiserzeit, wenn auch in diesen Gegenden etwas nachträglich, angethan hatte. Die Bauern sahen mit Verwunderung die weißumflorten Göttergestalten ihrer vornehmen Mitbürgerinnen, ihre sonderbaren Hüte und noch merkwürdigeren Taillen, welche dicht unter den Armen gegürtet waren. Die Herrlichkeit des aristokratischen Regimentes entfaltete sich am höchsten im Pfarrhause. Die reformirten Landgeistlichen der Schweiz waren keine armen, demüthigen Schlucker, wie ihre Amtsbrüder im protestantischen Norden. Da alle Pfründen im Lande ausschließlich den Bürgern der herrschenden Städte offen standen, so bildeten sie zu den weltlichen 099 Ehrenstellen eine Ergänzung im Systeme der Herrschaft, und die Pfarrer, deren Brüder das Schwert und die Wage handhabten, nahmen Theil an der Glorie, wirkten und regierten auf ihre Weise im Sinne des Ganzen kräftig mit oder überließen sich einem sorgenfreien, vergnüglichen Dasein, gleich den vornehmen Geistlichen der katholischen Kirche. Sehr oft waren sie von Haus aus reich und die ländlichen Pfarrhäuser glichen eher den Landsitzen großer Herren; auch gab es eine Menge adeliger Seelenhirten, welche die Bauern Junker Pfarrer nennen mußten. Ein solcher war nun zwar der Pfarrer meines Heimathdorfes nicht, auch nichts weniger als ein reicher Mann; doch sonst einer sehr alten Bürgerfamilie angehörend, vereinigte er in seiner Person und in seinem Hauswesen allen Stolz, Kastengeist und Lustbarkeit eines warmgesessenen Städtethumes. Er that sich etwas darauf zu gut, ein Aristokrat zu heißen, und vermischte seine geistliche Würde ungezwungen mit einem derben, militärisch-junkerhaften Anstriche; denn man wußte dazumal noch nichts, weder von dem Namen noch 100 von dem Wesen des modernen, weinerlichen und heuchlerischen Conservatismus. Es ging in seinem Hause geräuschvoll und lustig her, die Pfarrkinder steuerten reichlich, was Feld und Stall abwarf, die Gäste holten sich selbst aus dem Forste Hasen, Schnepfen und Rebhühner, und da Treibjagden doch nicht landesüblich waren, so wurden die Bauern dafür zu großen Fischzügen freundschaftlich angehalten, welches jedesmal ein Fest gab, und so war das Pfarrhaus nie ohne Freude und Lärm. Man durchzog das Land rings umher, stattete Besuche ab in Masse und empfing solche, schlug Zelte auf und tanzte darunter oder spannte sie über die lauteren Bäche und die Griechinnen badeten darunter; man überfiel in hellen Haufen eine einsame kühle Mühle oder fuhr in vollgepfropften Nachen auf Seeen und Flüssen, der Pfarrer immer voran mit einer Entenflinte über dem Rücken oder ein mächtiges spanisches Rohr in der Hand.

Geistige Bedürfnisse waren in diesen Kreisen nicht viele vorhanden; die weltliche Bibliothek des Pfarrers bestand, wie ich sie noch gesehen 101 habe, aus einigen altfranzösischen Schäferromanen, Geßners Idyllen, Gellerts Lustspielen und einem stark zerlesenen Exemplar des Münchhausen. Zwei oder drei einzelne Bände von Wieland schienen aus der Stadt geliehen und nicht mehr zurückgeschickt worden zu sein. Man sang Hölty's Lieder und nur die Jugend führte etwa einen Mathisson mit sich. Der Pfarrer selbst, wenn einmal von dergleichen Dingen die Rede war, pflegte seit dreißig Jahren regelmäßig zu fragen: «Haben Sie Kloppstocks Messias gelesen?» und wenn das, wie natürlich, bejaht wurde, schwieg er vorsichtig. Ein steinalter Herr, welcher sich in seiner Jugend einige Zeit in Berlin umhergetrieben hatte und in der Gesellschaft des Pfarrhauses allerlei schlechte Späße über den ehrwürdigen Beruf des Hausherrn zum Besten gab, sprach viel von Voltaire und mischte ein pikantes Grauen in den unbefangenen Frohsinn der Damen. Im Uebrigen gehörten die Gäste nicht zu jenen feinsten Kreisen, welche die Cultur der herrschenden Interessen durch erhöhte Geistesthätigkeit pflegen und durch eine edle Bildung zu befestigen suchen, 102 sondern zu der gemüthlichen Klasse, welche sich darauf beschränkt, die Früchte jener Bemühungen zu genießen und sich ohne weiteres Kopfzerbrechen lustig zu machen, so lange es Kirchweih ist.

