Gottfried Keller

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Aufsätze zu Kellers Leben und Werk

Walter Morgenthaler:
Überlieferung und Textkonstitution bei Gottfried Keller

In: Schweizer Monatshefte 73 (1993), H. 6, S. 503-515
(Gekürzter und modifizierter Text)

Inhalt

1. Entstehung und Überlieferung des literarischen Werks 2. Editorische Konsequenzen
1.1 Die Druckvorlagen 2.1 Zwei Editionstypen
1.2 Publikationsgeschichte und Textintegration 2.2 Die Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA)
1.3 Die Gesammelten Werke 1889 (GW)
 

1 Entstehung und Überlieferung des literarischen Werks

 

Der auffallendste methodische Unterschied der historisch-kritischen Edition gegenüber anderen Keller-Ausgaben liegt - abgesehen von der Apparatgestaltung - im Bereich der Textkonstitution: dort also, wo aus mehreren überlieferten Textversionen jeweils eine einzelne auszuwählen, kritisch zu bearbeiten und als 'edierter Text' zu präsentieren ist. Die getroffenen editorischen Entscheide sollen hier - in Diskussion mit den zwei wichtigsten gegenwärtigen Editionstypen - vorgestellt werden. Da sie eng mit den Besonderheiten der Entstehung, Publikation und Überlieferung von Kellers Werk verknüpft sind, werden zunächst einige Fakten dieser noch ungenügend erforschten Zusammenhänge herausgestellt.

 

 

1.1 Die Druckvorlagen

 

Die handschriftlichen Druckvorlagen - oft die erste durchgehende Niederschrift eines Werkes - entstanden in der Regel unter enormer Zeitnot, die dann auch immer wieder (von Keller selbst) für mangelhafte Qualität verantwortlich gemacht wurde. Keiner der großen Prosatexte ist - trotz Kellers immer wieder geäußertem Erstaunen - je fertig geworden, bevor er in den Druck ging. Vielmehr: Fertiggestellte Manuskriptteile wurden während der Niederschrift gegen wieder abzuliefernde Korrekturbogen ausgetauscht; im günstigsten Fall kam ein zweites Korrekturexemplar dazu, das Keller behalten konnte und in das er zur eigenen Erinnerung seine Änderungen übertrug.

Ein vollständiges Manuskript hatte der Autor in den wenigsten Fällen je zur Hand, sondern erst der es nachträglich zusammenstellende Verleger und im Glücksfall der spätere Herausgeber. Das Manuskript insgesamt war - ab Ende der ersten Lieferung - eine Mischform aus Satz und Handschrift: Das Schreiben nach vorn orientierte sich rückwärts am bereits gesetzten Maß von Titel, Bogen, Zeile und am Diktat des gedruckten Buchstabens.

Da der Satz neue Fehler mit sich brachte und zudem das Korrekturlesen für Keller immer unter hindernden Umständen stattfand (Zeitdruck, Krankheit, Unfall, Winterkälte, Bauarbeiten vor dem Fenster etc.), konnte es nie zu einer endgültigen Bereinigung der Texte kommen, so daß der je aktuellen Version immer der Charakter des Vorläufigen eignete.

Zur völligen Verquickung von literarischer Produktion und Publikationskreislauf kam es bei den Vorabdrucken in der Deutschen Rundschau (Züricher Novellen, Sinngedicht, Martin Salander). Hier wurde jeweils ein Heft publiziert, noch ehe das Manuskript für das übernächste erstellt war, und neben den (meist der Autormotivation dienenden) Lektüremitteilungen des Verlegers trafen bereits die Leserreaktionen ein, auf unmeßbare Weise die Fortsetzung beeinflussend.

Komplexe Strukturen entstanden zumeist auch bei der Überarbeitung von ersten Drucken. Die Manuskripte umfassten drei, je eigenen Regeln unterworfene Schichten: zugrundeliegender Druck, punktuell korrigierende Eingriffe und neue, oft erheblich ausweitende Niederschrift von Manuskriptteilen (letztere z. B. im Sinngedicht und in Martin Salander). Wenn dann noch, wie beim Grünen Heinrich, Jahrzehnte zwischen erster Fassung und Neubearbeitung lagen, war das Autor-Manuskript von vorneherein in sich so heterogen, wie es kein ihm voranliegender Druck überhaupt sein konnte.

Angesichts solcher Entstehungsbedingungen können die Druckvorlagen weder als reiner Ursprung des Textes noch als Verkörperung des Autorwillens gelten. Der Herausgeber findet bei ihnen keine zuverlässige Absicherung gegenüber den Tücken der späteren Drucke. Im Gegenteil: keine Stufe im ganzen Entstehungs- und Überlieferungsprozeß eines Werks ist letztlich so starken 'Fremdeinwirkungen' unterworfen wie diejenige der scheinbar größten 'Autornähe'.