Aber diese ganze Herrlichkeit barg bereits den Keim ihres Zerfalles in sich selbst. Der Pfarrer hatte einen Sohn und eine Tochter, welche beide in ihren Neigungen von denjenigen ihrer Umgebung abwichen. Während der Sohn, ebenfalls ein Geistlicher und dazu bestimmt, seinem Vater im Amte zu folgen, vielfache Verbindungen mit jungen Bauern anknüpfte, mit ihnen ganze Tage auf dem Felde lag oder auf Viehmärkte fuhr und mit Kennerblick die jungen Kühe betastete, hing die Tochter, so oft sie nur immer konnte, die griechischen Gewänder an den Nagel und zog sich in Küche und Garten zurück, dafür sorgend, daß die unruhige Gesellschaft etwas Ordentliches zu beißen fand, wenn sie von ihren Fahrten zurückkehrte. Auch war diese Küche nicht der schwächste Anziehungspunkt für die genäschigen Städtebewohner, und der große gutbebaute Garten zeugte 103 für einen ausdauernden Fleiß und treffliche Ordnungsliebe.

Der Sohn endigte sein Treiben damit, daß er eine begüterte rüstige Bauerntochter heirathete, in ihr Haus zog und alle sechs Werktage hindurch ihre Aecker und ihr Vieh bestellte. In Anwartschaft seines höheren Amtes übte er sich, als Säemann den göttlichen Samen in wohlberechneten Würfen auszustreuen und das Böse in Gestalt von wirklichem Unkraut auszujäten. Der Schrecken und der Zorn hierüber waren groß im Pfarrhause, zumal, wenn man bedachte, daß die junge Bäuerin einst als Hausfrau dort einziehen und herrschen sollte, sie, welche weder mit der gehörigen Anmuth im Grase zu liegen, noch einen Hasen standesgemäß zu braten und aufzutragen wußte. Deshalb war es der allgemeine Wunsch, daß die Tochter, welche allmälig schon über ihre erste Jugend hinausgeblüht hatte, entweder einen standesgetreuen jungen Geistlichen ins Haus locken oder sonst noch lange die zusammenhaltende Kraft desselben bleiben möchte. Aber auch diese Hoffnungen schlugen fehl.

104 Denn eines Tages geschah es, daß das ganze Dorf in große Bewegung gesetzt wurde durch die Ankunft eines schönen, schlanken Mannes, der einen feinen grünen Frack trug nach dem neuesten Schnitte, eng anliegende weiße Beinkleider und glänzende Suwarowstiefeln mit gelben Stulpen. Wenn es regnerisch aussah, so führte er einen rothseidenen Schirm mit sich, und eine große goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den Augen der Bauern einen ungemein vornehmen Anstrich. Dieser Mann bewegte sich mit einem edeln Anstande in den Gassen des Dorfes umher und trat freundlich und leutselig in die niederen Thüren, verschiedene alte Mütterchen und Gevattern aufsuchend, und war niemand Anders, als der weitgereiste Steinmetzgeselle Lee, welcher seine lange Wanderschaft ruhmvoll beendigt hatte. Man kann wohl sagen ruhmvoll, wenn man bedenkt, daß er vor zwölf Jahren, als ein vierzehnjähriger Knabe, arm und bloß das Dorf verlassen hatte, hierauf bei seinem Meister die Lehrzeit durch lange Arbeit abverdienen mußte, mit einem dürftigen Felleisen und wenig Geld in die Fremde zog und 105 nun solchergestalt als ein förmlicher Herr, wie ihn die Landleute nannten, zurückkehrte. Denn unter dem niedern Dache seiner Verwandten standen zwei mächtige Kisten, von denen die eine ganz mit Kleidern und feiner Wäsche, die andere mit Modellen, Zeichnungen und Büchern angefüllt war. Es war etwas Schwungvolles in dem ganzen Wesen des etwa sechs und zwanzig Jahre alten Mannes, seine Augen glühten wie von einem anhaltenden Glanze innerer Wärme und Begeisterung, er sprach immer hochdeutsch und suchte das Unbedeutendste von seiner schönsten und besten Seite zu fassen. Er hatte ganz Deutschland vom Süden bis zum Norden durchreist und in allen großen Städten gearbeitet; die Zeit der Befreiungskriege in ihrem ganzen Umfange fiel mit seinen Wanderjahren zusammen und er hatte die Bildung und den Ton jener Tage in sich aufgenommen, insofern sie ihm verständlich und zugänglich waren; vorzüglich theilte er das offene und treuherzige Hoffen der gebildeten Mittelklassen auf eine bessere, schönere Zeit der Wirklichkeit, ohne von den geistigen Ueberfeinerungen und 106 Wunderseligkeiten etwas zu wissen, welche in manchen romantischen Elementen dazumal als deutsches Wesen durch die höhere Gesellschaft wucherten.

Es waren nur wenige gleichgesinnte Arbeitsgenossen, welche die ersten, seltenen und verborgenen Keime bildeten zu der Selbstveredlung und Aufklärung, so den wandernden Handwerkerstand zwanzig Jahre später durchdrang und welche einen Stolz darauf setzten, die besten und gesuchtesten Arbeiter zu sein und dadurch, verbunden mit erhöhtem Fleiße und Mäßigkeit, die Mittel erlangten, auch ihren Geist zu bilden und äußerlich wie innerlich schon in ihren Wanderjahren als achtungswerthe, tüchtige Männer dazustehen. Ueberdies war dem Steinhauer in den großen Werken altdeutscher Baukunst ein Licht aufgegangen, welches seinen Pfad noch mehr erleuchtete, indem es ihn mit heitern Künstlerahnungen erfüllte und den dunkeln Trieb jetzt erst zu rechtfertigen schien, welcher ihn von der grünen Weide hinweg dem gestaltenden Leben der Städte zugeführt hatte. Er lernte zeichnen mit eisernem Fleiße, brachte 107 ganze Nächte und Feiertage damit zu, Werke und Muster aller Art durchzupausen, und nachdem er den Meißel zu den kunstreichsten Gebilden und Verzierungen führen gelernt und ein vollkommener Handarbeiter geworden war, ruhte er nicht, sondern studirte den Steinschnitt und sogar solche Wissenschaften, welche andern Zweigen des Bauwesens angehören. Er suchte überall an großen öffentlichen Bauten unterzukommen, wo es viel zu sehen und zu lernen gab, und brachte es durch seine Aufmerksamkeit bald dahin, daß ihn die Baumeister eben soviel auf ihren Arbeitszimmern am Zeichnen- oder Schreibtische verwendeten, als auf dem Bauplatze. Daß er dort nicht feierte, sondern manche Mittagsstunde damit zubrachte, alles Mögliche durchzuzeichnen und alle Berechnungen zu copiren, welche er erhaschen konnte, versteht sich von selbst. So wurde er zwar kein akademischer Künstler mit einer allseitigen Durchbildung, aber doch ein Mann, welcher wohl den kühnen Vorsatz fassen durfte, in der Hauptstadt seiner Heimath ein wackerer städtischer Bau- und Maurermeister zu werden. Mit dieser ausgesprochenen 108 Absicht trat er nun auch im Dorfe auf zur großen Bewunderung seiner Sippschaft, und das Erstaunen wurde noch größer, als er, mit einem feinen Manschettenhemd bekleidet und sein reinstes Hochdeutsch sprechend, sich mitten unter die französisch-griechischen Gestalten des Pfarrhauses mischte und um die Pfarrerstochter warb. Der ländlich gesinnte Bruder mochte hierzu eine Vermittelung, wenigstens ein aufmunterndes Beispiel darbieten; die Jungfrau schenkte dem blühenden Freier bald ihr Herz, und die Verwirrung, welche dadurch zu entstehen drohte, löste sich schnell, als die Eltern der Braut kurz hinter einander starben.