Dazu kommt die der Autorhandschrift immanente 'Verderbnis', die durch den Druck allererst erkennbar wird:

Wie steht es nun mit der Correktur oder Revision? Ich sehe die kleinen Unebenheiten des Geschriebenen erst, wenn es gedruckt vor mir liegt und pflege erst dann noch das Heer der überflüssigen und schädlichen Adjektive auszurotten. Kann ich nun, wenn die Sache einmal losgeht, Revisionsbogen der deutsch<en> Rundsch<au> hieher bekommen, wenn ich sie umgehend zurücksende? (an Rodenberg, 28.5.1876; GB 3.2, 338)

Entgegen einem in der Keller-Philologie verbreiteten Bild vom Autor, der erbittert gegen die Überfremdungen durch den Setzer ankämpft, sind es hier in erster Linie die durch den Autor selbst verschuldeten Mängel, die es in den Revisionsbogen zu korrigieren gilt. Und in der Tat war es auch meistens so, daß an der Nahtstelle zwischen Druckvorlage und Druck breitgestreute Textänderungen durch den Autor stattfanden, während umgekehrt neu entstandene Satzfehler von ihm übersehen wurden. Da die entsprechenden Korrekturexemplare nur in einzelnen Fällen erhalten sind, bleibt für den späteren Herausgeber in der Regel ausgerechnet jener Ort undurchsichtig, wo dem Autor das eigene Schreiben sichtbar wurde.

 

1.2 Publikationsgeschichte und Textintegration

 

An Gottfried Kellers Werk zeigt sich beispielhaft, daß Entstehen und Weiterleben literarischer Werke nicht in Kategorien einer einfachen linearen Textentwicklung faßbar sind. Metaphorisch gesprochen handelt es sich viel eher um Kristallisationspunkte im Netz zusammenwirkender, aber nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten funktionierender Produktionsfaktoren. Eine zentrale Rolle fällt dabei den Herausgebern, Verlegern, Setzern und Druckern zu. Keller hat sich ­ nach den anfänglichen Mühen, insbesondere mit dem Verleger Vieweg ­ aus eigenen Interessen so weit wie möglich mit ihnen arrangiert.

Ob ein Werk in Zusammenarbeit mit Vieweg, Weibert, Rodenberg oder Hertz begonnen wurde, ob es bei Carl Grüninger in Stuttgart, bei Julius Sittenfeld oder Pierer in Berlin zum Druck gelangte, ob der Verleger (nicht nur Autor und Setzer) selbst bei den Korrekturarbeiten mitwirkte, war von ausschlaggebender Bedeutung.

Der Abfolge der Verlage entsprach die Abfolge der Schwerpunkte in der Entwicklung des dichterischen Werks und seines Autors. Die Veröffentlichungen bei Friedrich Vieweg verhalfen Keller zu allgemeiner Anerkennung, mit der Göschen'schen Verlagsbuchhandlung (Ferdinand Weibert) avancierte er zum auflagenstarken Schriftsteller, und Wilhelm Hertz schließlich machte ihn zum Autor der Gesammelten Werke. In der Vieweg-Periode wurden die grundlegenden Prosatypen geprägt (Roman, Novellenzyklus), die Zusammenarbeit mit Weibert brachte ihre wesentliche Ausformung und Umgestaltung (Legenden, Die Leute von Seldwyla II, Züricher Novellen; Der grüne Heinrich II), und mit Hertz wurden sie zur letzten Konsequenz geführt (Sinngedicht, Martin Salander) und durch die Gedichtsammlung komplettiert.

1885 erwarb Wilhelm Hertz die auschließlichen Verlagsrechte an Kellers Werken. Damit war die von Keller schon seit der Vieweg-Periode angestrebte Vereinigung aller Werke im gleichen Verlag realisiert: Autorenwunsch und Verlagskalkül hatten sich zusammengefunden. Überdies ergab sich nun für Keller die Chance, ein Anliegen, das er bisher vorwiegend aus Gründen der rechtlichen Absicherung thematisiert hatte, zu realisieren: das Konzept der Gesammelten Werke. Seit den Verlagsverträgen mit Ferdinand Weibert hatte Keller regelmäßig auf einer vorsorglichen Klausel insistiert:

Die Aufnahme vorbenannten Werkes in eine später zu veranstaltende Gesammtausgabe seiner Werke ist dem Herrn Verfasser ohne jeglichen Vorbehalt freigestellt.

Eine entsprechende Zusicherung bezüglich des Sinngedichts erzwang Keller nach längerem Hin und Her auch gegenüber den anderslaufenden Interessen von Wilhelm Hertz. Gegen dessen Vermittlungsvorschlag, "eine minimale Frist von 10 Jahren zwischen Erstausgabe und Aufnahme in eine Gesamtausgabe vorzusehen" (an Hertz, 23.3.1881, unpubliziert), wehrte sich der Autor:

Ich bin nämlich jetzt bald 62 Jahre alt und kann daher nicht mehr mit Decennien um mich werfen, indem ich ebenso wol in wenigen Jahren und vorher, als erst nach 10 Jahren und später sterben kann. Dazu bin ich ein alter Junggeselle, der keine Leibeserben hinterläßt. Wenn es also dazu kommt, daß ich fragl. Gesammtausgabe wirklich unternehmen kann, so ist es für mich zu wünschen, daß sie nicht durch auschließende Bedingungen erschwert werde. (an Hertz, 6.4.1881; GB 3.2, 430)

Es erfolgte schließlich eine Einigung auf 5 Jahre. Anläßlich der Gesammelten Gedichte (1883) wiederholte Keller die alte Forderung des Verzichts auf eine Fristklausel, nun schon mit eindeutigerer Zielrichtung:

Letztere Bedingung stelle ich in Hinsicht auf die spezielle Natur des Buches als Gedichtsammlung. Diese ist mir für eine Gesammtausgabe unerläßlich ... (an Hertz, 16.2.1883; GB 3.2, 438)

Hertz ließ (in der Folge auch bei Martin Salander) den umstrittenen Zusatz fallen; wohl vor allem deshalb, weil er sich zu diesem Zeitpunkt schon als künftigen Verleger der Gesamtausgabe betrachten konnte.

Am Ursprung von Kellers Integrationsbestreben stand sein Denken in textübergreifenden Einheiten, v.a. Novellen- und Gedichtzyklen. Dies wurde in den 70er Jahren noch gefördert durch Kellers Mißbehagen an den Erfolgen isolierter Einzeltexte (Romeo und Julia auf dem Dorfe, Das Fähnlein der sieben Aufrechten), welche doch gerade das Interesse an den Zyklen hätten wecken sollen.

Umfang und Anordnung insbesondere von Prosazyklen hängen in besonderem Maß mit den Publikationsmöglichkeiten zusammen, ja können dadurch wesentlich bestimmt werden. So etwa war Keller nicht nur bereit, bei der Zweitauflage der Leute von Seldwyla zugunsten einer gleichmäßigen Aufteilung in 2 Bändchen die ursprüngliche Abfolge der Novellen umzustellen; er hätte sogar aus verlags- und verkaufstechnischen Gründen auf die inhaltlich grundsätzliche Unterscheidung der beiden Seldwyla-TeileI verzichtet (11.3.1873 an Weibert). Kellers Verhältnis zur Publikation seiner eigenen Werke war weniger dogmatischer als 'freisinniger' Natur. Ein Text, einmal publiziert, im wesentlichen für richtig befunden und wenn möglich an die jeweils aktuellen Sprachnormen angeglichen, wurde von ihm nicht mehr mit der gleichen Eifersüchtigkeit überwacht, wie dies bei Autoren vom Typus C. F. Meyers der Fall sein mochte: dem Text wurde - bei allem möglicherweise mitschwingenden Bedauern - die Selbständigkeit zugestanden, welche jede Publikation unweigerlich mit sich bringt. Diese 'großzügige' Haltung war nicht eine Folge von Altersmüdigkeit, sondern eine Grundtendenz von Kellers gesamtem Schaffen.

Inbegriff davon sind die Gesammelten Gedichte. Hier wurde nicht einfach das Mustergültige mustergültig aufgelegt, sondern das Aktuelle mit dem historisch Gewordenen zusammengebracht, auch Zweifelhaftes nicht immer ausgeschlossen, weil es von der Substanz des Ganzen verkraftet werden konnte: Durchdringung des ästhetischen Produktionsbereichs mit den Wirkmomenten des Politischen. Die gleiche Auffassung von Einzelnem und Ganzem prägte auch Kellers Demokratieverständnis.