Also hielten sie eine stille Hochzeit und zogen in die Stadt, sich weiter nicht nach der glanzvollen Vergangenheit des Pfarrhauses umsehend, in welches alsobald der junge Pfarrer mit ganzen Wagen voll Sensen, Sicheln, Dreschflegeln, Rechen, Heugabeln, mit gewaltigen Himmelbetten, Spinnrädern und Flachshecheln und mit seiner kecken, frischen Frau einzog, welche mit ihrem geräucherten Speck und mit ihren derben 109 Mehlklößen schnell sämmtliche Mousselingewänder, Fächer und Sonnenschirmchen aus Haus und Garten vertrieben hatte. Nur eine Wand voll vortrefflicher Jagdgewehre die auch der Nachfolger zu führen wußte, lockte im Herbst einzelne Jäger auf das Dorf und unterschied das Pfarrhaus einigermaßen von einem Bauernhause.

In der Stadt fing der junge Baumeister damit an, daß er einen oder zwei Arbeiter anstellte und, selbst arbeitend vom Morgen bis zum Abend, ganz kleine Aufträge aller Art annahm und darin so viel Geschick und Zuverlässigkeit zeigte, daß noch vor Ablauf eines Jahres sein Geschäft sich erweiterte und sein Credit sich begründete. Er war so erfinderisch und einsichtsvoll, gewandt und schnell berathen, daß bald viele Bürger seinen Rath und seine Arbeit suchten, wenn sie im Zweifel waren, wie sie etwas verändern oder neu bauen lassen sollten. Dabei war er immer bestrebt, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden und war froh, wenn ihn seine Kunden nur gewähren ließen, so daß sie manche Zierde, manches Fenster und Gesims von 110 reineren Verhältnissen erhielten, ohne daß sie deswegen den Geschmack ihres Baumeisters theurer bezahlen mußten.

Seine junge Frau indessen führte mit wahrem Fanatismus das Hauswesen, welches durch verschiedene Arbeiter und Dienstboten schnell erweitert wurde. Sie beherrschte mit Kraft und Meisterschaft das Füllen und Leeren einer Anzahl großer Speisekörbe und war der Schrecken der Marktweiber und die Verzweiflung der Schlächter, welche alle Gewalt ihrer alten Rechte aufbieten mußten, einen Knochensplitter mit auf die Wage zu bringen, wenn das Fleisch für die Frau Lee gewogen wurde. Obgleich Meister Lee fast keine persönlichen Bedürfnisse hatte und unter seinen zahlreichen Grundsätzen derjenige der Sparsamkeit in der ersten Reihe stand, so war er doch so gemeinnützig und großherzig, daß das Geld für ihn nur Werth hatte, wenn etwas damit ausgerichtet oder geholfen wurde, sei es durch ihn oder durch Andere; daher verdankte er es nur seiner Frau, welche keinen Pfennig unnütz ausgab und den größten Ruhm darein setzte, Jedermann 111 weder um ein Haar zu wenig noch zu viel zukommen zu lassen, daß er nach Verfluß von zwei oder drei Jahren schon solche Ersparnisse vorfand, welche seinem unternehmenden Geiste nebst dem Credite, den er bereits genoß, eine reichlichere Nahrung darboten. Er kaufte alte Häuser an für eigene Rechnung, riß sie nieder und baute an der Stelle stattliche Bürgerhäuser, in welchen er eine Menge Einrichtungen fremder oder eigener Erfindung anbrachte. Diese verkaufte er mehr oder weniger vortheilhaft, sogleich zu neuen Unternehmungen schreitend, und alle seine Gebäude trugen das Gepräge eines beständigen Strebens nach Formen- und Gedankenreichthum. Wenn ein gelehrter Architekt auch oft nicht wußte, wohin er alle angebrachten Ideen zählen sollte und Vieles der Unklarheit oder Unharmonie zeihen mußte, so gestand er doch immer, daß es Gedanken seien, und belobte, wenn er unbefangen war, den schönen Eifer dieses Mannes mitten in der geistesarmen und nüchternen Zeit des Bauwesens, wie sie wenigstens in den abgelegenen Provinzen des Kunstgebietes bestand.