Den Kreuzungspunkt von Autortätigkeit, verlegerischer Praxis und gesellschaftlicher Normierung bildete die Orthographiefrage. Nach der Proklamation einer einheitlichen Orthographie durch das preußische Ministerium 1880 wurde auch für Keller die Durchsetzung einer solchen von zunehmender Wichtigkeit, ja zu einer Art Barometer des kulturellen Fortschritts:

Beim Niederschreiben dieses Gedichtsels beachte ich zum ersten Mal die neue Rechtschreibung, wie sie im Anschlusse an das in Deutschland Vorbereitete in der Schweiz bereits in Schule und Amtsstuben officiell eingeführt wird. Ich merke aber nicht, daß Ihr draußen Miene macht, mit dem h u.s.w. aufzuräumen, und weiß nicht, woran es liegt, daß die Autoren und großen Zeitschriften nichts thun ... (an Heyse, 1.6.1882; GB 3.1, 74)

Paradoxerweise führten aber gerade Kellers Bemühungen um orthographische Vereinheitlichung in ein kaum mehr überblickbares Neben- und Durcheinander von verschiedensten Sprachständen: Repräsentierte die 3. Auflage des Grünen Heinrich 1884 den fortgeschrittensten und die preußische Regelung weit überschreitenden orthographischen Status ('Tat', 'Teil', 'Geheimnis', 'alles'), gefolgt von der regelgerechten 3. Auflage der Legenden 1884 ('That', aber 'Teil', 'Geheimnis') und von den Gesammelten Gedichten 1883 ('Geheimniß', aber 'Tat', 'Teil'), so blieb dagegen der erst 1886 erschienene Martin Salander zusammen mit allen Auflagen des Sinngedichts auf einer Vor-Reform-Stufe ('That', 'Theil', 'Geheimniß', 'Alles'), während die Stereotypdrucke der Seldwyla-Novellen gar archaische Schreibweisen wie 'Brod', 'todt', 'handtiren', 'ächt' bis zum Ende weiterführten.

Daß die vom Autor angegangenen und mit unterschiedlicher Konsequenz durchgezogenen (oder auch ganz unterlassenen) Textüberarbeitungen sich so verwirrend gestalteten, hing mit der Gesamtkonstellation der jeweiligen Publikationsfaktoren zusammen. Die alte Orthographie in den Buchausgaben des Martin Salander entstand dadurch, daß die Deutsche Rundschau an ihren bisherigen Konventionen festhielt, daß Keller trotz seinem Ärger darüber (24.8.1886 an Rodenberg) sich selbst nicht imstande sah, den "Buchstabenkrieg" für den Buchdruck durchzukämpfen, und daß der Hertz-Verlag (im Gegensatz zu Göschen) nicht über die Möglichkeit verfügen wollte, eine solche "Manipulation" in eigener Regie vorzunehmen (17.9.1886 an Hertz). Daß dagegen die fünfte Auflage des Sinngedichts bei analogen Bedingungen eine stark normalisierende Interpunktion aufweist, hängt mit der Herstellung des Satzes durch die Pierer'sche Hofbuchdruckerei (statt, wie üblich, durch Julius Sittenfeld) zusammen.

Solcher Wildwuchs konnte letztlich nur durch eine gesamthaft erzwungene Vereinheitlichung - wie später in den Gesammelten Werken - aufgehalten, wenn auch nicht ganz beseitigt, werden.

Allen Integrationsbestrebungen dürfte letztlich ein von Kellers Lebenshaltung geprägtes Motiv zugrunde gelegen haben: die Vorstellung vom Abschluß und Abrunden des Schaffens durch das Einbringen eines "gereiften" Lebenswerks, zusammentreffend mit der Verpflichtung zum Abtragen einer realen und imaginierten Schuld. Die Wiederaufnahme der dichterischen Produktion in den 70er Jahren bestand zur Hauptsache in der Komplettierung, Umarbeitung und Realisation des in der Berliner Zeit (1850-55) Begonnenen und der Öffentlichkeit immer noch Geschuldeten. Die Bewährung im Abschluß "zur geeigneten Zeit" wurde zur Zielsetzung der weiteren literarischen Tätigkeit überhaupt. Zunächst für die Prosa:

Die Sammlung oder Gesammtausgabe meiner Erzählungen möchte ich überhaupt einstweilen noch im Hintergrund lassen mit dem Gedanken, diese Art Thätigkeit mit einer solchen zu geeigneter Zeit abzuschließen. Wenn es mir gelingt, aus dem 'Grünen Heinrich' durch die Umarbeitung ein mehr oder weniger präsentables und liebenswürdiges Buch zu machen, und ihn so neu in Curs zu setzen, so wünschte ich alsdann auch diesen in jene gesammelten Erzählungen aufzunehmen, wenn er sich erst durch eine neue Einzelausgabe bewährt hat. (an Weibert, 3.1.1876; GB 3.2, 265)

Die Neufassung des Grünen Heinrich (1879/80) kam hier einem Bewährungstest gleich, welcher über die Aufnahme in die höher bewertete "Gesammtausgabe" entscheiden sollte.

Was 1876 noch als "Gesammtausgabe" der Erzählungen fungierte, wurde um 1883 in Kombination mit den Gesammelten Gedichten, gleichsam einer Vorübung im lyrischen Bereich, zum Konzept der Gesammelten Werke. Es galt dann nur noch jenes letzte "Erzählungswerk" (Martin Salander) abzuwarten, das - als Roman - den Kontrapunkt zum Roman der schriftstellerischen Anfangszeit setzte:

Die Gesammtausgabe meiner Schriften ist übrigens noch nicht am Horizont; ich brauche vorzüglich mein nächstes Erzählungswerk noch dazu, um sie für einmal abzuschließen, wenn es dazu kommt. (an Hertz, 16.2.1883; GB 3.2, 438)

 

1.3 Die "Gesammelten Werke" 1889 (GW)

 

Gottfried Keller's Gesammelte Werke (GW) erschienen 1889 als letzte von Keller selbst autorisierte Ausgabe in 3 Auflagen (4500 Exemplare) im Verlag von Wilhelm Hertz, Berlin. GW umfaßt 10 Buchbände in einheitlicher Ausstattung und vereinheitlichter Orthographie:

Band

Titel

Auflagen

     

1-3

Der grüne Heinrich

vorher 3 Auflagen

4-5

Die Leute von Seldwyla

vorher 2 Aufl. + 3 Stereotypaufl.

6

Züricher Novellen

vorher 5 Aufl.

7

Das Sinngedicht

vorher 5 Aufl., Vorlage: 2. Aufl.

 

Sieben Legenden

vorher 4 Aufl.

8

Martin Salander

vorher 5 identische Aufl.

9-10

Gesammelte Gedichte

vorher 3 Aufl.

Die für unsere Fragestellung wesentlichen Punkte werden im folgenden überblickshaft zusammengefaßt:

  • Durch GW wurde das dichterische Werk - zum ersten und zum letzten Mal - synchronisiert: orthographisch, im Buchformat, in der inneren Einrichtung und im Gesamtaufbau.
  • Die Gliederung der Gesammelten Werke hat einen unbestreitbaren kompositorischen Aspekt. Das Gesamtwerk gewinnt prägenden Charakter gegenüber dem Einzeltext. Aus der Buchanordnung ergeben sich, im Zusammenspiel mit der explizit erstrebten 10-Bändigkeit, keineswegs zufällige Symmetrien: Die zwei Romane, für Keller Beginn und Abschluß der ernsthaften schriftstellerischen Produktion, umrahmen, mit insgesamt 4 Bänden, die 4 Erzählbände. Die zwei verschiedene Epochen anvisierenden Teile der Leute von Seldwyla bleiben getrennt, während die Züricher Novellen in einem Band zusammengefaßt werden und ihren angemessenen Ort zwischen Seldwyla Novellen und Sinngedicht erhalten. In Band 7 sind mit dem Sinngedicht und den Sieben Legenden zwei ursprünglich eng zusammengehörende, jedoch in der Folgezeit verschieden ausgeformte Zyklen vereint - entgegen der ursprünglichen, vertraglich dokumentierten Absicht, die Legenden den Gedichten anzugliedern.
    Die Gedichtbände, für Keller von spezieller Bedeutung, sind durch das in Bd.9 vorangestellte Keller-Portrait und durch die wegen des Zeilenumbruchs erforderliche engere Schrift auch äußerlich von den übrigen Bänden abgehoben.
  • In GW ist enthalten, was Keller als sein literarisches Vermächtnis der Nachwelt überliefern, und ausgeschlossen, was er davon ausnehmen wollte. Damit kam der Autor gleichsam einer öffentlichen Verfluchung der "Nachlaßmarder" zuvor, wie sie etwa in einem Brief an Paul Nerrlich angesprochen wurde:

Da möchte ich in jener Hinsicht mich verwahren, daß die unterdrückten Sachen der früheren Ausgaben gelegentlich wieder aufzunehmen seien; und wenn ich nichts anderes dagegen tun kann, so werde ich zum mindesten für die Zeit meines Ablebens eine Verfluchung unbefugter Hände von abfälligen Nachlaßmardern abfassen und feierlich niederlegen. (an Nerrlich, 27.3.1884; zit. nach GB 4, 228)