112 Dies thätige Leben versetzte den unermüdlichen Mann in den Mittelpunkt eines weiten Kreises von Bürgern, welche alle zu ihm in Wechselwirkung traten und unter diesen bildete sich ein engerer Ausschuß gleichgesinnter und empfänglicher Männer, denen er sein rastloses Suchen nach dem Guten und Schönen mittheilte. Es war nun um die Mitte der zwanziger Jahre, wo in der Schweiz eine große Anzahl hochgebildeter Männer aus dem innersten Schooße der herrschenden Klassen selbst, die abgeklärten Ideen der großen Revolution wieder aufnehmend, einen frucht- und dankbaren Boden für die Julitage vorbereiteten und die edeln Güter der Bildung und Menschenwürde sorgsam pflegten. Zu diesen bildete Lee mit seinen Genossen, an seinem Orte, eine tüchtige Fortsetzung im arbeitenden Mittelstande, um so bedeutender, als viele Mitglieder in der Tiefe des Volkes auf den Landschaften umher ihre Wurzeln hatten. Während jene Vornehmen und Gelehrten die künftige Form des Staates, philosophische und Rechtswahrheiten besprachen und im Allgemeinen die Fragen schönerer Menschlichkeit 113 zu ihrem Gebiete machten, wirkten die rührigen Handwerker mehr unter sich und nach unten hin, indem sie einstweilen ganz praktisch so gut als möglich sich einzurichten suchten. Eine Menge Vereine, öfter die ersten in ihrer Art, wurden gestiftet, welche meistens irgend eine Versicherung zum Wohle der Mitglieder und ihrer Angehörigen zum Zwecke hatten. Schulen wurden gesellschaftsweise gegründet, um den Kindern des gemeinen Mannes eine bessere Erziehung zu sichern, da die damaligen, sehr gut eingerichteten Stadtschulen nur den wohlhabenden Altbürgerkindern zugänglich und die Volksschule in einem elenden Zustande waren; kurz, eine Menge Unternehmungen dieser Art, zu jener Zeit noch neu und verdienstlich, gab den braven Leuten zu schaffen und Gelegenheit, sich daran empor zu bilden. Denn in zahlreichen Zusammenkünften mußten Statuten und Verfassungen aller Art entworfen, berathen, durchgesehen und angenommen, Vorsteher gewählt und nach außen wie nach innen Rechte und Formen erklärt und gewahrt werden.