  • GW ist die Autorisation des dichterischen Werkes unter dem Autornamen: Gottfried Keller's Gesammelte Werke. Die Texte und Zyklen treten ihre Selbstrepräsentation an den Band ab: Erster Band. / Der grüne Heinrich <...>. Mit dem Autornamen (als Inbegriff der Werkproduktion) wird der Verlagsname (als Inbegriff der Werkdistribution) gekoppelt: Gottfried Keller's Gesammelte Werke. <...> Berlin. Verlag von Wilhelm Hertz (legalisiert im entsprechend lautenden Vertrag).
  • Der Verlagsvertrag zwischen Wilhelm Hertz und Gottfried Keller vom 10.2.1889 hielt weitere Abmachungen fest:
    • Der Verleger durfte nur das vom Autor Bezeichnete aufnehmen.
    • Der Satz von GW wurde stereotypiert und damit auf Jahre hinaus festgeschrieben.
    • Die Gesammelten Werke wurden zur Förderung der allgemeinen Verbreitung als wohlfeiles Gesamtpaket mit dem Richtpreis von 30 Mark (gegenüber insgesamt 58 Mark für die Einzelausgaben) angeboten. Dadurch wurde die bisher unübersichtliche Preispolitik erstmals einheitlich geregelt. Ebenso die nicht zu vernachlässigende Autorhonorierung: diese basierte nun nicht mehr auf verlagshistorisch geprägten Einzelwerk-Abrechnungen, sondern war - entsprechend dem GW-Konzept - rein bandorientiert ( 4; bei einer Auflagenhöhe von 1000 waren dies 700 Mark pro Band).
    • Vorgesehen war die Ersetzung der bisherigen Einzelausgaben durch entsprechende Bände von GW. Sie wurde faktisch nach Auslaufen der Restbestände auch vollzogen, womit dann Kellers Werke - mit Ausnahme der Legenden und von Romeo und Julia auf dem Dorfe - nur noch als Teil von GW existierten.
  • Die Publikation von GW führte zu einem sprunghaften Anstieg der Verbreitung von Kellers Werken. Mit bis zu 105 Auflagen innerhalb von 30 Jahren wurden die Gesammelten Werke zum Monument im Geiste des 19. Jahrhunderts und zum bedeutenden geschichtlichen Faktum.

     

     

 

2 Editorische Konsequenzen

 

 

2.1 Zwei Editionstypen

 

Eine kritische Edition von Kellers Werken kann den beschriebenen Gegebenheiten in verschiedener Weise begegnen. Bisher haben sich vor allem zwei Haupttypen durchgesetzt:

Die Werkedition von Fränkel / Helbling (SW)

Gottfried Keller. Sämtliche Werke. Auf Grund des Nachlasses besorgte und mit einem wissenschaftlichen Anhang versehene Ausgabe, hrsg. von Jonas Fränkel (seit 1942 von Carl Helbling). Bd. 1-22. Bern/Zürich 1926-1949.

Diese meist fälschlich als historisch-kritische Ausgabe bezeichnete Standard-Edition vertritt insbesondere folgende, durch Jonas Fränkel eingeführte Grundsätze:

  • Den Gesammelten Werken (GW) kommt in Kellers Oeuvre die zentrale Stellung zu.
    Dementsprechend wird die Architektur von GW - mit Ausnahme einiger aus umwertender Editorenwillkür entsprungener Umstellungen - übernommen (Band 1-12), nicht jedoch GW als Textgrundlage verwendet. Die frühen Publikationen und der Nachlaß werden separat und in schwer handhabbarer Systematik angefügt (Band 13-22).
  • Kellers Texte sollen in letztgültiger Form ediert werden.
    Da sämtliche Ausgaben in der Überlieferungsgeschichte mit einer Fülle von Textmängeln behaftet sind, werden die jeweils zugrundegelegten Drucke mittels Rückgriff auf Vorstufen, Druckvorlagen, Revisionsbogen und durch sonstige interpolierende Verfahren 'korrigiert'. Produkt solcher Kontaminationen ist das Werk in einer synthetischen Ursprünglichkeit, wie sie - ergänzt durch eine fragwürdige Teilmodernisierung - nirgendwo auch nur annäherungsweise existiert hat. Ihr Zustandekommen bleibt dem Leser verschlossen, was allerdings der bis heute nachwirkenden Suggestivität kaum Abbruch getan hat.
  • Varianten dienen dem Herausgeber zur Erstellung des 'edierten Textes', haben aber keinen historisch-kritischen Stellenwert mehr. Meist unvollständig und zu 'Stiltendenzen' gruppiert, werden sie im "Anhang" untergebracht und dienen bestenfalls der Illustration von Gedankenvorgängen, die dem Autor zugeschrieben werden.

Es gehört zur Überlieferungsart von Kellers Texten, daß sich sehr häufig infolge fehlender Textzeugen nicht entscheiden läßt, wieweit Druckvarianten vom Autor selbst stammen, wieweit von diesem nur nachträglich gebilligt, toleriert oder einfach übersehen wurden. Fränkel entscheidet auch hier eigenmächtig aufgrund seines Bildes vom eigentlichen Stilwillen des Autors; Resultat ist eine dem Text auferlegte Einheitlichkeit, wie sie in keinem Manuskript zu finden ist und Kellers eigener Tendenz zur Varianz zuwiderläuft.

Die nichtkontaminierende Einzeltext-Edition (DKV)

Dieser Editionstypus orientiert sich an den Einzeltexten bzw. Zyklen und löst sie aus dem Konzept der Gesammelten Werke heraus. Da er, neueren editionstheoretischen Forderungen folgend, auf Kontamination grundsätzlich verzichtet, wird jeweils eine einzelne überlieferte Textkonkretisation zum 'Text' des Werks bestimmt und mit einem Minimum an zusätzlichen Herausgebereingriffen publiziert.

Wichtigste neuere Ausgabe dieses Typs ist diejenige des Deutschen Klassiker Verlags (DKV).

Gottfried Keller. Sämtliche Werke in sieben (fünf) Bänden. Hrsg. v. Thomas Böning, Gerhard Kaiser, Kai Kauffmann, Dominik Müller, Peter Villwock. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985-1996.

Für die von Keller publizierten Werke kommen folgende Verfahrensweisen zur Anwendung:

  • Als Textvorlage dient die jeweils letzte nachweislich vom Autor durchkorrigierte Ausgabe.
  • Dem Charakter einer Studienausgabe entsprechend werden Textvarianten - zugunsten der Konzentration auf Wort- und Sacherläuterungen und Dokumentauszüge - kaum berücksichtigt.
  • Die Orthographie wird modernisiert; dies allerdings in unterschiedlich konsequenter Befolgung der allgemeinen und für eine kritische Ausgabe unhaltbaren Verlagsvorgaben.

Das rein prinzipienbestimmte Vorgehen bei der Wahl der Textvorlage vermeidet die Verstrickung in Diskussionen um Authentizität, ästhetische Qualität, Originalität usw., leistet allerdings - gewollt oder ungewollt - der Annahme Vorschub, daß die letzte vom Autor durchgesehene Textversion auch die zuverlässigste sei. Eine unhaltbare Annahme, weil in diesen Ausgaben 'letzter Hand' nicht nur die meisten Unentscheidbarkeiten der vorangehenden Ausgaben sich aufsummieren, sondern - neben den verbürgten Autorkorrekturen - wiederum neue und oft nicht eindeutig zuweisbare Varianzen entstehen; unhaltbar ebenfalls, weil es durchaus vorkommen kann, daß Verlag und Druckerei ihrerseits in späteren, nicht mehr vom Autor kontrollierten Auflagen, zu einem weiteren Fehlerabbau beitragen (so in der 3. Auflage der Seldwyla-Novellen).

Setzen Fränkel/Helbling 'autornähere' Varianten undokumentiert in ihrem Text ein, so werden diese umgekehrt bei DKV auch dort nicht erwähnt, wo ihnen eine kritische Funktion zukäme. Beide Editionstypen sind sich darin gleich, daß sie einen auf problematische Weise übernommenen (DKV) oder zurecht-emendierten (SW) Text ohne Alternative darbieten und somit verabsolutieren. Wünschbar wäre dagegen eine Darstellungweise, wo die problematischen Stellen als solche erkennbar blieben, ohne deswegen die Berechtigung des edierten Textes zu bestreiten. Da eine Studienausgabe wie die DKV die dafür erforderlichen Abklärungen in der Regel nicht von sich aus leisten kann, bleibt es Aufgabe der historisch-kritischen Ausgabe, die Voraussetzungen für eine solche Darstellungsweise zu schaffen.

 

 

2.2 Die Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA)

 

Mit den Gesammelten Werken (GW) wurden früher entstandene bzw. schon immer in den Zyklen und Einzeltexten mitwirkende Problemkomplexe (Autorversehen, Setzereinwirkung, Zyklenaufteilung, Bandanordnung) weder 'bereinigt' noch kaschiert: sie wurden - vom Autor bewußt und akzeptiert - stillgestellt. Dadurch traten sie zum Teil in verstärktem Maße hervor. Die historisch-kritische Ausgabe (HKKA) versucht weniger, diesen Effekt rückgängig zu machen, als ihn für ihr eigenes Konzept zu nutzen.