Zu diesen verschiedenen Elementen kam und 114 berührte sie gemeinschaftlich der griechische Freiheitskampf, welcher auch hier, wie überall, zum erstenmal in der allgemeinen Ermattung die Geister wieder erweckte und erinnerte, daß die Sache der Freiheit diejenige der ganzen Menschheit sei. Die Theilnahme an den hellenischen Bethätigungen verlieh auch den nicht philologischen Genossen zu ihrer übrigen Begeisterung einen edeln kosmopolitischen Schwung und benahm den hellgesinnten Gewerbsleuten den letzten Anflug von Spieß- und Pfahlbürgerthum. Lee war überall der Erste, ein zuverlässiger, hingebender Freund für Alle, seines reinen Charakters und seiner gehobenen Gesinnung wegen allgemein geachtet, ja geehrt. Er war glücklich zu nennen, um so mehr, als er von keinerlei Art Eitelkeiten befangen war, und erst jetzt fing er von Neuem an zu lernen und nachzuholen, was ihm immer erreichbar war. Er trieb auch seine Freunde dazu an und es war bald Keiner derselben mehr, der nicht eine kleine Sammlung geschichtlicher und naturwissenschaftlicher Werke aufzuweisen hatte. Da fast Allen in ihrer Jugend die gleiche dürftige Erziehung zu 115 Theil geworden, so ging ihnen nun besonders bei ihrem Eindringen in die Geschichte ein reiches und ergiebiges Feld auf, welches sie mit immer größerer Freude durchwandelten. Ganze Stuben voll waren sie an Sonntagsmorgen beisammen, disputirten und theilten sich die immer neuen Entdeckungen mit, wie allezeit die gleichen Ursachen die gleichen Wirkungen hervorgebracht hätten und dergleichen. Wenn sie auch Schiller auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken, und von diesem Standpunkte aus ergriffen sie auch seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen, ohne auf die künstlerische Rechenschaft, die der große Schriftsteller sich selber gab, weiter eingehen zu können. Sie hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Aehnliches aufzufinden, das sie so befriedigt hätte. Seine gleichmäßige Gluth und Reinheit des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck für ihr schlichtes, bescheidenes Treiben, als für das Wesen mancher Schillerverehrer 116 der vornehmen heutigen Welt. Aber einfach und durchaus praktisch, wie sie waren, fanden sie nicht volles Genügen an der dramatischen Lectüre im Schlafrock; sie wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu sehen und weil von einem stehenden Theater in den damaligen Schweizerstädten nicht die Rede war, so entschlossen sie sich, wiederum angefeuert von Lee, kurz, und spielten selbst Comödie, so gut sie konnten. Die Bühne und die Maschinen waren freilich schneller und gründlicher hergestellt, als die Rollen erlernt wurden, und Mancher suchte sich über den Umfang seiner Aufgabe selbst zu täuschen, indem er mit vergrößerter Wuth Nägel einschlug und Latten entzwei sägte; doch ist es nicht zu leugnen, daß ein großer Theil der Gewandtheit im Ausdruck und des äußeren Anstandes, welche fast allen jenen Freunden eigen geblieben ist, auf Rechnung solcher Uebungen gesetzt werden darf. Wie sie älter wurden, ließen sie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber sie behielten den Sinn für das Erbauliche in jeder Beziehung getreulich bei. Würde man heut zu 117 Tage fragen, wo sie denn die Zeit zu Alledem hergenommen haben, ohne ihre Arbeit und ihr Haus zu vernachlässigen: so wäre zu antworten, daß es erstens noch gesunde und naive Männer und keine Grübler waren, welche zu jeder That und jeder außerordentlichen Arbeit einen Schatz von Zeit verschwenden mußten, indem sie Alles zerfaserten und breit quetschten, ehe es genießbar war, und daß zweitens die täglichen Stunden von sieben bis zehn Uhr Abends, gleichmäßig benutzt, eine viel ansehnlichere Masse von Zeit ausmachen, als der Bürger heute glaubt, welcher dieselben hinter dem Weinglase im Tabacksqualm verbrütet. Man war damals noch nicht einer Rotte von Schenkwirthen tributpflichtig, sondern zog es vor, im Herbste das edle Gewächs selbst einzukellern, und es war keiner dieser Handwerker, vermöglich oder arm, der sich nicht geschämt hätte, am Schlusse der abendlichen Zusammenkünfte ein Glas derben Tischweines mangeln zu lassen oder denselben aus der Schenke holen zu müssen. Während des Tages sah man keinen, oder höchstens flüchtig und heimlich, vor den Gesellen 118 es verbergend, ein Buch oder eine Papierrolle in die Werkstatt eines Anderen bringen, und sie sahen alsdann aus, wie Schulknaben, welche unter dem Tische einen Roman lesen, und versäumten wohl auch eben so wenig ihr zeitliches Wohl dabei.

Doch sollte dies aufgeregte Leben auf andere Weise Unheil bringen. Lee hatte sich, bei seinen gehäuften Arbeiten in steter Anstrengung, eines Tages stark erhitzt und achtlos nachher erkältet, was den Keim gefährlicher Krankheit in ihn legte. Anstatt sich nun zu schonen und auf jede Weise in Acht zu nehmen, konnte er es nicht lassen, sein Treiben fortzusetzen und überall mit Hand anzulegen, wo etwas zu thun war. Schon seine vielfältigen Berufsgeschäfte nahmen seine volle Thätigkeit in Anspruch, welche er nicht plötzlich schwächen zu dürfen glaubte. Er rechnete, speculirte, schloß Verträge, ging weit über Land, um Einkäufe zu besorgen, war im gleichen Augenblick zu oberst auf den Gerüsten und zu unterst in den Gewölben, riß einem Arbeiter die Schaufel aus der Hand und that einige gewichtige Würfe damit, 119 ergriff ungeduldig den Hebebaum, um eine mächtige Steinlast herumwälzen zu helfen, hob, wenn es ihm zu lange ging, bis Leute herbei kamen, selbst einen Balken auf die Schultern und trug ihn keuchend an Ort und Stelle, und statt dann zu ruhen, hielt er am Abend in irgend einem Verein einen lebhaften Vortrag oder war in später Nacht ganz umgewandelt auf den Brettern, leidenschaftlich erregt, mit hohen Idealen in einem mühsamen Ringen begriffen, welches ihn noch weit mehr anstrengen mußte, als die Tagesarbeit. Das Ende war, daß er plötzlich dahin starb, als ein junger, blühender Mann, in einem Alter, wo Andere ihre Lebensarbeit erst beginnen, mitten in seinen Entwürfen und Hoffnungen und ohne die neue Zeit aufgehen zu sehen, welcher er mit seinen Freunden zuversichtlich entgegenblickte. Er ließ seine Frau mit einem fünfjährigen Kinde allein zurück und dies Kind bin ich.

Der Mensch rechnet immer das, was ihm fehlt, dem Schicksale doppelt so hoch an, als das, was er wirklich besitzt; so haben mich auch die langen Erzählungen der Mutter immer mehr mit 120 Sehnsucht und Heimweh nach meinem Vater erfüllt, welchen ich nicht mehr gekannt habe. Meine deutlichste Erinnerung an ihn fällt sonderbarer Weise um ein volles Jahr vor seinem Tode zurück, auf einen einzelnen schönen Augenblick, wo er an einem Sonntag Abend auf dem Felde mich auf den Armen trug, eine Kartoffelstaude aus der Erde zog und mir die anschwellenden Knollen zeigte, schon bestrebt, Erkenntniß und Dankbarkeit gegen den Schöpfer in mir zu erwecken. Ich sehe noch jetzt das grüne Kleid und die schimmernden Metallknöpfe zunächst meinen Wangen und seine glänzenden Augen, in welche ich verwundert sah von der grünen Staude weg, die er hoch in die Luft hielt. Meine Mutter rühmte mir nachher oft, wie sehr sie und die begleitenden Mägde erbaut gewesen seien von seinen schönen Reden. Aus noch früheren Tagen ist mir seine Erscheinung ebenfalls geblieben durch die befremdliche Ueberraschung des vollen Waffenschmuckes, in welchem er eines Morgens Abschied nahm, um mehrtägigen Uebungen beizuwohnen; da er ein Schütze war, so ist auch dies Bild mit der lieben 121 grünen Farbe und mit heiterem Metallglanze für mich ein und dasselbe geworden. Aus seiner letzten Zeit aber habe ich nur noch einen verworrenen Eindruck behalten und besonders seine Gesichtszüge sind mir nicht mehr erinnerlich.