  • Die Architektur von GW wird ohne Umstellungen in die Hauptabteilung (A) übernommen, womit diese das eigentliche Vermächtnis Kellers repräsentiert. Insgesamt werden 3 Abteilungen mit einander zugeordneten Text- und Apparatbänden unterschieden:
    • Abteilung A: Gesammelte Werke 1889
    • Abteilung B: Sonstige Publikationen (inkl. frühe Druckfassungen von GW-Texten, z.B. Der grüne Heinrich 1854/55, Gedichte 1846)
    • Abteilung C: Nachlaßtexte (inkl. Notiz- und Skizzenbücher)
  • Im Gegensatz zu allen neueren Keller-Ausgaben, aber in Übereinstimmung mit der dargestellten Überlieferungssituation, wird GW auch als Textvorlage für Abteilung A verwendet. Das Vorhandensein 'autorfremder' Anteile spricht nicht dagegen. Solche sind - wie oben erläutert - nicht nur in allen historischen Textkonkretisationen vorhanden, sondern geradezu wesentliche Mitbedingung von deren Entstehen und Fortwirken. Die größten editorischen Probleme betreffen gar nicht die (leicht und eindeutig auszumachenden) Abweichungen im Übergang vom letzten eigenhändig korrigierten Druck zu den späteren Auflagen bzw. GW, sondern - gerade umgekehrt - die zahllosen Unbestimmtheitsstellen zwischen Autormanuskript und letztkorrigiertem Druck (worauf sich auch fast die gesamte Editionstätigkeit und Kritik Fränkels konzentriert).
  • Übernommen wird mit dem GW-Konzept auch die GW-spezifische Orthographie: als wesentliches, die historischen Rahmenbedingungen reflektierendes Moment. Völlig ausgeschlossen sind alle Arten von Vereinheitlichung oder Modernisierung durch die Herausgeber (in der Keller-Philologie erstaunlicherweise noch immer ein Novum). Direkt eingegriffen wird lediglich bei offensichtlichen Fehlern, die keinen im Produktionskontext möglichen Sinn mehr zulassen.
  • Mit der Übernahme von GW in Abteilung A wird ein vom Autor Gewolltes und historisch Realisiertes anerkannt, nicht aber unkritisch verabsolutiert. Vielmehr soll gerade einem überhöhten Geltungsanspruch des 'edierten Textes' entgegengewirkt werden. Hauptsächliches Mittel dazu ist ein direkt unten an den Textseiten aufgeführter kritischer Apparat. Er verzeichnet jene Stellen früherer Textzeugen, von denen der 'edierte Text' ohne nachweisbare oder erschließbare Billigung des Autors oder in sonstiger problematischer Weise abweicht. Die notierten Varianten vertreten gleichsam unterbliebene herausgeberische Eingriffe. Sie verweisen auf Fragwürdigkeiten des edierten historischen Textes, ohne sich an deren Stelle zu setzen, da diesen wie jenen das Moment des Zufälligen in einem bloß fragmentarisch erhaltenen Überlieferungszusammenhang anhaftet. Alle diese Varianten werden auch in den Apparatbänden aufgeführt und erläutert. Als relativierende Momente sind sie aber unverzichtbarer Bestandteil der Textdarstellung selbst. Sie zwingen zu einer Lektüre, welche den 'edierten Text' problematisiert und etwas von dessen innerer Dynamik wahrnimmt. Idealerweise sollten auch Schul- und Studienausgaben nicht darauf verzichten.
  • Die den Textbänden beigegebenen Apparatbände verzeichnen (und erläutern gegebenenfalls) die Varianten aller erreichbaren handschriftlichen Stufen und aller von Keller autorisierten, bis zu seinem Tod erschienenen Drucke in systematischer Form. Sie geben der historischen Perspektive Raum, welche in der Textwiedergabe notwendigerweise verkürzt wurde.

Dazu kommt eine buchbegleitende Computeredition, welche das gesamte Keller-Korpus (Texte, Varianten, Stellenkommentare, Querverweise, Brief- und Vertragsdokumente, bibliographische und biographische Daten) elektronisch zugänglich macht (CD-ROM). Mit der Computeredition wird die Möglichkeit gegeben, parallel zum 'edierten Text' die Varianten aller oder ausgewählter Stufen nach unterschiedlichen Kriterien anzuzeigen oder auch aus dem Zusammenspiel von Referenztext und Variantenverzeichnung beliebige Textfassungen zu generieren. Das nimmt letztlich dem Problem der Textkonstituierung das zentrale Gewicht: Wo prinzipiell alle Textstufen vollständig zur Verfügung stehen, ist eine editorische Vorentscheidung für die eine nicht mehr notwendigerweise überlebenswichtig. Wo die Varianten eines gewünschten Typs zur gerade gelesenen Textstelle automatisch eingeblendet werden, ist die Frage nach der Emendation dieser Stelle weniger dringlich als die Ermöglichung einer dynamisierten Rezeptionshaltung.