Wenn ich bedenke, wie heiß treue Eltern auch an ihren ungerathensten Kindern hangen und dieselben nie aus ihrem Herzen verbannen können, so finde ich es höchst unnatürlich, wenn sogenannte brave Leute ihre Erzeuger verlassen und Preis geben, weil dieselben schlecht sind und in der Schande leben, und ich preise die Liebe eines Kindes, welches einen zerlumpten und verachteten Vater nicht verläßt und verläugnet, und begreife das unendliche, aber erhabene Weh einer Tochter, welche ihrer verbrecherischen Mutter noch auf dem Schaffotte beisteht. Ich weiß daher nicht, ob es aristokratisch genannt werden kann, wenn ich mich doppelt glücklich fühle, von ehrenvollen und geachteten Eltern abzustammen, und wenn ich vor Freude erröthete, als ich, herangewachsen, zum ersten Male meine bürgerlichen Rechte ausübte in 122 bewegter Zeit, und in Versammlungen mancher bejahrte Mann zu mir herantrat, mir die Hand schüttelte und sagte, er sei ein Freund meines Vaters gewesen und er freue sich, mich auch auf dem Platze erscheinen zu sehen; als dann noch Mehrere kamen und Jeder den «Mann» gekannt haben und hoffen wollte, ich werde ihm würdig nachfolgen. Ich kann mich nicht enthalten, so sehr ich die Thorheit einsehe, oft Luftschlösser zu bauen und zu berechnen, wie es mit mir gekommen wäre, wenn mein Vater gelebt hätte und wie mir die Welt in ihrer Kraftfülle von frühester Jugend an zugänglich gewesen wäre; jeden Tag hätte mich der treffliche Mann weiter geführt und würde seine zweite Jugend in mir verlebt haben. Wie mir das Zusammenleben zwischen Brüdern eben so fremd als beneidenswerth ist und ich nicht begreife, wie solche meistens auseinander weichen und ihre Freundschaft außerwärts suchen, so erscheint mir auch, ungeachtet ich es täglich sehe, das Verhältniß zwischen einem Vater und einem erwachsenen Sohne um so neuer, unbegreiflicher und glückseliger, als ich Mühe habe, 123 mir dasselbe auszumalen und das nie Erlebte zu vergegenwärtigen.

So aber muß ich mich darauf beschränken, je mehr ich zum Manne werde und meinem Schicksale entgegenschreite, mich zusammen zu fassen und in der Tiefe meiner Seele still zu bedenken: Wie würde Er nun an deiner Stelle handeln oder was würde Er von deinem Thun urtheilen, wenn er lebte. Er ist vor der Mittagshöhe seines Lebens zurückgetreten in das unerforschliche All und hat die überkommene goldene Lebensschnur, deren Anfang Niemand kennt, in meinen schwachen Händen zurück gelassen und es bleibt mir nur übrig, sie mit Ehren an die dunkle Zukunft zu knüpfen oder vielleicht für immer zu zerreißen, wenn auch ich sterben werde. – Nach vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen Zwischenräumen, wiederholt geträumt, der Vater sei plötzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne, Glück und Freude bringend, zurückgekehrt, und sie erzählte es jedesmal am Morgen, um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken, während ich, von einem heiligen 124 Schauer durchweht, mir vorzustellen suchte, mit welchen Blicken mich der theuere Mann ansehen und wie es unmittelbar werden würde, wenn er wirklich eines Tages so erschiene.

Je dunkler die Ahnung ist, welche ich von seiner äußern Erscheinung in mir trage, desto heller und klarer hat sich ein Bild seines innern Wesens vor mir aufgebaut und dies edle Bild ist für mich ein Theil des großen Unendlichen geworden, auf welches mich meine letzten Gedanken zurückführen und unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube.

 


Fassungen       Keller Seite       HILFE